Lärm und Wälder (eBook)
320 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403541-3 (ISBN)
Juan S. Guse, geboren 1989, ist Soziologe und Autor. Seine Romane »Lärm und Wälder« (2015) und »Miami Punk« (2019) erschienen bei S. FISCHER. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem KELAG-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2022. Er unterrichtet an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Literaturpreise: - Hallertauer Debütpreis 2015 - Literaturpreis der Stadt Hannover 2017 - KELAG-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2022
Juan S. Guse, geboren 1989, ist Soziologe und Autor. Seine Romane »Lärm und Wälder« (2015) und »Miami Punk« (2019) erschienen bei S. FISCHER. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem KELAG-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2022. Er unterrichtet an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Literaturpreise: - Hallertauer Debütpreis 2015 - Literaturpreis der Stadt Hannover 2017 - KELAG-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2022
Ein intensives Buch. Leiser Horror, der aus Vereinzelung, aus dem Auseinanderfallen der Wirklichkeit entsteht.
[...] legt einen souveränes Debüt vor: Eine Dystopie, erschreckend nah am Hier und Jetzt.
ein kompositorisch wie sprachlich höchst spannendes Werk. [...] Juan S. Guse hat die Stimmungslinien der Jetztzeit und deren Unheimlichkeit erfasst.
Guses Roman sticht thematisch heraus aus den literarischen Debüts der Saison. Deshalb ist es nur richtig, dass […] Guse, einer der Bewerber um den Klaus-Michael Kühne Preis ist.
In seinem Romandebüt gelingt Guse eine immer hypnotischer werdende Transformation nicht nur der deutschen Gegenwart in ein dystopisches Wackelbild.
gelingt es ihm, die geheimen Affinitäten von Gegenwart und Zukunft erkennbar werden zu lassen. Die Verwerfungen der Gesellschaft, die sozialen Spaltungen und ökonomischen Paradoxien.
Juan Guse ist ein kraftvoller, hochaktueller Roman gelungen. ›Lärm und Wälder‹ bringt nicht nur eine Welt zum Beben.
Seine Sprache ist artifiziell, genau, subtil, selbstironisch. […] Auf diesen Autor wird man achten müssen.
Heimfahrt
Es ist ein heißer Tag, der die Dinge durchsichtig und unfassbar klar erscheinen lässt, ein Tag wie eine Erinnerung, die mit einem Mal aus unendlicher Tiefe steigt, als Pelusa sich in großer Eile von den Mitgliedern der Joyce Meyer Ministries Gemeinde verabschiedet, in ihren Wagen springt und losfährt.
Der Asphalt der vierspurigen Hauptstraße, die zu den Eingangstoren der Nachbarschaften West führt, ist weltallschwarz und die Fahrbahnmarkierung leuchtend gelb. Die Luftspiegelungen über der Straße vermitteln den Eindruck großer Löcher, die in ein unbekanntes, diesiges Nichts führen. Die Hitze macht die Reifen weich und geschmeidig. Es herrscht eine unbeschreibliche Ruhe, obwohl gerade einige Gärtner ihre Rasenmäher über den Grasstreifen zwischen den beiden Fahrbahnen schieben, auf dem sich Bäume in regelmäßigen Abständen abwechseln – Palme, Akazie, Palme, Akazie. Vorbei an zahlreichen teureren Nachbarschaften fährt Pelusa bis an den äußersten Rand von Nordelta, wo ihre Nachbarschaft La Lansia liegt.
Pelusa kratzt sich hinterm Ohr. Eigentlich hat sie es eilig, doch das Tempolimit verbietet es ihr, schneller zu fahren, während auf dem Radweg neben der Straße eine Gruppe drahtiger alter Männer auf Rennrädern Kolonne fährt. Sie tragen kontrasterhöhende Sportsonnenbrillen und haben dunkelbraune, straff gespannte Haut. Der Hinterste greift nach der in einer Halterung am Rahmen befestigten Trinkflasche, richtet sich auf und spritzt sich freihändig fahrend blaue Flüssigkeit in den offenen Mund. Sie alle ziehen an Pelusas Fenster vorbei und verschwinden im Rückspiegel. Pelusa fährt genau achtzig. Auf der Straße sind nur wenige Autos. Sie überholt niemanden und niemand überholt sie. Alle Wagen treiben die Straße hinunter. Alle treiben gleichzeitig.
Sie fährt von der Hauptstraße ab und auf ihre Nachbarschaft zu, die hinter dem neoklassischen Eingangstor beginnt. Im Glashäuschen des Eingangstores sitzen die Wachmänner in ihren schwarzen Hosen, mit ihren Lackschuhen, ihren weißen Hemden, den goldenen Ansteckern in Form einer im Wind flatternden Flagge, den Sonnenbrillen und den Kappen, auf denen in Serifenschrift NORDELTA steht. Vor ihnen die Monitore.
