Die Toten Hosen (eBook)
384 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02701-5 (ISBN)
Philipp Oehmke, 40, ist seit 2006 Kulturredakteur beim SPIEGEL. Davor war er Redakteur beim Magazin der «Süddeutschen Zeitung» und Herausgeber der 50-bändigen Pop-Anthologie «SZ Diskothek. Ein Jahr und seine 20 Songs». Sein erstes Interview mit der Band führte er am Rande einer Großdemonstration gegen die neue Asylgesetzgebung 1992, damals noch für die Schülerzeitung. Das zweite folgte 1995 für die Zeitschrift TEMPO. Viele weitere Treffen kamen über die Jahre hinzu, bis Oehmke 2008 für den SPIEGEL ein langes Porträt über Campino schrieb und dafür den Sänger und die Band wochenlang begleitete. Seitdem steht er mit den Toten Hosen in engem Kontakt. Inzwischen hat er mehr als 30 Konzerte besucht, ist mit den Bandmitgliedern verreist und hat für dieses Buch mehr als 50 Stunden lang Gespräche mit den Musikern, Verwandten, Weggefährten, Freunden und Gegnern geführt.
Philipp Oehmke, 40, ist seit 2006 Kulturredakteur beim SPIEGEL. Davor war er Redakteur beim Magazin der «Süddeutschen Zeitung» und Herausgeber der 50-bändigen Pop-Anthologie «SZ Diskothek. Ein Jahr und seine 20 Songs». Sein erstes Interview mit der Band führte er am Rande einer Großdemonstration gegen die neue Asylgesetzgebung 1992, damals noch für die Schülerzeitung. Das zweite folgte 1995 für die Zeitschrift TEMPO. Viele weitere Treffen kamen über die Jahre hinzu, bis Oehmke 2008 für den SPIEGEL ein langes Porträt über Campino schrieb und dafür den Sänger und die Band wochenlang begleitete. Seitdem steht er mit den Toten Hosen in engem Kontakt. Inzwischen hat er mehr als 30 Konzerte besucht, ist mit den Bandmitgliedern verreist und hat für dieses Buch mehr als 50 Stunden lang Gespräche mit den Musikern, Verwandten, Weggefährten, Freunden und Gegnern geführt.
Der Anruf
ANDI: Da schluckst du, klar. An dem Morgen, an dem ich gesehen habe, dass Volker Kauder von der CDU «Tage wie diese» singt, fand ich das natürlich nicht toll. So was will man nicht.
KUDDEL: Ich versuche, diesen Gedanken von mir zu schieben, dass mich das nervt. Aber irgendwie nervt es mich doch. Mir wäre es lieber gewesen, wenn die CDU das nicht gespielt hätte, und die anderen Parteien auch nicht, klar. Du guckst in einen hässlichen Spiegel.
CAMPINO: Im Grunde ist doch nichts weiter passiert, außer dass wir ein Liedchen hatten, das sich verselbständigt hat. Das von den Leuten geliebt wurde, scheißegal ob das von den Toten Hosen war oder nicht. Und die CDU weiß doch, wo wir stehen. Das Gegenfeuer, das konnten sie ja schon spüren, sonst hätte die Merkel auch nicht bei mir angerufen und sich entschuldigt.
BREITI: Aber es hätte ja gereicht, wenn die Sekretärin anruft. Ich stelle mir vor, die Merkel hat einen ziemlich vollen Terminkalender und möglicherweise echt wichtige Sachen zu tun. Und dann ein Telefontermin mit Campino von den Toten Hosen: Der passt dann da noch rein?
VOM: Who’s Volker Cow-da?
Am Abend des 22. September 2013, Deutschland hatte gerade eine neue Regierung gewählt, bekamen die Toten Hosen um zehn Minuten nach neun ein Problem.
Die Christlich Demokratische Union, kurz: die CDU, hatte an diesem Tag einen triumphalen Wahlsieg eingefahren und Kanzlerin Angela Merkel mit 41,5 Prozent der Wählerstimmen die absolute Mehrheit nur knapp verpasst.
Aber das war natürlich nicht das Problem der Toten Hosen.
Das Problem bestieg um kurz nach neun die Bühne des Berliner Konrad-Adenauer-Hauses, der Zentrale der CDU, wo die Partei eine Wahlparty veranstaltete. Man war ausgelassen, die Kanzlerin simulierte auf der Bühne ein paar wiegende Tanzschritte und schlug mit weit ausholenden Bewegungen immer wieder die Hände zusammen. Neben ihr stand Ursula von der Leyen, der Generalsekretär Hermann Gröhe sprang um sie herum, selbst Heiner Geißler war wie ein Gespenst aus den Achtzigern kurz auf der Bühne aufgetaucht.
