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Über die Natur der Dinge (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
408 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30862-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Über die Natur der Dinge -  Lukrez
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Klaus Binders Neuübersetzung der Bibel der Sinnlichkeit - Lukrez' Über die Natur der Dinge. Fast unglaublich war, was der italienische Humanist Poggio Bracciolini in einem deutschen Kloster entdeckte - kurz nachdem in Konstanz Johannes Hus als Ketzer verbrannt worden war: ein Gesang aus der Römerzeit, der in wunderbarer Poesie vom Bau der Welt erzählt und wie die Menschen darin ein glückliches Leben führen können - ohne Angst vor dem Tod und ohne falsche Furcht vor Göttern. Die nämlich - so Lukrez - sollen den Menschen getrost egal sein. Eine philosophisch fundierte Feier der Natur, des Lebens und der Liebe. Es dauerte Jahrzehnte, bis das Buch im Druck erschien, und noch Giordano Bruno, der sich auf es berief, wurde wegen Ketzerei verbrannt. Aber der Siegeszug dieses unendlich schönen, freien und unvoreingenommenen Textes war nicht mehr aufzuhalten: Bruno, Galilei, Montaigne, Shakespeare, Gassendi, die Enzyklopädisten, Sterne, Wieland, Friedrich II., Goethe, Kant und Karl Marx, Nietzsche, Albert Einstein und Camus gehörten zu den Kennern und Verehrern des Buchs.Der Übersetzer Klaus Binder bemerkte bei seiner Arbeit an Stephen Greenblatts Bestseller über Lukrez , dass keine der vorliegenden deutschen Übersetzungen für ihn Schönheit und inhaltliche Raffinesse des Lukrez'schen Gedichts zufriedenstellend wiedergibt. Also machte er sich selbst an die Arbeit und legt hier - wie einst z. B. Wolfgang Schadewaldt mit Homer - eine verständnisfördernd kommentierte, rhythmisierte Prosaübersetzung vor.

Über das Leben des Titus Lucrezius Carus (wohl um 93-99 v. Chr. bis 53-55 v. Chr.) gibt es keine verlässlichen Angaben. Sein Buch wäre der Welt fast verlorengegangen. Bis zu seinem Fund im Jahre 1417 war es über Jahrhunderte vergessen, bis heute wurden nur zwei weitere Abschriften aus dem 9. Jahrhundert gefunden.

Über das Leben des Titus Lucrezius Carus (wohl um 93–99 v. Chr. bis 53–55 v. Chr.) gibt es keine verlässlichen Angaben. Sein Buch wäre der Welt fast verlorengegangen. Bis zu seinem Fund im Jahre 1417 war es über Jahrhunderte vergessen, bis heute wurden nur zwei weitere Abschriften aus dem 9. Jahrhundert gefunden. Klaus Binder, Jahrgang 1946, einst Lektor beim Luchterhand Literaturverlag, ist seit Langem freier Übersetzer, u. a. von Ian Kershaw, Stephen Greenblatt und Neil McGregor.

WARUM LUKREZ LESEN UND WIE


von Klaus Binder

Man soll in vielen Stücken nicht denken wie Lucrez, ja man kann es nicht einmal, wenn man wollte; aber man sollte erfahren, wie man sechs bis acht Dezennien vor unserer Ära gedacht hat: als Prologus unserer christlichen Kirchengeschichte ist dieses Document höchst merkwürdig.

– Johann Wolfgang von Goethe

So kann ich davon träumen, dass ich einmal gehen lernte. Doch das hilft mir nichts. Nun kann ich gehen, gehen lernen nicht mehr.

– Walter Benjamin, »Lesekasten«

Aber es war der Ernst des Lebens, der aus ihnen [den Lesefibeln] sprach, und der Finger, der ihre Zeilen entlangfuhr, hatte die Schwelle eines Reichs überschritten, aus des Bezirk kein Wanderer wiederkehrt: er war im Bannkreis des Schwarzweißen, von Recht und Gesetz, des Unumstößlichen, des für die Ewigkeit gesetzten Wissens. Wir wissen heute, was wir von dergleichen zu halten haben.

– Walter Benjamin, »Grünende Anfangsgründe«

Wie sollen wir so ferne Texte lesen? Wie vor allem Titus Lucretius Carus’ De rerum natura? Wir: Gefangene im Bannkreis des Schwarzweißen, des Unumstößlichen? Wie lesen, im Bann einer Geschichte, niedergelegt auch als Geschichte des Denkens und der Naturbeherrschung, in der bis heute Descartes’ Bannspruch gilt, Materie sei das schlechthin Raumfüllende, res extensa? Eine tote Masse also, tauber Stoff, die von sich aus keiner Form fähig ist und nur durch eines zum Leben zu erwecken, zu Form und Erfahrung zu bringen: durch res cogitans, das Denken.