Pelusa hält ihren Bewohnerausweis über die mattgraue Magnetfläche und grüßt das Personal. Ihre Angst davor, das grüne Licht nicht aufleuchten zu sehen, wird sie vermutlich nie ablegen können. Jedes Mal tagträumt sie davon, einen Alarm auszulösen, und sieht sich schon von bewaffneten Wachmännern umstellt, die sie an den Haaren aus dem Wagen zerren und ihr mit Knüppeln ins Gesicht schlagen. Doch nichts ertönt; lautlos hebt sich die Schranke. Mit dem Zucken ihres Handgelenks richtet sie eine abschließende Geste des Grußes an die jungen Wachmänner und drückt leicht auf das Gaspedal, so dass der Wagen sanft anrollt und man nur am hypnotischen Schwingen des kleinen Holzkreuzes, das vom Rückspiegel herabhängt, erkennen kann, dass sich der Wagen in Bewegung gesetzt hat. Denn gleich, gleich nach dem Passieren des Eingangstors liest man auf einem gelben Schild, dass es innerhalb der Nachbarschaften verboten ist, schneller als zehn Kilometer pro Stunde zu fahren, und das weiß hier jeder.
Die Nachbarschaft ist weitläufig und voller im Bau befindlicher Häuser, dazwischen satte Grünflächen, umkränzt von mehreren elektrifizierten Zäunen. Der Himmel ist ohne eine einzige Wolke. Nur die vier aufgereihten und in der Distanz liegenden Schlote des städtischen Heizkraftwerkes touchieren ihn wie ein vorsichtig ins Wasser gehaltener Zeh. Wenige Meter nach dem Eingangstor windet sich die Straße um ein rundes Stück Wiese, auf dem drei identische Palmen stehen. Der Kreisel markiert den Nabel von La Lansia, von ihm aus spreizt sich die Straße in drei Richtungen auf und zieht sich entlang der künstlich angelegten Seen ins Innere der Nachbarschaft. Es gibt keine Geraden, keine Kreuzungen oder Straßennamen. Stattdessen geht die Straße überall fließend in sich selbst über wie ein verworrenes Knäuel, eine sich selbst verschlingende Schlange. Die breiten Bordsteinkanten aus hellem Sandstein grenzen den Asphalt unmissverständlich von den Grünflächen ab, auf denen die Sprinkleranlagen, die während dieses unsäglich heißen Sommers fast permanent ausgefahren sind, im Takt ihre schwarzen Köpfe winden. Und an den Straßenrändern stehen die Bäume, die billardgrünen Laternen und die geschwungenen Bänke. Einen Gehweg gibt es nicht.
Pelusa drückt sich in das Schaumstoffpolster ihres Sitzes. Das Lenkrad ist überzogen mit einem dünnen Schweißfilm und ihr linker Fuß tippt nervös gegen das Gaspedal. Sie weiß, dass sie sich beeilen muss. Ihre Haushälterin hat derart hysterisch am Telefon geweint, dass Pelusa sie zunächst kaum verstanden hat. Pelusa ist dann inmitten der Gemeindesitzung aufgestanden und hat sich bei allen Anwesenden entschuldigt: Sie müsse für heute Schluss machen. Es gehe nicht anders. Ihr Hund scheine im Sterben zu liegen und ihre junge Haushälterin Anita würde gerade durchdrehen, weil sie nicht wisse, was zu tun sei. Die Gemeindemitglieder sollten einfach ohne sie die Vorbereitungen für die Eröffnungsfeier des Gemeindezentrums weiterplanen – morgen sei sie ja wieder dabei, in jedem Fall.
Sie sieht aus dem Fenster. Der mit Holz umfasste See, der sich gallertartig durch das Areal verteilt, ist dunkelblau. Ein Vater treibt mit seinem Sohn in einem Kajak in der Mitte des Sees. Entspannt lassen sie ihre Paddel durchhängen, während gefährlich nah eine der gigantischen Schwarz-Enten über der Wasseroberfläche schwebt, mit beängstigend laut flatternden Flügeln landet und das Boot fast zum Kentern bringt. Beim Anblick der beiden muss Pelusa an ihre Familie denken, an Hector, der gerade auf einem Outdoor-Firmenausflug ist, an ihren jüngeren Sohn Ignacio, wie er in diesem Moment wohl noch Tennis mit einem Schulkameraden spielt, und an ihren älteren Sohn Henny, dessen deformierte Gestalt sie in ihren Träumen verfolgt. Sie sieht sie alle in diesem Boot sitzen und das Wetter ist schön.