«Morgen wird wieder gearbeitet», hatte die Botschaft von Merkels Siegesansprache vorsorglich gelautet, aber nun drohte ihr der Abend doch zu entgleiten. Schon während ihrer Rede hatte Hermann Gröhe hinter ihrem Rücken Grimassen geschnitten, sodass sie sich ein paarmal umdrehen und ihn taxieren musste. Gröhe hatte sich danach eine kleine Deutschlandfahne besorgt, er wollte mit ihr, Besoffski-Grinsen im Gesicht, das Fähnchen schwenkend, über die Bühne schreiten, aber sie nahm ihm die Fahne weg.
Dann kam Volker Kauder, ihr Fraktionsvorsitzender. Oje, er hatte es geschafft, sich irgendwo ein Mikrophon zu besorgen. Eine Tanzkapelle spielte die ersten Takte eines Liedes an. Merkel erkannte das Lied nicht, später erfuhr sie, dass es «Tage wie diese» hieß und von den Toten Hosen war. Kauder hob das Mikrophon Richtung Mund, begann zu singen. Die Bundeskanzlerin guckte ihren Fraktionschef interessiert bis irritiert von der Seite an – konnte das gut enden, was der da veranstaltete? – und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
Die Tagesthemen hatten an jenem Abend 5,9 Millionen Zuschauer. Gut eine Stunde später sahen diese Menschen, wie die CDU zur Musik der Toten Hosen feierte. Ein Land im Unionstaumel. Es war beinahe wie vor dreißig Jahren, 1983, als die Toten Hosen gerade ihr erstes Album Opel-Gang veröffentlicht hatten und die Deutschen Helmut Kohl mit 48,8 Prozent zum Kanzler wählten. Die Toten Hosen sangen damals Lieder wie «Hofgarten» mit Zeilen wie «Ficken, Bumsen, Blasen / alles auf dem Rasen», und niemand spielte sie auf irgendwelchen Wahlfeiern. Stolz, ganz bewusst standen sie außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses und fühlten sich dort wohl.
Am Tag nach der Septemberwahl 2013 war der Kauder-Clip überall im Internet. Die Kommentare, die er hervorrief, richteten sich gegen Kauder, gegen die CDU, aber auch gegen die Toten Hosen. Sie, die ehemaligen Punkrocker, hätten sich endgültig verraten: ein neuer Beweis für einen alten Vorwurf.
Natürlich hätte jeder wissen können, dass die Toten Hosen das nicht gewollt hatten. Im Gegenteil, schon in den Wochen vor der Wahl war das Lied immer wieder auf Wahlkampfveranstaltungen sowohl der CDU als auch der SPD zu hören gewesen. Die Band hatte sich öffentlich dagegen gewehrt und doch nicht verhindern können, dass Menschen das Lied zu allen möglichen Anlässen spielten. Jetzt, nach dreißig Jahren, landeten sie einen Hit wie nie zuvor; «Tage wie diese» hatte sich, nachdem es im März 2012, also schon anderthalb Jahre vor der Bundestagswahl, erschienen war, 800000-mal verkauft und stand sechs Wochen auf Platz eins der Hitparaden. Das Lied lief in Fußballstadien, in Bierzelten, auf Hochzeiten, Beerdigungen und auf Radiosendern, die die Toten Hosen bislang ignoriert hatten.
Schon im Sommer 2012, während der Fußball-Europameisterschaft, hatte sich Oliver Bierhoff, Teammanager des deutschen Nationalteams, aus der Ukraine bei Campino gemeldet. Ob die Toten Hosen sich vorstellen könnten, im Falle eines Finaleinzugs (daraus wurde nichts) die Mannschaft im EM-Quartier in der Ukraine zu besuchen und «Tage wie diese» am Abend zuvor zur Motivation der Spieler live vorzutragen?
Campino schrieb an seinem fünfzigsten Geburtstag in sein Tagebuch: «Das darf nicht wahr sein: An Tagen wie diesen halte ich zum ersten Mal zum deutschen Team. Eine erstaunliche Erfahrung. Aber überall singen die Leute dieses Lied. Was sollte ich dagegen haben?»
Nichts! Oder doch? Allerdings implizierte die Frage, dass man durchaus etwas dagegen haben konnte.
