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ORFEO (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
496 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402749-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

ORFEO -  Richard Powers
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Nach ?Der Klang der Zeit? ein großer Roman über Musik, das Rätsel der Kreativität und die fragile Geborgenheit der Familie Erzählt wird die Geschichte von Peter Els, der an der Ostküste der USA Professor für Musik ist. In den wilden Siebzigern waren seine Stücke Avantgarde. Jetzt will er der DNA ihre musikalische Struktur ablauschen und mit Molekülen komponieren. Bis die Homeland Security in sein Labor stolpert und ihn verhört, denn nach dem 11. September ist jeder verdächtig. Auf einer Fahrt quer durch die USA flüchtet Els vor dem FBI, erinnert sein Leben und sucht seine Familie - ein spannendes Roadmovie voller Emotion und funkelndem Geist, unserer Gegenwart und ihren Themen immer einen Schritt voraus.

Wie kaum ein anderer ist Richard Powers der Gegenwart auf der Spur: Das Wissen unserer Zeit will er in Geschichten erfahrbar, die Verwerfungen emotional erlebbar machen. Er wurde 1957 geboren und lebt in den USA. Auf sein Romandebüt ?Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz? (1985) erschienen neun weitere Romane. Sie wurden Bestseller wie ?Der Klang der Zeit? und mehrfach preisgekrönt. 2006 erhielt er den National Book Award für ?Das Echo der Erinnerung?, es folgte ?Das größere Glück?. In der Reportage ?Das Buch Ich #9? beschreibt Richard Powers den Prozess, als neunter Mensch überhaupt sein Genom vollständig entschlüsseln zu lassen. Für seinen Roman ?Die Wurzeln des Lebens? (2018) wurde Richard Powers mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet. 2021 erschien sein Roman ?Erstaunen?, der für den Booker Prize und den National Book Award nominiert ist, Heute lebt Richard Powers in den Great Smoky Mountains der Appalachen. Literaturpreise: Pulitzer Prize 2019 für »Die Wurzeln des Lebens« National Book Award 2006 für »Das Echo der Erinnerung«

Wie kaum ein anderer ist Richard Powers der Gegenwart auf der Spur: Das Wissen unserer Zeit will er in Geschichten erfahrbar, die Verwerfungen emotional erlebbar machen. Er wurde 1957 geboren und lebt in den USA. Auf sein Romandebüt ›Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz‹ (1985) erschienen neun weitere Romane. Sie wurden Bestseller wie ›Der Klang der Zeit‹ und mehrfach preisgekrönt. 2006 erhielt er den National Book Award für ›Das Echo der Erinnerung‹, es folgte ›Das größere Glück‹. In der Reportage ›Das Buch Ich #9‹ beschreibt Richard Powers den Prozess, als neunter Mensch überhaupt sein Genom vollständig entschlüsseln zu lassen. Für seinen Roman ›Die Wurzeln des Lebens‹ (2018) wurde Richard Powers mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet. 2021 erschien sein Roman ‹Erstaunen‹, der für den Booker Prize und den National Book Award nominiert ist, Heute lebt Richard Powers in den Great Smoky Mountains der Appalachen. Literaturpreise: Pulitzer Prize 2019 für »Die Wurzeln des Lebens« National Book Award 2006 für »Das Echo der Erinnerung« Manfred Allié, geboren 1955 in Marburg, übersetzt seit über dreißig Jahren Literatur. 2006 wurde er mit dem Helmut-M.-Braem-Preis ausgezeichnet. Neben Werken von Jane Austen, Joseph Conrad und Patrick Leigh Fermor übertrug er unter anderem Romane von Yann Martel, Richard Powers, Joseph O'Connor, Reif Larsen und Patricia Highsmith ins Deutsche. Er lebt in der Eifel.

Mit seinem neuen Roman ›Orfeo‹ gelingt ihm jetzt nicht nur der kluge Umgang mit dem wissenschaftlichen Gegenstand, sondern auch die lebendige Schilderung eines charismatischen Protagonisten.

Wo andere zeitgenössische Autoren Brechungen durch Ironie oder Experimente mit der Erzählhaltung erproben, hat Richard Powers keine Scheu vor ungebrochener Eindringlichkeit.

