Die Menschheit hat den Verstand verloren (eBook)
576 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1175-3 (ISBN)
Astrid Lindgren (1907-2002) ist die wichtigste Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts, Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, Karlsson vom Dach, Ronja Räubertochter und Die Brüder Löwenherz sind Klassiker, die bereits von mehreren Generationen von Kindern und Eltern gelesen wurden. Sie überwinden mühelos die Grenzen von Alter, Geschlecht, Herkunft und Politik. Astrid Lindgrens Bücher wurden in über 96 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als 150 Millionen Mal verkauft. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin hat sie sich stets für Rechte von Kindern eingesetzt.
Astrid Lindgren ist die wichtigste Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts. Die meisten ihrer Bücher wie Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, Karlsson vom Dach, Ronja Räubertochter und Die Brüder Löwenherz gelten als Klassiker. Astrid Lindgrens Bücher wurden in über 96 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als 150 Millionen Mal verkauft. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin hat sie sich stets für Rechte von Kindern eingesetzt.
1. SEPTEMBER
Oh! Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben. Gestern Nachmittag saßen Elsa Gullander und ich im Vasapark, die Kinder liefen und spielten um uns herum, und wir schimpften ganz gemütlich auf Hitler und waren uns einig, dass es wohl keinen Krieg geben würde – und dann das! Die Deutschen haben heute früh mehrere polnische Städte bombardiert und dringen von allen Seiten in Polen ein. Ich habe bis jetzt vermieden, irgendetwas zu hamstern, aber heute habe ich doch ein wenig Kakao, Tee, Schmierseife und einiges andere besorgt.
Über allem und allen liegt eine furchtbare Beklemmung. Den ganzen Tag meldet das Radio in regelmäßigen Abständen die neuesten Nachrichten. Viele Wehrpflichtige werden einberufen. Private Autofahrten sind verboten worden. Gott bewahre unseren armen vom Wahnsinn heimgesuchten Planeten! (Zum Tagebucheintrag)
2. SEPTEMBER
Ein trauriger, trauriger Tag! Ich habe Kriegsbekanntmachungen gelesen und geglaubt, Sture würde einberufen werden, doch so wie es aussieht, wird er das nicht. Aber unzählige andere müssen heute und morgen ihr Zuhause verlassen. Im Land herrscht »erhöhte Alarmbereitschaft«. Es wird unglaublich gehamstert, wenn man den Zeitungen glauben kann. Besonders werden Kaffee, Seife, Schmierseife und Gewürze gekauft. Die Zuckervorräte hier im Land reichen angeblich 1 ¼ Jahr, aber wenn die Leute nicht aufhören zu hamstern, haben wir vermutlich bald Zuckermangel. Im Lebensmittelladen gab es heute nicht ein Kilo Zucker (aber natürlich wird wieder welcher reinkommen).
Als ich zu meinem Kaffeegeschäft kam, um ein gerade noch vertretbares 1/2 Pfund Kaffee zu kaufen, hing ein Zettel an der Tür: »Geschlossen. Für heute kein Kaffee mehr.«
Heute ist der Tag der Kinder, ach, was für ein Tag der Kinder! Am Nachmittag bin ich mit Karin in den Park gegangen, und da habe ich den Aushang entdeckt, dass Männer des Jahrgangs 1898 einberufen werden [Sture war 1898 geboren]. Ich wollte die Zeitung lesen, während Karin auf der Rutsche war. Aber ich konnte nicht, mir standen die Tränen in den Augen.
Die Leute sehen ungefähr wie immer aus, nur ein bisschen düsterer. Alle reden vom Krieg, auch Menschen, die einander gar nicht kennen.
3. SEPTEMBER
Die Sonne scheint, es ist warm und schön, die Erde könnte so ein herrlicher Ort zum Leben sein. Heute um 11 Uhr hat England Deutschland den Krieg erklärt, Frankreich desgleichen, ich weiß nicht genau die Uhrzeit. England hatte Deutschland ein Ultimatum gestellt, sich vor 11 Uhr bereit zu erklären, seine Truppen aus Polen abzuziehen und Verhandlungen aufzunehmen, dann würde man den Überfall auf Polen als nicht geschehen betrachten. Aber bis 11 Uhr war nichts passiert, keine Antwort war eingegangen, und, so erklärte Chamberlain am Sonntagmittag in seiner Rede an die englische Nation, »folglich befindet sich dieses Land im Krieg mit Deutschland«.
