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Kurt Tucholsky (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
203 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-54141-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kurt Tucholsky -  Michael Hepp
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Rowohlt E-Book Monographie Kurt Tucholsky, auch bekannt als Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel oder Kaspar Hauser, seines Zeichens Journalist, Satiriker, Essayist, Literatur- und Theaterkritiker, Erzähler, Lyriker, Chanson- und unermüdlicher Briefeschreiber, zählt zu den meistgelesenen Autoren der Weimarer Republik. Tucholsky, der von sich selber sagte, er habe Erfolg, aber keinerlei Wirkung, wird seit jeher geliebt und verehrt; zugleich ist er - als zorniger Ankläger von Machtmissbrauch und Militarismus («Soldaten sind Mörder») - nach wie vor heftig umstritten. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Michael Hepp, 1949-2003, war Mitarbeiter der Kurt Tucholsky-Forschungsstelle an der Universität Oldenburg und Mitherausgeber der wissenschaftlichen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Kurt Tucholskys, die seit 1996 bei Rowohlt erscheint. 1993 veröffentlichte er eine umfangreiche Studie «Kurt Tucholsky. Biographische Annäherungen» (Taschenbuchausgabe 1999, rororo 22629). Zahlreiche weitere Veröffentlichungen zur Zeit- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Michael Hepp war seit 1993 Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft.

Michael Hepp, 1949–2003, war Mitarbeiter der Kurt Tucholsky-Forschungsstelle an der Universität Oldenburg und Mitherausgeber der wissenschaftlichen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Kurt Tucholskys, die seit 1996 bei Rowohlt erscheint. 1993 veröffentlichte er eine umfangreiche Studie «Kurt Tucholsky. Biographische Annäherungen» (Taschenbuchausgabe 1999, rororo 22629). Zahlreiche weitere Veröffentlichungen zur Zeit- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Michael Hepp war seit 1993 Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft.

Berlin – Stettin – Berlin 1890–1915


«Schade – mich haben sie falsch geboren»


Soweit ich mich erinnere, wurde ich am 9. Januar 1890 als Angestellter der «Weltbühne» zu Berlin geboren. Meine Vorfahren haben, laut «Miesbacher Anzeiger», auf Bäumen gesessen und in der Nase gebohrt[1], schrieb Kurt Tucholsky 1926 in einer ironischen Autobiographie. An seiner Wiege standen symbolisch bereits die Vertreter jener gesellschaftlichen Gruppen, mit denen er sich später so vehement auseinandersetzen sollte. Sein Geburtshaus in der Lübecker Straße 13 in Berlin-Moabit wurde gleichsam eingerahmt von der Dreieinigkeit Militär, Justiz und Industrie. Im Süden standen zwei große Werke der Lokomotiven- und Maschinenfabrik Borsig, daneben im Südosten das Kriminalgericht Moabit und diesem direkt gegenüber die Kasernen der Ulanen und des Artillerie Corps mit einem riesigen Exerzierplatz. An die Rückseite seines Geburtshauses grenzte der große Komplex des Städtischen Krankenhauses Moabit.

 

Die letzten Jahre des alten Jahrhunderts kennzeichnete politische und wirtschaftliche Unruhe voller Umbrüche und Neuordnungen, geprägt vom «noch nicht» und «nicht mehr», einem Lebensgefühl, dem Tucholsky bis zuletzt verhaftet blieb. Das Jahr 1890 markierte das Ende der Gründerjahre. Wilhelm II., seit knapp zwei Jahren Deutscher Kaiser «von Gottes Gnaden», schickte Reichskanzler Otto von Bismarck, den Konstrukteur des Deutschen Kaiserreichs von 1871, in Pension, die Sozialistische Arbeiterpartei wurde nach Aufhebung des Sozialistengesetzes mit fast 20 Prozent der Wählerstimmen stärkste Partei in Deutschland und änderte ihren Namen in Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Arbeitgeberverbände entstanden, Streiks und soziale Unruhen kontrastierten mit sprunghaft anwachsendem Wohlstand einer kleinen Schicht von Unternehmern. Die Staatliche Invaliden- und Alterspflichtversicherung von 1889 und die Erfindung des Drehstrommotors im selben Jahr symbolisieren Eckpunkte einer wirtschaftlichen Entwicklung, von der auch Tucholskys Vorfahren profitiert hatten.

