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Die Tänzerin von Auschwitz (eBook)

Die Geschichte einer unbeugsamen Frau

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
288 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-0887-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Tänzerin von Auschwitz - Paul Glaser
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»Eines der außergewöhnlichsten Leben des 20. Jahrhunderts.« The Washington Times. Während eines Besuchs im Vernichtungslager Auschwitz entdeckt Paul Glaser einen Koffer - beschriftet mit seinem Familiennamen. Es beginnt die zaghafte Entdeckung der verdrängten jüdischen Wurzeln seiner Familie und der unglaublichen Überlebensgeschichte seiner Tante Rosie, einer temperamentvollen und emanzipierten Tanzlehrerin aus Amsterdam, die ihren Lebensmut gegen den nationalsozialistischen Terror verteidigt. Aus Rosies Tagebüchern und Briefen setzt Glaser ihre Biographie zusammen - ein authentischer und emotionaler Überlebensbericht, der zugleich vom Kampf zwischen Erinnern und Vergessen in einer Familie erzählt.

Paul Glaser wurde 1947 als ältestes von insgesamt fünf Kindern in Maastricht geboren. Er bekleidete Führungspositionen in verschiedenen Bildungs- und Hilfseinrichtungen, und beteiligte sich an der Gründung eines Museums, eines Regionaltheaters sowie einer Montessori-Schule. Die Geschichte um seine Tante Rosie - um Liebe, Verrat und den Kampf ums Überleben - ist nach seinen wissenschaftlichen Publikationen sein erstes Buch für ein breites Publikum.

ROOSJE
Die gebrochenen Flügel der Liebe


Im Sommer 1934 gingen Boy und ich an einem schönen Sonntagnachmittag im Zentrum Nijmegens spazieren. Ab und zu warf ich aus dem Augenwinkel einen Blick auf unser Spiegelbild in einem Schaufenster. Es hätte mich nicht gewundert, wenn man uns für ein Paar gehalten hätte. Boy war einundzwanzig, ich war fast zwanzig. Einen Moment lang regte sich eine Sehnsucht nach Liebe in mir. Doch Boy war ein Kumpel für mich: Wir tanzten miteinander, wir spielten Tennis, wir gingen schwimmen. Von einem gelegentlichen kleinen Flirt abgesehen, waren wir nur gute Freunde.

Das Hupen eines vorbeifahrenden Autos holte mich in die Wirklichkeit zurück.

Boy blieb stehen. »Der hupt deinetwegen, Roosje.«

»Ach ja? Verliebte Autos interessieren mich aber nicht die Bohne.«

»Der Fahrer hat dich angeschaut, als würde er dich kennen. Wer war das?«

»Keine Ahnung«, sagte ich gleichgültig. »Komm weiter.«

Wir vertrieben uns die Zeit bis zum Abend, dann wollten wir uns in der Vereeniging mit Freunden zum Tanzen treffen. Ich ging mindestens zweimal pro Woche in die Vereeniging. Sie war berühmt in Nijmegen, ein Prachtbau mit den verschiedensten Sälen, Wandelgängen und Bars. Der große Saal fasste eintausendsechshundert Personen und wurde im Winter für Konzerte, Revuen, Opern-, Operetten- und Theateraufführungen genutzt. Das Foyer war grandios: ein Tanzparkett aus Mahagoni, behagliches burgunderfarbenes Mobiliar und an der Decke rotierende Spiegel. Es gab ein Winter-Café mit Unterhaltungsmusik, und im Sommer spielte eine hervorragende Tanzkapelle. Alle zwei Wochen fanden internationale Kabarettabende statt.

Als Kind hatte ich meine Eltern oft von der Vereeniging reden hören, und immer wenn ich den Keizer Karelplein überquerte, hatte ich sehnsüchtig zu dem Gebäude hinübergeschaut. Es erschien mir geradezu märchenhaft, ein Ort nur für Erwachsene. Um es betreten zu dürfen, musste man mindestens sechzehn und außerdem Mitglied sein.

Durch eine Laune des Zufalls gelangte ich in den Besitz der Mitgliedskarte meines Vaters. Nach dem Tod seiner Mutter hielt er das Trauerjahr ein, und für meine kleinbürgerlich aufgewachsene Mutter war es undenkbar, allein auszugehen. Aus Rücksicht auf meinen Vater versuchte ich, mir meine Freude nicht anmerken zu lassen, aber die Karte war ein Geschenk des Himmels für mich.