»Die Verantwortung ruht auf den Schultern eines einzigen Mannes«, hat Chamberlain im englischen Parlament gesagt. Das Urteil der Geschichte über Adolf Hitler wird fürchterlich ausfallen – wenn es nun zu einem neuen Weltkrieg kommt. Viele glauben, es sei ganz einfach der Untergang der weißen Rasse und der Zivilisation, der bevorstehe.
Schon jetzt zanken sich die Regierungen, wer die Schuld daran trägt. Deutschland behauptet, Polen habe zuerst angegriffen und dass sich die Polen im Schutz der englisch-französischen Garantie alles erlauben könnten. Aber hier in Schweden können wir es nicht anders sehen, als dass Hitler den Krieg will oder jedenfalls der Meinung ist, ihn nicht vermeiden zu können, ohne sein Gesicht zu verlieren. Dass Chamberlain sich bis aufs Äußerste bemüht hat, den Frieden zu erhalten, ist ziemlich sicher; nur deswegen hat er in München nachgegeben. »Danzig und den Korridor« hat Hitler diesmal verlangt, aber sein innerster Wunsch ist vermutlich, die ganze Welt zu beherrschen. Wie werden sich Italien und Russland dazu stellen? Nach polnischen Angaben haben die ersten beiden Kriegstage 1.500 Todesopfer in Polen gefordert.
4. SEPTEMBER
Anne-Marie war abends bei mir, und so eine düstere »Sitzung« hatten wir noch nie. Wir haben versucht, über anderes als den Krieg zu reden, aber das war unmöglich. Schließlich haben wir uns einen Cognac genehmigt, um etwas fröhlicher zu werden, doch auch das hat nichts geholfen.
Ein großes englisches Passagierschiff mit 1.400 Personen an Bord ist von den Deutschen torpediert worden, die das jedoch verneinen und behaupten, es müsse auf eine Mine gelaufen sein. Aber nordwestlich von Schottland werden die Engländer doch wohl keine Minen gelegt haben. Ich glaube, dass alle Passagiere gerettet wurden (60 Umgekommene, nein, mehr, 128?), unter anderen von Wenner-Gren auf der »Southern Cross«, die mit einer Menge gehamstertem Öl auf Vergnügungsfahrt unterwegs ist. Er hat in den Zeitungen viel Schelte für seine wahnsinnige Hamsterei bekommen.
Die Engländer haben bei einem Blitzangriff auf Deutschland – keine Bomben abgeworfen, sondern Flugblätter, auf denen stand, dass das englische Volk keinen Krieg mit dem deutschen Volk will, sondern nur mit der Nazi-Regierung. Die Engländer hoffen anscheinend auf eine Revolution in Deutschland. Auf jeden Fall wird es Hitler wurmen, der mit Zuchthaus bestraft, wer ausländische Sender hört, und sogar die Todesstrafe verhängt, wenn jemand Nachrichten von ausländischen Sendern an andere Mitbürger weitergibt.
Im kleinen friedlichen Dänemark ist eine Bombe eines unbekannten Flugzeugs gefallen und hat ein Haus in Esbjerg zerstört, zwei Menschen sind umgekommen, davon eine Frau.
Der Busverkehr in Stockholm wird ab morgen eingeschränkt. Unsere Straßen sehen schon jetzt verlassen aus, seitdem die Privatautos nicht mehr fahren dürfen.
Heute habe ich meinen kleinen Hamstervorrat in einer Küchenecke untergebracht, um ihn später auf den Dachboden zu befördern. Er besteht aus: 2 kg Zucker, 1 kg Würfelzucker, 3 kg Reis, 1 kg Kartoffelmehl, 1 ½ kg Kaffee in verschiedenen Dosen, 2 kg Schmierseife, 2 Paketen Persil, 3 Stückchen Seife, 5 Packungen Kakao, 4 Packungen Tee und einigen Gewürzen. Mit der Zeit will ich versuchen, etwas mehr zu beschaffen, denn die Preise werden sicher bald steigen.
Gestern Abend wollte Karin, als sie im Bett lag, Wasser haben. »Wasser brauchen wir jedenfalls nicht zu sparen.« Sie glaubte, wir müssten von Wasser und Marmelade leben, wenn es Krieg gibt.