Kurt Tucholsky war ein Kind aus gutbürgerlich-jüdischer Familie. Seine Eltern Alex und Doris Tucholsky gehörten bereits zur zweiten Generation assimilierter Juden, die durch Fleiß und Ausdauer den Aufstieg ins Bürgertum geschafft hatten. Schon die Großeltern hatten es in der ersten Zeit der Judenemanzipation zu erheblichem Wohlstand gebracht. Alex Tucholsky, der am 13. Oktober 1887 seine Cousine Doris Tucholsky geheiratet hatte und in das eben fertig gewordene Mietshaus Lübecker Straße 13, 2. Stock[2], zog, war ein typischer Aufsteiger in dieser sich rasant industrialisierenden Zeit. Als Bankkaufmann trat er in die 1856 von Carl Fürstenberg gegründete «Berliner Handelsgesellschaft» (BHG) ein und arbeitete sich schließlich bis zum Direktor hoch.

1892 schickte man ihn nach Stettin in die dortige Filiale der mit der BHG verbundenen Firma Lenz & Co, eine der führenden Eisenbahngesellschaften der damaligen Zeit. Die Bank brauchte zudem an den wichtigsten Börsenplätzen zuverlässige Leute, um die Aktiengeschäfte zu tätigen. In Stettin war einer dieser Zuverlässigen Alex Tucholsky, der sich nun auch finanziell weiteren Familiennachwuchs leisten konnte: Nach Kurt wurde 1895 dessen Bruder Fritz geboren, mit dem er bis zu seinem Tod eng verbunden blieb, 1897 folgte die Schwester Ellen.

Stettin. Hier, in seinen Jugendjahren, entstand Tucholskys tiefverwurzeltes Gefühl für den Norden, hier hörte er das rollende Plattdeutsch, das er später in seine Geschichten einflocht. In der landschaftlich reizvollen Umgebung von Stettin lernte er die eher spröde Natur kennen, die er bis zu seinem Tod liebte und nach der er sich sehnte: die See, die Wälder, die Stille. Aber auch die Hektik der Stadt erlebte Tucholsky hier, und er prägte sich die Reaktion des geliebten Vaters darauf ein, der gern pfeiferauchend auf dem Balkon saß und immer wieder den Kopf schüttelte: «Wie sie rennen! Wie sie rennen!»[3]

1899 kehrte die Familie nach Berlin zurück, wo sie mitten im Zentrum, in der Dorotheenstraße 11, eine komfortable Firmenwohnung beziehen konnte. 1901 wurde Alex Tucholsky schließlich in das aus vierzehn Mitgliedern bestehende Direktorium der BHG befördert, als Bereichsleiter war er auch hier zuständig für die Tochterfirma Lenz & Co.

Alex Tucholsky ahnte wohl aufgrund seiner Tätigkeit in Stettin, welche Folgen die kaiserliche Großmachtpolitik haben könnte. Im Dezember 1894 meinte er sorgenvoll, dass die «Kater-Ideen der hohen Herren» einen Krieg heraufbeschwören werden. Und «Krieg heißt doch schließlich auf Deutsch privilegierter Mord». Leidtragende seien dann wieder die Eltern und Kinder.[4] Trotz dieser Erkenntnis wäre ihm allerdings nie in den Sinn gekommen, seinen lukrativen Job aufzugeben – er wollte die Familie versorgt sehen, wenn er starb. Und spätestens seit seiner Rückkehr nach Berlin wusste er, dass er schwer krank war. Die wenigen vorhandenen Aussagen lassen darauf schließen, dass Alex Tucholsky etwa seit 1898 am «Tertiärstadium» der Syphilis litt. Eine nachhaltige Heilungsmethode war damals noch unbekannt, das Penicillin noch nicht gefunden; Korsett und schmerzlindernde Spritzen bedeuteten wohl bereits das Äußerste an medizinischer Behandlungsmöglichkeit. Trotz starker Schmerzen und der zunehmenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes arbeitete Alex Tucholsky mit eiserner Disziplin und «treuester Pflichterfüllung» bis kurz vor seinem Tod am 1. November 1905.

Kurt Tucholsky hat diesen frühen Verlust des geliebten und verehrten Vaters nie überwunden, er blieb fast zeitlebens auf der Suche nach einem «Vaterersatz». Noch kurz vor seinem Tod 1935 empfand er es als fast unerträglich, daß ein so wertvoller Mann wie Papa sterben mußte, als er an der Schwelle der Ernte seines Lebens war[5].