Campino, Andi, Breiti und Kuddel (Vom, dem englischen Schlagzeuger, war es ein bisschen egal) wollten nichts dagegen haben. Sie wollten nicht verkrampfen, nicht jetzt, nicht im Jahr ihres größten Triumphes. Sie glaubten schließlich, dass sie sich erfolgreich therapiert hatten von jener Ruhm- und Erfolgsverspannung, mit der sie jahrzehntelang gekämpft hatten. Punkrock, so hatte es Campino einmal ausgedrückt, hatte für vieles Rezepte, nur für eines nicht, für den Umgang mit Erfolg, Reichtum und Ruhm.
Verkrampft, hat Breiti einmal erklärt, seien sie oft genug gewesen. Im Laufe von zwanzig Jahren, seit den frühen Neunzigern, hatten sie lernen müssen, mit ihrem Erfolg und ihrer Rolle als Rockstars, mit Wetten-dass..?-Auftritten, Goldenen Schallplatten und Echoverleihungen klarzukommen, weshalb sie der Union nun nicht die Genugtuung gönnen wollten, sie auch nur für eine Millisekunde aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und so war die Band wieder in einem Dilemma gefangen, das sie schon kannte. Sie meinte, es überwunden zu haben. Die Toten Hosen versuchten, den Vorfall zu vergessen.
Drei Tage nach der Bundestagswahl, an einem Mittwochmittag, klingelte im Büro der Band das Telefon. Die Toten Hosen führen ihren eigenen Laden, Jochens Kleine Plattenfirma, genannt JKP, er liegt auf einem Industriehof im Düsseldorfer Stadtteil Flingern. Eine Sekretärin der Bundeskanzlerin war am Telefon. Frau Dr. Angela Merkel, sagte die Stimme aus dem Kanzleramt, wolle bitte den Herrn Campino sprechen. Ob der da sei.
Ratlosigkeit.
Die Titanic?
Vielleicht will sie einen Plattenvertrag, mutmaßte die Assistentin Dani Wigbels, die den Anruf entgegengenommen hatte.
Keiner dachte an den Kauder-Vorfall.
JKP-Geschäftsführer Patrick Orth informierte den Manager Jochen Hülder, der wieder Campino anrief und Campino kurz darauf die anderen Bandmitglieder. Die Maschine der Toten Hosen hatte sich in Bewegung gesetzt.
Keiner war begeistert.
Angela Merkel bekam Campinos Nummer erst einmal nicht.
Die Toten Hosen wären nicht die Toten Hosen, wenn sie nicht zunächst diskutieren, abwägen, erörtern, beraten, streiten würden. Das machen sie seit dreißig Jahren so. Und auch in diesem Fall. Nicht alle waren dafür, dass die Kanzlerin einfach bei einem von ihnen anrief.
Im internen Gefüge verstehen sich die Toten Hosen als demokratische Institution. Jeder hat eine Stimme, jeder wird gehört, jeder kann theoretisch ein Veto einlegen, und dann wird meistens so lange diskutiert, bis Campino sich durchsetzt. Der Produzent der Toten Hosen, Vincent Sorg, der bei den Aufnahmen im Studio viele Entscheidungsfindungen der Band miterlebt hat, nannte es einmal so: «Die Toten Hosen sind die bestfunktionierende Scheindemokratie der Welt.»
Und Campino sagte jetzt: «Wenn die Kanzlerin mich sprechen will, höre ich mir das an und lasse mich nicht verleugnen.»
Am nächsten Tag klingelte Campinos Mobiltelefon. Donnerstag, vier Tage nach der Bundestagswahl. Angela Merkel hatte da zwar noch keine Idee für eine Koalition – Sondierung mit den Grünen, Gespräche mit den Sozialdemokraten, man kann ja alles noch sehen –, aber erst mal mit Campino reden. Der war auf dem Weg ins Düsseldorfer Stadion, wo er einen Spot zur Prävention von Rückenmarksverletzungen drehen sollte. Es ging ihm nicht gut. Er hatte ein dickes Knie, angeschwollen wie ein Luftballon, Meniskusriss links. Beide Achillessehnen waren angerissen. Die Konzerte der letzten Wochen – Konstanz, Baden-Baden, Mannheim – hatte er nur unter Qualen durchgestanden. Schmerzmittel. Physiotherapie. Aquajogging bis...
Erscheint lt. Verlag | 21.11.2014 |
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Zusatzinfo | Zahlr. 4-farb. Fotos |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Altes Fieber • Ärzte • Biographie • Bis zum bitteren Ende • Buch • Campino • deutsche Band • Die Roten Rosen • Hier kommt Alex • Machmalauter • Musikgeschichte • Punk • Punkrock • Rock • Tage wie diese • Tote Hosen • Zehn kleine Jägermeister |
ISBN-10 | 3-644-02701-3 / 3644027013 |
ISBN-13 | 978-3-644-02701-5 / 9783644027015 |
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Größe: 15,4 MB
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