5. SEPTEMBER
Chamberlain hat im Radio zum deutschen Volk gesprochen – das ihn nicht hören darf.
An der Westfront geschieht nach wie vor nichts. Aber die Deutschen haben offenbar beschlossen, Polen völlig fertigzumachen.
Ich habe Schuhe für mich und die Kinder gekauft, bevor die Preise steigen: zwei Paar für Karin, 12,50 das Paar, ein Paar für Lasse, 19,50, und ein Paar für mich, 22,50.
6. SEPTEMBER
Es wird behauptet, die Franzosen hätten an der Westfront Plakate aufgehängt: »Wir schießen nicht.« Und dass die Deutschen auf ihren Plakaten antworten: »Wir auch nicht!« Aber das stimmt vermutlich nicht.
Von morgen an ist auch der Lastwagenverkehr von Restriktionen betroffen.
7. SEPTEMBER
Noch herrscht Ruhe vor dem Sturm. Aber bald sind die Deutschen in Warschau.
8. SEPTEMBER
Ja, schon heute sind sie da. Armes Polen! Die Polen behaupten, wenn es den Deutschen gelingt, Warschau einzunehmen, bedeutet das, dass der letzte polnische Soldat vernichtet ist.
17. SEPTEMBER
Heute sind auch die Russen in Polen einmarschiert, »um die Interessen der russischen Minderheit wahrzunehmen«. Tiefer in die Knie kann Polen kaum mehr gehen, man erwägt offenbar, einen Unterhändler nach Deutschland zu schicken.
An der Westfront passiert noch nichts Nennenswertes, aber heute stand in der Zeitung, dass Hitler einen enormen Luftangriff auf England vorbereitet. Auf den Meeren ist es unruhig; Minensprengungen und Torpedierungen in Legion. Die Zufuhr nach Deutschland ist ziemlich blockiert, nehme ich an.
3. OKTOBER
Der Krieg geht wie gewöhnlich weiter. Polen hat kapituliert. Dort herrscht ein einziges Chaos. Deutschland und Russland haben das Land zwischen sich aufgeteilt. Man kann kaum glauben, dass so etwas im zwanzigsten Jahrhundert passiert.
Russland hat den größten Vorteil von diesem Krieg. Erst als Deutschland Polen in die Knie gezwungen hatte, sind die Russen einmarschiert. Sie bekommen einen Teil der Beute, und zwar keinen kleinen. Es wird vermutet, dass die Deutschen nicht gerade froh über den Stand der Dinge sind, aber sie müssen gute Miene machen. Russland stellt eine Forderung nach der anderen an die baltischen Staaten – und es bekommt, was es will.
Im Augenblick führt Deutschland gewiss in erster Linie Krieg gegen uns Neutrale. Unsere Schiffe auf der Nordsee werden gekapert oder versenkt. In den Häfen haben die Deutschen Spione, die Ladung und Destination überprüfen, aber sogar Schiffe auf dem Weg zu anderen neutralen Ländern werden versenkt. Ich weiß nicht, was das für einen Sinn haben soll.
An der Westfront gibt es nach wie vor keine großen Vorkommnisse.
Hier zu Hause müssen wir uns mit kleinem Alltagsärger herumschlagen. Zum Beispiel ist kein weißes Nähgarn mehr aufzutreiben. Schmierseife ist nur noch in ¼-kg-Portionen zu bekommen.
Viele Menschen sind wegen der Krise arbeitslos geworden. Schade, dass niemand Hitler erschießt. Die...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2015 |
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Nachwort | Antje Rávik Strubel |
Übersetzer | Angelika Kutsch |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Briefe / Tagebücher | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 1935 • 1945 • 2. Weltkrieg • Biografie • Bullerbü • Diary • Die Brüder Löwenherz • Erinnerungen • Europa • Familie • Frieden • Geschichte • Hitler • Journal • Kalle Blomquist • Kinder • Krieg • Kriegstagebuch • Kriegszeit • Kriegszeiten • Mio mein Mio • Nazi • Notizen • Pippi Langstrumpf • Politik • Ronja Räubertochter • Schweden • Skandinavien • Tagebücher • und • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-8437-1175-5 / 3843711755 |
ISBN-13 | 978-3-8437-1175-3 / 9783843711753 |
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