Können wir uns derart unbefangen auf das Sehen und Tasten, auf unsere Sinne, ihre offene Rezeptivität verlassen wie Lukrez, der uns in über 7400 Versen einen wahren Sinnenrausch erleben lässt? Dieser Text nimmt uns mit, und unversehens vermögen wir das Höchste, den unendlichen Raum des Himmels über uns, zu erfassen: nicht als Begriff oder Idee, als flüchtiges Bild vielmehr, gespiegelt in einer Pfütze, die kaum einen Finger hoch vom letzten Regen stehen blieb. Und plötzlich eine Tiefe gewinnt, dass sie unter uns fasst, was sich hoch über uns wölbt. Und da, erschauernd, spüren wir, wir sind mittendrin, ein Punkt nur im Unendlichen (4.414).

Ein Bild, sagen wir, misstrauisch: Sinnestäuschung und Kopfgeburt. Dichterlatein. Vielleicht haben wir wirklich zuviel Kant gelesen oder – seit wir Lesen gelernt haben – sonstwie das abendländische Denken und sein Schwarz-Weiß in uns aufgesogen, diesen Vorgang dann aber vergessen. Sodass es uns selbstverständlich, ja rational scheint, den Sinnen zu misstrauen. Hat uns nicht Kopernikus demonstriert, Galilei mit seinem Fernrohr gezeigt, dass unseren zwar rezeptiven, doch ungenügend ausgestatteten Sinnen eben nicht zu trauen ist? Irgendwann haben wir gelernt, mit dem Widerspruch zu leben zwischen unseren Sinnen und dem Wissen, in dem sich verfestigt hat, wie wir praktisch, in historisch-gesellschaftlich bestimmter Form also, umgehen mit Natur und Welt. Mögen uns, jeden Tag aufs Neue, unsere Augen zeigen, wie die Sonne aufgeht, sich über den Himmel bewegt und schließlich tiefrot hinter dem Horizont verschwindet: Unser Wissen widerspricht ihnen. Was hilft uns, fragt der Verstand, das Staunen über einen Sonnenuntergang, wenn wir zum Mond fliegen wollen? Das »Wissen« verweist auf seine Erfolge: Fliegen wir nicht zum Mond, schauen wir den Leuten nicht ins Gehirn, sind nicht die Bausteine des molekularen Lebens identifiziert, warten sie nicht darauf, dass wir sie neu zusammenzusetzen? Auf res cogitans, auf das natur- und weltbeherrschende Denken ist wohl Verlass. Und dem haben die Sinne sich zu beugen. Nur im Zügel des Verstandes, versehen mit dessen Apparaturen, gegenständlich geworden im naturwissenschaftlichen Experiment, nur so glauben wir, Kinder der abendländischen Moderne, Welt »wirklich« sehen zu können. Sinne und Sinnlichkeit sind uns in ihrer offenen Rezeptivität fremd geworden.

Wie also De rerum natura, diesen weltoffenen, sinnenfrohen Text lesen, ohne dass wir seinem Autor immer wieder in Wort und Gedankenbewegung fallen, so wie weiland Hegel, der den Vorrang des Sinnlichen im epikureischen Atomismus anstößig fand, Epikurs Denken gewissermaßen liederlich, pure Küchenpsychologie: Beim Ding, dem bloßen »Diesda« bleibe es stehen, weil ihm der die Sinne schärfende Begriff fehle. Man hätte, rät Hegel, weitergehen müssen, aber das »wäre ein Verfallen ins Begreifen gewesen, was nur das epikureische System verwirrt hätte«. Vom Katheder eines ausgefuchsten Idealismus herab wird der begrifflich unbewehrte Sensualismus dieses frühen Denkens heruntergeputzt.

Zum Glück hat Lukrez sich von dergleichen nicht schrecken lassen. Widersacher hatte auch er – der fairste war Cicero –, und auch Lukrez selbst hat ordentlich ausgeteilt. Dogmatisch oft im Sinne seines Meisters Epikur, meist ohne seine Gegner zu nennen. Niemals aber ist er derart »ins Begreifen verfallen«, dass er, was die Sinne melden, aufgelöst hätte ins Begreifen des Begreifens und daraus eine Philosophie im uns vertrauten Sinn gemacht: Erkenntnistheorie, die, gleich nach welcher Schule sie operiert, ihr System noch stets zur Voraussetzung dessen verselbständigt, überhöht hat, was wir überhaupt von Natur und Welt wissen können, womit die Sinne herabgewürdigt sind zu bloßen Zuträgern von sinnlichen Daten.