Der Zauber dieses Buches ist Powers' Hingabe an den Klang, man hört beim Lesen immer atemloser zu.

zieht in ›Orfeo‹ seinerseits alle Register, die ihm zur Verfügung stehen. Das inspirierende Ergebnis halten wir in Händen.

Mit Einsprengseln von herrlicher Ironie wird in diesem Roman eine Avantgarde-Debatte geführt sowie eine über die Wirkmacht – oder doch die Machtlosigkeit? – von Kunst.

Man weiss immer einiges mehr nach der Lektüre dieser intelligenten und umfassend recherchierten Werke

verknüpft Musik und Gentechnik in furioser Weise miteinander.[…] Ein humorvoller Grundton zeichnet das Buch aus. […] Powers legt einen außergewöhnlichen Künstlerroman vor.

Mit Schwung entwirft der US-Amerikaner locker gefügte Bögen von der Naturwissenschaft zur Musik, vom Alter des Ich-Erzählers zu seiner Jugend, von Kreativität zu Terror.

Sei dankbar für alles, was noch weh tut. Dissonanz ist eine Schönheit, die bisher nicht von Vertrautheit zerstört ist.

Els stand im korallenroten Foyer des Schattigen Hains vor dem geschwungenen Empfangstisch. Sein Puls ging presto, und er fühlte sich so flüchtig wie ein Fahndungsfoto auf Beinen, wie jemand mit einem Gurt aus gelbem Absperrband schräg über der Brust. Aber die Rezeptionistin begrüßte ihn wie einen alten Freund.

Er eilte durch den Empfangsbereich und krampfte sich jedes Mal zusammen, wenn einer der markenzeichengeschmückten Angestellten vorüberkam. Eine Frau mit der Silhouette des Buchstabens f, der sich gegen starken Gegenwind stemmt, schnitt seinen Bug. Eine andere hüpfte neben ihm her, mit einer kleinen Sauerstoffflasche in einer gehäkelten Schlinge um die Schulter. Der Ort hatte etwas von einem Ensor’schen Karneval, und Els war nur ein weiterer Mime in diesem monströsen Umzug. Fleisch, locker geworden von Schwerkraft, krampfadrige Glieder im Ringen mit Aluminium-Gehwagen und Schottendecken, Altersfleckenkontinente, die auf Ozeanen bleicher Gesichter schwammen, Lächeln, das löffelbreite Zahnlücken entblößte, zu Sehnen verdorrte Hälse, die aus farbenfrohen Polokragen lugten, Köpfe von knochigen Kuppeln gekrönt: und alle so gebannt vom Alter wie ein Kind, das zum ersten Mal Schneeflocken sieht.

Els’ Zuhörer warteten auf ihn im großen Versammlungsraum. Zwei saßen in Ohrensesseln an dem unechten Kamin, testeten ihr Gedächtnis mit einem Satz Flashcards berühmter Gemälde und fluchten dabei wie sizilianische Schauerleute. Sechs weitere saßen auf Sofas beiderseits des nierenförmigen Couchtischs, tief in ein Streitgespräch darüber verstrickt, ob Bäume die Umwelt verschmutzten. Sie steckten in bunten Trainingsanzügen und Imitaten von Markenturnschuhen – Sporttag auf einem gestrandeten Ozeandampfer. Sie selbst nannten sich die Q-Tips. Weiß an beiden Enden, in der Mitte ein Stock.

Alle lebten auf, als Els eintrat. Sie sind spät dran, sagte jemand. Die Kultur wartet. Ein anderer sagte: Und welche Katastrophe haben Sie uns diesmal zum Hören mitgebracht?

Schwer atmend lehnte Els sich an die Wackersteinwand. In dem überheizten Raum stank es nach Handdesinfektionsmittel mit Blumenaroma. Triclosan: Bakterienkiller in hundert Konsumartikeln, vermutlich krebserregend, Brutmittel für Superbakterien. Aber das Laboratorium machte keiner zu.

Was ist mit Ihnen passiert?, fragte Lisa Keane.

Els zuckte mit den Schultern, immer noch in Arbeitshosen und Piquéhemd. Sie hatten ihn nie legerer als in oxfordblauem Button-Down gesehen. Bitte um Verzeihung. Mein Vormittag war ein wenig … avantgardistisch.