Jeden Donnerstag begleitete ich nun meine Mutter zu einem wunderbaren Konzert im großen Saal der Vereeniging. Ganz besonders genoss ich die Klavierkonzerte. So lernte ich zahlreiche Werke der klassischen Musik kennen, und auch das Publikum wurde mir vertraut. Für eine Fünfzehnjährige wie mich war das ein aufregender Vorgeschmack auf das Erwachsensein, und es machte Appetit auf mehr.

Es gab dort viel zu sehen: Damen, die während des ganzen Konzertes Süßigkeiten naschten und mit dem ständigen Geraschel alle verrückt machten, ältere Herren, die ihr Opernglas ungeniert auf das Publikum richteten statt auf die Bühne, Besucher in feiner Abendgarderobe, aber ohne jedes Interesse für klassische Musik, die binnen Minuten friedlich einschlummerten, aber auch fanatische Musikliebhaber, die Note für Note die Partitur mitlasen, um den Dirigenten bei einem Fehler zu ertappen.

Und dann die Pausen, in denen die Leute durch die langen Wandelgänge mit den hohen Spiegeln flanierten, Gedanken austauschten und auf eine Tasse Kaffee dem Foyer zustrebten.

Ich genoss jede Minute und sah mich so begierig um, dass meine Mutter mich oft fragte: »Sag mal, Roosje, suchst du jemanden?«

»Nein, Mutter«, antwortete ich dann, »ich sehe mir nur so gern die Leute an. Ich komme mir vor wie im Zoo. Schau dich um – ich sehe da Affen, Esel, Füchse, Eulen, Schweine, Elefanten, Papageien und Raubvögel.«

Doch nicht nur dieser Vorgeschmack auf das Erwachsensein machte die Vereeniging zu etwas ganz Besonderem für mich. Sie rief auch meine erste Liebe wieder wach, das Tanzen, für das ich in der Zeit, als unsere Familie in Deutschland lebte, eine Leidenschaft entwickelt hatte.

Kurz nach dem Ersten Weltkrieg trat mein Vater eine Stelle bei der Margarine AG in Kleve an, der ersten Auslandsniederlassung der Familie van den Bergh. Dreitausend Menschen waren dort in der Produktion von Blauband-Margarine beschäftigt. Mein Vater machte rasch Karriere und wurde zum Betriebsleiter befördert.

Während sich nach einem Krieg, der für Deutschland in der Katastrophe geendet hatte, das Leben in Kleve langsam wieder normalisierte, wohnten wir längere Zeit in einem vornehmen Hotel namens Bollinger, in dem auch Offiziere der belgischen Besatzungstruppen einquartiert waren.

Als fünfjähriges Mädchen durfte ich im ganzen Hotel umherstreifen, und alle waren nett zu mir. Eines Abends hörte ich Musik und Stimmen aus dem großen Saal: »Und eins, und zwei, und drei, und vier, Füße zusammen, und drei, und vier …« Im Halbdunkel hinter der Glastür glitten Füße über den Boden. Lackschuhe, weiße Glacéhandschuhe, junge Schüler mit geröteten Gesichtern und mittendrin Liselotte Benfer, eine rothaarige, zierliche, kleine Frau in einem schwarzen Abendkleid aus Tüll. Sie brachte der Jugend Kleves das Tanzen bei. Nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren war das Interesse an ihren Kursen groß. »Die Herren bringen die Damen jetzt an ihre Plätze zurück«, sagte sie, und die Paare strebten untergehakt in langer Prozession der Damenseite zu, wo die Herren eine leichte Verbeugung und die Damen einen Knicks machten. »Fünf Minuten Pause«, verkündete Liselotte Benfer.

Sehnsüchtig und mit offenem Mund schaute ich durch die Glasscheibe. »Ist das schön!«, dachte ich. »Ich will auch tanzen lernen.«

Eines Morgens saß ich mit meiner Mutter an einem üppig gedeckten Tisch im Frühstücksraum des Hotels. Uns gegenüber trank Liselotte Benfer eine Tasse schwarzen Kaffee und aß eine Scheibe Graubrot dazu. Ihr Blick wanderte immer wieder zu uns herüber, doch nicht aus Neid, sondern aus Hunger. Meine Mutter begriff. Sie hatte die deutsche Tanzlehrerin schon mehrmals im Hotel gesehen und zweideutige Bemerkungen über sie aufgeschnappt. Doch so etwas kümmerte sie nicht. Sie tat frischen Fisch und knusprigen holländischen Zwieback mit Frischkäse auf einen Teller, und ich bot ihn Liselotte Benfer mit einem deutschen Knicks an.

