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Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 3
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31503-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke -  Joachim Meyerhoff
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Der dritte Teil der Bestsellerserie »Alle Toten fliegen hoch«: Von einem, der auszog, Schauspieler zu werden - und bei den Großeltern einzieht Die Kindheit auf dem Gelände einer riesigen Psychiatrie und das Austauschjahr in Amerika liegen hinter ihm, die Schulzeit hat er überstanden, als vor dem Antritt des Zivildienstes das Unerwartete geschieht: Joachim wird auf der Schauspielschule in München angenommen und zieht zu seinen Großeltern in die großbürgerliche Villa in Nymphenburg. Er wird zum Wanderer zwischen den Welten. Seine Großmutter war selbst Schauspielerin und ist eine schillernde Diva, sein Großvater ist emeritierter Philosophieprofessor, eine strenge und ehrwürdige Erscheinung. Ihre Tage sind durch abenteuerliche Rituale strukturiert, bei denen Alkohol eine wesentliche Rolle spielt. Tagsüber wird Joachim an der Schauspielschule systematisch in seine Einzelteile zerlegt, abends ertränkt er seine Verwirrung auf dem opulenten Sofa in Rotwein und anderen Getränken. Aus dem Kontrast zwischen großelterlichem Irrsinn und ausbildungsbedingtem Ich-Zerfall entstehen die den Erzähler völlig überfordernden Ereignisse - und gleichzeitig entgeht ihm nicht, dass auch die Großeltern gegen eine große Leere ankämpfen, während er auf der Bühne sein Innerstes nach außen kehren soll und dabei oft grandios versagt. Joachim Meyerhoff hat seine Kunst, Komik und Tragik miteinander zu verbinden, noch verfeinert. Sein Held nimmt sich und seine Umwelt immer genauer wahr und erkennt überall Risse, Sprünge, Lücken. Ein fulminantes Lesevergnügen!

Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.
Spiegel-Bestseller

Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.

Inhaltsverzeichnis

Will denn die Uhr nicht ruhen


Im Münchner Krankenhaus rechts der Isar gab es eine Kinderabteilung mit einem eigenen Schwimmbad, einem sogenannten Rehabilitationsbecken. Es war mir gelungen, die dortige, sehr begehrte Zivildienststelle zu ergattern, und ich war durchaus der Meinung, dass ich mich ausgezeichnet für diesen Posten eignete, denn jahrelang hatte ich Kindern Schwimmunterricht gegeben und mehrere Trainerscheine gemacht. Meine Aufgabe würde es sein, bei guter Bezahlung, als eine Art therapeutischer Bademeister mit den Kindern ihre Übungen durchzuführen. Ein Zimmer brauchte ich mir nicht zu suchen, da ich in einem Schwesternwohnheim untergebracht werden würde. Dieser Aspekt erregte mich. Schwesternwohnheim klang fantastisch. Und so stellte ich mir mein Münchner Leben, das auch ein Neubeginn nach einer alles andere als glorreich verlaufenen norddeutschen Schullaufbahn sein sollte, vor: aufwachen und räkeln im Schwesternwohnheim. In Badelatschen, kurzer Hose und engem T-Shirt, alles blütenweiß, zum Schwimmbad rüberschlendern. Hinter meinem Rücken Schwesterngetuschel. Gemütlich in meinem verglasten Bademeisterkabuff Zeitung lesen, Kaffee trinken und auf die versehrten Kinder warten. In einer knapp sitzenden Badehose in das Becken gleiten, um mit den wahrscheinlich anfänglich noch ängstlichen, dann aber sicherlich Vertrauen fassenden Jungen und Mädchen ihre Wassergymnastik zu machen und ihre erst kürzlich gebrochenen Arme oder Beine sachte im heilenden Nass hin und her zu schwenken. Am Nachmittag ein Schläfchen im Wohnheim, dann Kuchen essen und, dies würde sicherlich auch zu meinen Pflichten gehören, mit den Ärzten über die Fälle des Tages fachsimpeln. Vielleicht allerdings auch Handtücher waschen und die Duschen und Umkleidekabinen wischen. Alle meine Tätigkeiten stellte ich mir in einem verlangsamten, extrem lässigen Tempo vor. Des Nachts hoffte ich auf leise in der Dunkelheit geöffnete Türen, auf Barfußhuschen über den Gang, auf abgestreifte Kittel, schwesterliche Nächstenliebe und Wildheit, die sich am Tag hinter Sachlichkeit verstecken würde. Das entwickelte sich zu einer regelrecht wahnhaften Dauersehnsucht. Immer wieder stellte ich mir vor, wie ich in großer Runde, vielleicht in der Krankenhauskantine, einer bildhübschen Schwester am Tisch gegenübersitzen würde und nur wir zwei wüssten, was wir in der letzten Nacht alles voneinander gesehen hatten. Und dann so tun, als ob nichts gewesen wäre, belanglos plaudern, doch in ihren Augen, weit hinten, ein nur mir geltender, geheim gehaltener Glanz, der mir sagt: »Wann wird es endlich wieder Nacht? Ich hab zwar Dienst, kann es aber kaum erwarten!« So stellte ich mir mein süßes Zivildienstleben vor: als eine Mischung aus barmherzigem Samariter in Badelatschen und feurigem Casanova im Schwesternwohnheim.