Sie taten seine Entschuldigungen ab. Offenbar hatte niemand etwas gehört. Auf dem Flachbildfernseher hinter den Sofas steckte ein berühmter Ideologe, Ehebrecher und Steuerhinterzieher, der unter seinem Namen landesweit Markenartikel verkaufte, zur Unterhaltung von dreißig Millionen Menschen Nadeln in die Leistengegend einer Voodoopuppe des Präsidenten. Die nächsten Lokalnachrichten kamen um zwölf. Bis dahin hatte Els Zeit.

Könnten wir …? Els machte eine Handbewegung in Richtung Bildschirm und drehte einen imaginären Knopf, obwohl es in der nördlichen Hemisphäre schon seit Jahren keine Fernsehgeräte mit Drehknöpfen mehr gab. William Bock, technischer Keramiker im Ruhestand, sprang von dem Zweiersofa auf und schaltete das Gerät ab.

Els schaute zu dem großen Fenster hinaus auf ein Grüppchen Kiefern. Deutlich hatte er das Gefühl, er sei in einen jener allegorischen Romane aus Mitteleuropa geraten, die Clara ihm seinerzeit immer ans Herz gelegt hatte. Diese Bücher hatten ihn jedes Mal mit einer beklommenen Hoffnung erfüllt, einem Gefühl irgendwo zwischen Sich-Verlieben und Im-Sterben-Liegen. Er sah sich in dem Raum um, betrachtete seine Genossen in der Gebrechlichkeit auf ihrer späten Suche nach kulturellen Grabbeigaben. Ein wenig Erleichterung kurz vor der Ziellinie, Entspannung vom endlosen Entertainment der Gegenwart.

Es war ein schrecklicher Morgen. Ich habe mich zu Hause ausgeschlossen. Und meine Notizen sind, fürchte ich, im Haus. Können wir es an einem anderen Tag machen?

Wellen der Enttäuschung liefen durch den Raum. Violinen piccolo und pizzicato.

Sie wollen uns nicht mehr?

Sich ausgeschlossen? Da wird es Zeit, dass Sie ein Zimmer bei uns buchen.

Wir sind alle da, sagte Lisa Keane. Lassen Sie uns wenigstens die Musik hören. Den Vortrag brauchen wir nicht unbedingt.

Sie brauchten auch die Musik nicht unbedingt. Doch das Muster war so alt wie der Tod. Eine plötzliche Wendung in dem alternden Leib auf der Zielgeraden, das Bedürfnis nach einem ernsthafteren Klang. Els kannte es aus jedem Klassikkonzert, in dem er je gewesen war: Jeder einzelne im Publikum war alt. Auditorien eine See mit Schaumkronen. Jahrelang hatte er geglaubt, diese Unheilbaren seien die Überlebenden aus einer anderen Zeit, Kinder jenes hoffnungslosen Ideals der frühen Radiozeit, der kulturellen Erziehung. Doch die Jahre vergingen, die Alten starben und neue Alte traten an ihre Stelle. War es eine Veränderung in dem verlöschenden Verstand, ein neues Metrum, das diesen Geist nach etwas anderem suchen ließ als dem Dreiminutensong? Glaubten die alten Leute, Klassik sei der Schlüssel zum Trost auf dem Sterbebett, zu einem Pardon in der elften Stunde?

Das tut mir leid, sagte er, aber ich habe keine einzige Scheibe mit. Der Stapel liegt in meinem Wohnzimmer, oben auf dem Vortragsmanuskript.

Klaudia Kohlmann, die pensionierte Krankenhaustherapeutin, die Els zu diesen Auftritten überredet hatte, hievte sich aus ihrem dicken Polstersessel, kam zu ihm hin und holte ein schwarzes Täfelchen aus ihrer Inka-Schultertasche. Sie hielt diese Waffe wie einen Phaser, mit dem sie ihn annihilieren wollte. Er nahm das Kästchen und erweckte es mit einem Antippen zum Leben, unter den Augen der acht Leute, die gekommen waren, um die nächste Episode der Abenteuer einer unablässig sterbenden Kunst zu hören.