»Für mich?«, fragte sie. »Wie reizend. Aber erst will ich mich bei deiner Mami bedanken.«

Eine angeregte Unterhaltung entspann sich, und währenddessen konnte ich mein Idol eingehend mustern: die hübschen kleinen Füße, die feinen Seidenstrümpfe, das gut geschnittene Leinenkleid, die zarten, schlanken Hände, den Ring mit der Kamee, das mit einer einzigen Spange zusammengehaltene rote Haar. Liselotte Benfer brauchte keine schicken Kleider – sie war wunderschön.

Und das Beste: Sie lud mich zu ihrer nächsten Tanzstunde ein. Als sie am Abend mit mir an der Hand den Saal betrat, sahen uns die Schüler verwundert an. »Das ist Roosje, unsere neue Tänzerin«, stellte sie mich vor. Trotz meines zarten Alters lernte ich schnell die ersten Schritte und tanzte, als hinge mein Leben davon ab. Ich ging völlig darin auf. Wenn mich nach einiger Zeit die Offiziere im Hotel fragten, was ich einmal werden wolle, antwortete ich: »Fräulein Benfer.«

Nachdem Boy und ich ein Stück weitergeschlendert waren, winkte uns ein junger Mann, der an einem hohen offenen Fenster saß, zu sich herein.

»Wollen wir?«, fragte Boy. »Das ist ein Freund von mir. Ein netter Kerl, du wirst sehen.«

In dem großen Zimmer stellte Boy mich Wim Vermeulen vor. »Was darf ich euch anbieten?«, fragte Wim, und dann tranken wir auf unser Kennenlernen und unsere Gesundheit.

Wim war charmant, ein unterhaltsamer Erzähler, aber auch ein aufmerksamer Zuhörer. Auf seinem Schreibtisch standen mehrere Fotos von einem Mädchen, vermutlich seiner Freundin. Während ich sie betrachtete, merkte ich, wie mir die Hitze in die Wangen stieg, nicht der Bilder wegen, sondern weil ich spürte, dass Wim mich unverwandt ansah. Ich fühlte mich ertappt. Unterdessen ging die Unterhaltung weiter. »Was habt ihr heute Abend vor?«, fragte Wim.

»Wir wollen in die Vereeniging«, antwortete Boy.

»Komm doch mit«, platzte ich heraus.

»Ja?« Wim lächelte. »Ich will aber nicht stören.«

»Du störst doch nicht«, sagte ich. »Wir freuen uns, wenn du mitkommst.«

Wim hatte etwas Anziehendes – nicht nur weil er gut aussah, sondern auch was seine Manieren anging, seine ganze Haltung, sein glatt zurückgekämmtes schwarzes Haar. Er war größer und etwas älter als ich, schlank und geschmeidig. Er machte mich neugierig.

Am Abend saßen Boy und ich in der Vereeniging an einem Tisch und warteten auf Wim. Ich sah ihn sofort, als er hereinkam. Er hatte ein Mädchen bei sich, wahrscheinlich das von den Fotos auf seinem Schreibtisch. Doch als die beiden näher kamen, erkannte ich meine Tennispartnerin Lydia.

»Ich hab sie an der Garderobe getroffen«, erklärte Wim. »Sie war allein, und da hab ich sie gefragt, ob sie sich nicht zu uns setzen will.«

»Du brauchst uns nicht vorzustellen«, sagte ich erleichtert. »Wir kennen uns schon ewig.« Ich zwinkerte Lydia zu. Boy kannte Lydia ebenfalls, und wir mussten schallend lachen. Wim rückte noch einen Stuhl an den Tisch, und wir bestellten die Getränke.

Wim erzählte mit viel Enthusiasmus von seinem Beruf als Zivilpilot, und als ich ihn nach seiner Familie fragte, sagte er: »Wir waren zu viert. Mein Vater ist schon lange tot, und ich wohne...

Erscheint lt. Verlag 16.1.2015
Übersetzer Eva Schweikart, Barbara Heller
Zusatzinfo Mit 33 Abbildungen
Sprache deutsch
Original-Titel Tante Roosje. Het oorlogsgeheim van mijn familie
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Auschwitz • Biographie • Drittes Reich • Holocaust • Rosie Glaser • Shoah • Tanz
ISBN-10 3-8412-0887-8 / 3841208878
ISBN-13 978-3-8412-0887-3 / 9783841208873
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