 

Ich war durch den noch nicht lange zurückliegenden Unfalltod meines mittleren Bruders komplett aus der Bahn geworfen worden. Mein Leben war bis zu diesem Verlust ein stabiles und angenehmes gewesen. Eine verlässlich zugefrorene Fläche, auf der ich gutbürgerlich herangewachsen und wohlbehütet Schlittschuh gelaufen war. Doch jetzt knirschte und taute es gewaltig unter mir. Eine unberechenbare Traurigkeit hatte mich ergriffen und brachte Bewegung in die Tektonik meiner einst so soliden Tage. Ich glitt auf dünnem Eis dahin, doch immer öfter blieb ich unvermittelt stehen, da mich eine Verzagtheit ergriff, die mir den Atem nahm und jeden weiteren Schritt sinnlos zu machen schien. Aber genau dieses Stehenbleiben war gefährlich. Ich musste stets in Bewegung bleiben, um nicht einzubrechen. Auch quälten mich Zukunftssorgen, da ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was ich werden wollte.

Die Zivildienststelle in München schien da genau das Richtige zu sein. Zeitaufschub und Kur zugleich, denn eigentlich war ich der Rekonvaleszent, war ich derjenige, der sich im Krankenhaus rechts der Isar Heilung versprach und der sich nach sterilem weißem Frieden sehnte.

 

Der Unfalltod meines Bruders hatte mich während eines einjährigen USA-Aufenthalts ereilt. Wie eine Guillotine war er in meine heile Welt gefallen, hatte das Davor und das Danach in zwei Teile zerhackt, zwei Teile, die nicht mehr im Entferntesten zusammenpassen wollten. Mit der gleichen Wucht, mit der das Auto, in dem mein Bruder gesessen hatte, unter den Laster gekracht war, wurde ich, weit weg in Wyoming, aus einer vertrauten Welt in eine unbekannte, kaputte geschleudert. Übrig blieb: ein Ich vor dem Unfall und ein Puzzle-Ich danach. Und dann war da auch noch die Einschläferung unseres Hundes, eines Landseers. Ein großer verträumter Hund, der meine ganze Kindheit und Jugend begleitet hatte. Den ich festhielt, während er die Spritze bekam. In dessen kreatürlichem Tod mir sich wie nie zuvor Vergänglichkeit offenbart hatte. Auch das ließ mich nicht mehr los. Ich war umstellt und belagert von Todesgedanken. Dazu die Sorge um meine Mutter, meinen Vater und meinen übrig gebliebenen Bruder. Der Verlust meines mittleren Bruders hatte meine Eltern einander nähergebracht, doch ich war sicher, diese auf Verzweiflung gegründete Zuneigung würde nicht lange halten.

Die Zivildienststelle in München war ein Geschenk des Himmels: eine Fluchtmöglichkeit heraus aus der norddeutschen Heimatstadt. Flucht vor dem Mitleid in den Augen dieser Jeder-kennt-jeden-Welt. Flucht vor dem Friedhof mit dem Marmorkreuz des Bruders und den vier spießigen Tannen dahinter. Wie soll man es mit neunzehn ertragen, vor dem Grab des Bruders zu stehen, an einem Tag den weinenden Vater und an einem anderen die weinende Mutter zu trösten, und jedes Mal aufs Neue von einem Schock ereilt zu werden, wenn sich für einen Augenblick die Erkenntnis offenbart, dass dieser geliebte Mensch da tatsächlich unter der Erde liegt und nie mehr wieder herauskommen wird. Ich war erschüttert von der Gnadenlosigkeit des archaischen Aktes des Verscharrens, erschüttert von der unumstößlichen Grausamkeit, meinen Bruder in einer Kiste unter der Erde zu wissen. Alles religiöse oder philosophische Geplänkel wurde durch die konkrete Vorstellung des vertrauten Körpers, keine zwei Meter unter den erbärmlichen Stiefmütterchen, pulverisiert.