Els starrte das kleine schwarze Rechteck an. Wie der Zünder in einem Actionfilm besaß es nur einen einzigen Knopf. Er drückte ihn, und auf dem Bildschirm erschien eine weiß gewandete Gestalt in einem kleinen Ruderboot vor dem Hintergrund eines Felshangs mit Zypressen.

Er berührte dieses Wunderding noch einmal. Alle Musik, die je aufgenommen worden war – tausend Jahre Musik –, ruhte in seiner Hand. Els sah sie an, diese Schläferzelle geriatrischer Gelehrsamkeit, die auf das versprochene Bonbon wartete. Er überlegte, ob er ihnen sagen sollte, dass die Joint Security Task Force hinter ihm her war und er jetzt dringend wegmusste. Er blickte wieder auf das Kästchen und tippte den Schirm an. Zwei weitere Menüs huschten vorüber, dann kamen ein geduldiges Eingabefeld und eine winzige Tastatur.

Els glaubte zwar schon lange nicht mehr an eine historische Kontinuität, aber er hatte der Gruppe die größeren Meilensteine des vergangenen Jahrhunderts in mehr oder weniger chronologischer Reihenfolge vorgestellt. Er hatte sie von Debussy zu Mahler geführt, von Mahler zu Schönberg, hatte ihnen gezeigt, wo im Kind immer noch die Anlagen des Vaters steckten. Er hatte ihnen den Aufruhr bei der Uraufführung des Sacre du printemps beschrieben. Er hatte ihnen den Pierrot lunaire vorgespielt, dieses Flüstern am Rande des mondbeglänzten Abgrunds. Er hatte sie mit in die Gräben des Weltkriegs genommen, in rasendem Tempo war es durch die beschwingten Zwanziger und Dreißiger gegangen, er hatte ihnen Futurismus und freie Dissonanzen gezeigt, Ives und Varèse, Polytonalität und Klangcluster und die vereinzelten Versuche, zu einer Ausgangsnote zurückzufinden, die für alle Zeit weggebombt war. Und doch war der harte Kern seiner Zuhörer jede Woche wieder da und wollte mehr.

Die Gruppe folgte seinem Bericht, als sei es eine alte Fortsetzungsgeschichte im Radio – The Perils of Pauline –, ein Wettrennen zwischen Triumph und Katastrophe, das jedes Mal spannend bis zur letzten Minute blieb. Und immer wieder merkte Els, dass er im Laufe der Sitzung schummelte. Er suchte aus dem Beweismaterial immer nur die guten Sachen aus, genau wie die Leute von der NASA, als sie ihre goldene Scheibe auf die Reise Milliarden von Lichtjahren durch das Weltall schickten und bei den Nachbarn einen guten Eindruck machen wollten.

Auf diese Weise war er mit seinen acht Schülern jetzt in seinem eigenen Geburtsjahr angelangt. Und heute hatte er ihnen ein Stück vorstellen wollen, das bewies, dass eine Katastrophe unter Umständen ein größerer Glücksfall sein konnte, als je jemand gedacht hätte.

Kohlmann reichte ihm ein Kabel zur Lautsprecheranlage des Raums.

Komm. Lass uns nicht hängen.

Els tippte, auf Englisch, in das Suchfenster: F-O-R.

Eine Drop-Down-Liste sprang immer schon vor, bevor er den nächsten Buchstaben eingab, wollte seine Wünsche voraussagen. Ganz oben auf der Liste standen die Hauptverdächtigen: Howlin’ for You. Three Cheers for Sweet Revenge. For All We Know. Ganz unten auf der Liste: bei dieser Liste gab es kein Unten.

Er fügte drei weitere Buchstaben hinzu: T-H-E. Auch die Liste mit der engeren Auswahl war immer noch unendlich. Ain’t No Rest for the Wicked. Sing for the Moment. For the First Time.

Els tippte weiter: E-N-D. Die planetengroße Auswahl verengte sich nun auf einige Dutzend Kandidaten. For the End. Waiting for the...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2014
Übersetzer Manfred Allié
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte DNA • Familie • Flucht • Homeland Security • Komposition • Kreativität • Moleküle • Musik • Peter Els • Roadmovie • Roman
ISBN-10 3-10-402749-8 / 3104027498
ISBN-13 978-3-10-402749-4 / 9783104027494
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