Fachphilosophen mag die Naivität des frühen Atomismus als Schwäche erscheinen, ich empfinde sie als Glück. Denn wenn sich die Suche nach der Wahrheit so sehr in sich verbohrt, dass ihr die Welt aus dem Blick gerät, ist es gut, einen Schritt zurückzutreten. Bei Lukrez ist alles Natur, auch das Denken und seine Bewegungen, die Sinne zumal, und indem wir diesen folgen, in denen Natur gleichsam sich selbst begegnet, scheint es, als befreie sich unser Blick von all den Bindungen, mit denen wir an unseren kulturellen Erzeugnissen hängen – fester als Lukrez dies für den Aberglauben seiner Zeitgenossen beobachtet hat –: am Schwarz-Weiß des Scientismus, an der Unumstößlichkeit eines Begreifens von Materie, das eben das »Greifen«, das »Berühren«, die Sinne, auslässt, der Quantifizierung und der Ordnung des Begriffs zuliebe. Wir hängen an einem Wissen, das irgendwann vergessen hat, dass zum Erkennen zweierlei gehört, Berühren und Berührt-Werden. Ein Austausch, Stoffwechsel. Lukrez entfaltet ihn in all seinen Variationen. Lukrez lesen heißt, diesen Stoffwechsel erleben. Dahin nimmt dieser Text uns mit.

Die Tür also ist nicht vollends zugeschlagen; zu unserem Glück haben wir diesen Text zur Hand, der gleichsam »auf der Schwelle« steht. Vielleicht können wir doch, um es mit Walter Benjamin zu sagen, noch einmal »Sehen« lernen, nicht nur träumend: sondern indem wir uns diesem, weil durch und durch poetischen, so überaus genauen Text überlassen, der die Dinge geradezu aufsaugt, sie zum Sprechen bringt und ihnen ihr Eigenes lässt. Berühren und Berührt-Werden, darum geht es: »Ja, Berühren weckt die Sinne des Leibes« (2.434). So geraten wir selbst auf diese Schwelle: Wenn wir den uns fremden Bewegungen dieses Textes folgen, den Bildern und Bildketten, seinen Abschweifungen und Assoziationen, den Beweisen aus Analogien. Nur eine Regel stellt Lukrez (mit Epikur) dafür auf: Es darf, was wir denken und uns vorstellen, dem nicht widersprechen, was uns die Sinne melden. Das klingt wie »Empirismus«, ist es aber nicht; im Gegenteil: Lukrez verteidigt mit seiner Regel einen Punkt, den der Empirismus zunehmend verloren hat: den Punkt, an dem wir mit unseren Sinnen und ihren Bewegungen an den Bewegungen der Natur teilhaben. Und er zeigt uns den Zugang zur Welt, der durch die Dichotomien, die unser Denken prägen und beherrschen, blockiert ist. Öffnet einen Raum möglicher Erfahrungsbewegungen, denn, mit Lukrez: »Die Dinge sind es, die einander beleuchten.« (1.1118)

Raum für Bewegungen, die zum einen zur Vorstellung des unendlich Großen führen, uns selbst da noch fühlen lassen, dass wir nicht draußen stehen, der Natur und der Welt gegenüber, sondern mit unseren Sinnen, mit unserem Sinnen und Denken, in dieser Welt, die zur zweiten (gesellschaftlichen) Natur wurde, in der sich aber doch Risse, Durchblicke auftun. Sodass wir nochmals einen gleichsam kindlichen Blick riskieren können und von dieser Reise reicher zurückkommen, »siegreich«, wie Lukrez von Epikur sagt: »So hat sich die Lage verkehrt: Niedergetreten, am Boden liegt der Aberglaube.« (1.79) Was uns betrifft, unser Aberglaube ist der Scientismus, der nun, und sei’s für diesen Augenblick, seinen Alleinherrschaftsanspruch verloren hat. Nicht Maschinensturm ist damit angesagt, der Streik gilt dem scientistischen Alleinvertretungsanspruch in Sachen Wissen und Wissen-Können, gilt den Folgen des »Techniker«, des »Beherrschungswissens« (Michel Serres). Auch der Arbeitsteilung, die sich daraus entwickelt hat: hier die Wissenschaft, dort die Poesie, das Ästhetische; hier der Verstand, da das Gefühl, etc. Lukrez’ Text lässt uns ahnen, dass wir, um es mit Wolfgang Welsch zu formulieren, keineswegs »weltfremd« sind und uns die Natur darum zurichten müssen; dass wir nicht Fremde in dieser Welt sind, sondern »Weltwesen«: in und mit dieser Welt geworden, in ihr leben, sie auch wieder verlassen.

Bewegungen zum anderen, die zum Allerkleinsten führen: zum Atom, das...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2014
Übersetzer Klaus Binder
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Antike • Antike-Gesellschaft • De rerum natura • Deutsch • Epikur • Gesellschaft • Kulturtheorie • Kultur-Theorie • Lehrgedicht • Lehr-Gedicht • Lukrez • Natur • Naturphilosophie • Natur-Philosophie • Neuübersetzung • Neu-Übersetzung • Philosophie • Physik • Prosa • Psychologie • Titus Lucretius Carus • Über die Natur der Dinge
ISBN-10 3-462-30862-9 / 3462308629
ISBN-13 978-3-462-30862-4 / 9783462308624
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