Ganz anders stellt sich das Verhältnis zu seiner Mutter dar, das bis zum Ende äußerst gespannt blieb. Manche Bemerkungen in seinen Briefen klingen geradezu hasserfüllt, etwa wenn er sie als minderwertigen Menschen und mittelgradig schwachsinnig bezeichnete.[6] War es nur der Elternkonflikt, der, durch die Werke von Henrik Ibsen, August Strindberg oder Frank Wedekind verstärkt, eine ganze Generation in Aufruhr versetzte? Tucholsky sprach ja selbst von dem Knacks, den es zwischen seiner Generation und der seiner Eltern gegeben hat, den «Fortschritt», die aufbegehrende Opposition, die da sagte: Achtung! Jetzt kommen wir![7]

Diese aufbegehrende Opposition orientierte sich am Zauberwort einer ganzen Schülergeneration, dem «Wandervogel» und dessen Idealen wie Bedürfnislosigkeit, Autonomie, Wandern, Naturerlebnis und Heimat, die der als sinnlos empfundenen Lebensform der Erwachsenen und ihrer Welt der Verbote entgegengesetzt wurden. Das Wort Familienbande hatte für Tucholsky durchaus eine doppelte Bedeutung. Die Brutwärme der Familie wurde als erdrückend empfunden, als Backofen des Egoismus, als Käfig.[8] Der Tucholsky in vielen Bereichen wesensverwandte Franz Kafka klagte beispielsweise: «Nichts wollen die Eltern, als einen zu sich hinunterziehen in die alten Zeiten, aus denen man aufatmend aufsteigen möchte. Aus Liebe wollen sie es natürlich. Das ist ja das Entsetzliche.»[9] Ähnliche Vorwürfe finden sich auch bei Tucholsky zuhauf, erklären aber nicht die fast abgrundtiefe Verachtung der Mutter gegenüber.

Wer den Spuren in Tucholskys Werk nachgeht, wird zahlreiche Hinweise finden, Anklagen und Verzweiflungsschreie, etwa in der Geschichte über das Elternhaus: Laut knallten die Türen, und wir hörten einen schrillen Sopran: «Marie! Marie! Habe ich Ihnen nicht schon tausendmal gesagt, daß die Staublappen nicht in die rechte Schublade gehören? Marie! Wo ist mein Schlüsselkorb? Marie! Der Korb! Wo ist Bubi? Marie! Wo ist das Kind? Das Kind! Der Korb! –» Und aus einer Ecke kroch, mit totentraurigen Augen, ein kleines, verwahrlost aussehendes Geschöpft: ein Kind. Nein, ein Opfer.[10] Ein Opfer mit totentraurigen Augen, das kann nur schreiben, wer sich tief verletzt fühlt, diese Kinderhölle erlebt hat.

Auch Tucholskys Darstellung der Schauspielerin Rosa Bertens in Strindbergs «Scheiterhaufen», diese mit kraftvoll-grellen Farben gemalte Fratze einer machtgierigen Frau, ist ein Spiegelbild der eigenen Mutter und das Porträt teilweise erlittenen Familienlebens: Sie hatte geherrscht, fünfzehn Jahre, zwanzig, vielleicht länger, und es waren bittere Jahre gewesen. Sie hatte die ganze Zeit hindurch ihre Augen offen gehabt, sie, die ungekrönte Königin einer Fünfzimmerwohnung […] Hier herrschte sie, herrschte mit allen Mitteln. Mit Gewalt, mit Schlägen, mit der Lüge «wenn man das Wort Lügen von jemand benutzen kann, der nicht weiß, was Wahrheit ist». Der Familienversorger war da – Rechte hatte er nicht. (Weil er nicht die Kraft hatte, sie sich zu nehmen.)[11]

Fast gespenstisch deckungsgleich sind die Schilderungen der Mutter durch Tucholskys Schwester Ellen: Da wird das Bild einer herrschsüchtigen, brüllenden, hysterischen Tyrannin gezeichnet, die nach außen jedoch den schönen Schein einer heilen Welt aufrechterhalten habe. Anerkennung, Zärtlichkeit oder gar Liebe hätten die Kinder nicht kennengelernt, wie eine Käseglocke...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2015
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Die Weltbühne • Militarismus • Monografie • Ossietzky • Satire • Soldaten sind Mörder • Weimarer Republik
ISBN-10 3-644-54141-8 / 3644541418
ISBN-13 978-3-644-54141-2 / 9783644541412
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