Oft wurde ich überwältigt von diesen Bildern: Der Bruder ist in der nassen Erde gefangen und braucht meine Hilfe. Ich konnte nicht anders. Ich musste mir vorstellen, wie eingepfercht er dalag. Für mich war er kein Begrabener, er war ein Verschütteter, und ich hätte ihn so gerne gerettet. Meinen Bruder in Frieden ruhen zu lassen überstieg meine Kräfte. Ich wollte ihn bei mir haben. Da war es fast eine Erleichterung, als ich irgendwann begriff, dass mein Schmerz nur dadurch zu bändigen, ein eigenes Leben nur dadurch wieder möglich sein würde, dass ich mich diesem Sog nicht weiter aussetzte. Ich musste weg aus dieser Stadt, deren Herzstück das Grab meines Bruders geworden war. Nie zuvor hatte ich meine Umgebung mit einer derart sezierenden Klarheit gesehen. Der Tod hatte nicht etwa seinen sanften Schleier über meine zerbrochene Welt geworfen, die Trauer betäubte mich nicht, nein, der Verlust peitschte meine Fantasie auf, schärfte meine Wahrnehmung. Wie mit einem bösartigen Skalpell schälte der Schmerz alles Unwesentliche vom Wesentlichen. War ich den Menschen früher immer wohlwollend und mit Offenheit begegnet, genügte mir jetzt schon ein Blick, um ihre hilflos kaschierte Verlorenheit zu durchschauen. Auch wenn sie sich selbst für glücklich hielten, mir kam diese kleinstädtische Zufriedenheit tödlich vor. Je heiterer und pragmatischer sie alle taten, desto desolater erschienen sie mir. Doch mich überforderte mein durch die Trauer schonungslos gewordener Blick und ich erkannte, dass ich dieser Hellsichtigkeit entfliehen, die Glasklarheit meiner Gedanken schleunigst verlassen musste, um so etwas wie Weltvertrauen und Wohlbehagen wiederzuerlangen. Ich wollte kein Leben, in dem mein Schmerz rücksichtslos jeden Winkel ausleuchtet, ich wollte jugendlichen Leichtsinn. Ganz vage verspürte ich eine in mir keimende Bösartigkeit, eine Verbitterung allem Lebendigen gegenüber. Doch ich sehnte mich nach Naivität. Sosehr in meinem Inneren Gedanken um Verlust und Sinnlosigkeit kreisten, so sehr gab ich mich nach außen weiterhin heiter und unerschütterlich. Ich war durch den Tod des geliebten Bruders, durch die drohende Trennung der Eltern zu einer Fata Morgana geworden, zu einer verheißungsvoll flimmernden Oase: Aber da war nichts. Mein Optimismus war eine optische Täuschung und jeder, der mir zu nahe käme, da war ich mir sicher, würde das augenblicklich durchschauen. Ich war komplett durch den Wind und wusste nicht wohin mit mir. Hauptsache weg. Zwei Möglichkeiten taten sich auf. Zum einen die Zivildienststelle und zum anderen die Schauspielschule. Beides in München. Tausend Kilometer entfernt vom Grab des Bruders. Das schien mir eine gute Distanz. Die Aufnahmeprüfung an der Schule hatte noch gar nicht stattgefunden, da kam schon die Zusage des Krankenhauses rechts der Isar. Ich war unendlich froh.

Die nächsten Monate blieb ich noch in Schleswig. Ich machte viel Sport, kaufte mir ein Hantel-Set, hatte mir ein sanftes Lächeln angewöhnt und ein Gedankenmantra ins Hirn gepflanzt: »München, ich komme!«

Ich wurde ein Meister darin, Zuversicht vorzutäuschen, und durch diese permanenten Täuschungsmanöver stellte sich tatsächlich so etwas wie Zuversicht in mir ein. Es war ein autosuggestiver Trick. Es war wie mit dem Fuß aufzustampfen, um sich daran zu erinnern, wie es ist, wütend zu werden. Mein Kummer, das nahm ich mir für München vor, würde mein norddeutsches Geheimnis bleiben und sollte im Schwesternwohnheim ganz...

Erscheint lt. Verlag 12.11.2015
Reihe/Serie Alle Toten fliegen hoch
Alle Toten fliegen hoch
Alle Toten fliegen hoch
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alkohol • Alle Toten fliegen hoch • Alle Toten fliegen hoch Amerika • Alle Toten fliegen hoch Teil 3 • Autobiografisch • Autor • dreiteiler • Familie • Familienleben • Großeltern • Joachim Meyerhoff • Karriere • Kontrast • Leere • München • Schaupieler • Schauspielkarriere • Schauspielschule • Schauspiel-Schule • Teil 3 • Theater • Trilogie • Triologie • Überforderung • Wann wird es endlich so, wie es nie war? • Wann wird es endlich wieder so wie es nie war?
ISBN-10 3-462-31503-X / 346231503X
ISBN-13 978-3-462-31503-5 / 9783462315035
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