Ein strahlend weißer Caddy überholt Pelusa mit einem Hupen. Es ist der Sicherheitsdienst, der durch die Nachbarschaft patrouilliert. Ein Wachmann lenkt das Gefährt, während ein zweiter Ausschau nach Verdächtigem hält – herrenloser Abfall, offenstehende Garagen, defekte Sprinkleranlagen. Erst kürzlich hat die Verwaltung abermals das Aufgebot des Sicherheitspersonals erhöht. Grund dafür sind die sich häufenden Unruhen in Stadtvierteln südlich von Nordelta, wo bereits Supermärkte geplündert, Viehtransporte überfallen, Kläranlagen vergiftet, wiederholt Autobahnen mit brennenden Reifen blockiert und sogar Polizisten ermordet worden seien. Zusätzlich orderte man eine prächtige Reiterstaffel, die Pelusa noch immer jedes Mal, wenn sie sie zufällig durch La Lansia oder das kommerzielle Zentrum traben sieht, überrascht wie eine Halluzination.
Pelusa hat das Gefühl, alles um sie herum sei auf eine Weise unmissverständlich – die glänzenden Solarpanels auf den Dächern der Nachbarn, die überall sitzenden, unzähligen kleinen Eulen, die ihr Vorbeifahren gelangweilt beobachten, der junge Lieferant, der Plastiktüten voller Lebensmittel zu einem der Häuser trägt, und der Briefträger, der gerade die Post bei Familie Benedetti einwirft. Und schon zu dieser Tageszeit steigt Rauch vom Grillplatz des Clubhauses auf und über die Hecken hinweg kann Pelusa Mütter auf Liegen lesen oder – die Gelegenheit nutzend, allein im Haus zu sein – die aufblasbaren Orcas und Krokodile aus dem Pool fischen und einige wenige Bahnen schwimmen sehen.
Schließlich erreicht sie ihr Haus, in dem sie seit zehn Jahren lebt. Es ist weiß und breit und hat ein flaches schwarzes Dach. Unmittelbar vor dem Haus schlägt sich eine kleine gepflasterte Einfahrt in Form eines Bogens auf, die ländlichen Anwesen nachempfunden ist. Darauf passt lediglich ein Wagen, aber Pelusa mag die Geste und wie im Bogen selbst ein netter Baum steht. Sie bremst nicht abrupt, sondern sachte, während ihr Nachbar gerade unbeholfen mit gestreckten Armen in seinen Pool eintaucht.
Das Wohnzimmer ist leer und hell erleuchtet. Auf den großen weißen Fliesen liegen die Splitter eines fallen gelassenen Tellers, daneben ein Haufen frisch zubereiteter Pasta, von dem aus sich Spritzer von Tomatensauce auf Sitzpolster, Tisch- und Stuhlbeine verteilen, was Pelusa an Bilder von Autounfallopfern erinnert. Trotzdem ist der Raum geruchlos. Die Katze hockt vor dem Fliegengitter der Schiebetür, die zur Terrasse führt, starrt hinaus und miaut. Sie hat – anders als sonst – Pelusas Ankunft überhaupt nicht bemerkt. Pelusa legt ihre Handtasche auf dem massiven Esstisch ab. Vorsichtig schiebt sie die Katze mit ihrem Fuß beiseite und tritt auf die Terrasse. Dort sieht sie ihre Haushälterin Anita auf dem Boden knien.
»Gott sei Dank, Sie sind da.«
Ihr Gesicht erschreckt Pelusa. Sie hat ekelhafte rote Flecken um die Augen, Äderchen sind geplatzt und ihre Haut ist bleich wie Papier. Sie muss schon seit über einer Stunde weinen und sieht aus, als würde sie sich jeden Augenblick übergeben. Anita trägt ihre Arbeitskleidung. Sie steht auf und umarmt Pelusa, wobei ihr noch mehr Tränen kommen. Ihr Hals riecht nach Limetten und Scheuermilch und ihr fleischiger Körper ist warm.
»So geht das schon die ganze Zeit. Die Katze hat so komisch geweint, da habe ich nachgesehen und er machte diese merkwürdigen Geräusche und konnte nicht mehr aufstehen. Ich glaube, er stirbt, Señora.«
Erst jetzt bemerkt Pelusa, dass es auf der...
Erscheint lt. Verlag | 23.7.2015 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anden • Anspruchsvolle Literatur • Argentinien • Buenos Aires • Debüt • Gated-Communitys • Gesellschaft • Nordelta • Zukunft |
ISBN-10 | 3-10-403541-5 / 3104035415 |
ISBN-13 | 978-3-10-403541-3 / 9783104035413 |
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