Ilium (eBook)
880 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-14925-3 (ISBN)
Thomas Hockenberry, ehemaliger Professor für Philosophie, wird nach seinem Tod auserwählt, im Auftrag der Muse Kalliope als Kriegsberichterstatter in Ilium tätig zu werden. Als sogenannter Scholiker mit raffinierten High-Tech-Geräten ausgestattet, die es ihm ermöglichen, mitten im Kampfgetümmel zu erscheinen und in Sekundenbruchteilen wieder zu verschwinden, soll er der Muse Zeugnis geben von den Wechselfällen des Trojanischen Krieges. Hockenberry kennt Homers 'Ilias' genau und merkt bald, dass sich zwischen dem, was er sieht, und den Versen Homers beträchtliche Diskrepanzen auftun. Hat sich der berühmte griechische Epiker in sträflicher Weise dichterische Freiheiten erlaubt? Oder befindet er, Hockenberry, sich etwa im falschen Krieg?
Mit »Ilium« und dem Nachfolgeband »Olympos« legt Dan Simmons eines der größten Zukunftsepen des beginnenden 21. Jahrhunderts vor.
Dan Simmons wurde 1948 in Illinois geboren. Nach dem Studium arbeitete er einige Jahre als Englischlehrer, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Simmons ist heute einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart. Seine Romane »Terror«, »Die Hyperion-Gesänge« und »Endymion« wurden zu internationalen Bestsellern, die Verfilmung von »Terror« ist eine der erfolgreichsten TV-Serien unserer Zeit. Der Autor lebt mit seiner Familie in Colorado.
2
Ardis Hills, Ardis Hall
Daeman materialisierte in dem Faxportal in der Nähe von Adas Haus und blinzelte benommen in die rote Sonne am Horizont. Der Himmel war wolkenlos, und das untergehende Tagesgestirn brannte zwischen den hohen Bäumen auf der Kammlinie und brachte den P-Ring und den Ä-Ring, die sich am kobaltblauen Himmel drehten, zum Leuchten. Daeman war desorientiert, weil es hier Abend war; dabei war er erst vor ein paar Sekunden von Tobis Zweiter-Zwanziger-Party in Ulanbat weggefaxt, wo es früher Vormittag war. Sein letzter Besuch bei Ada lag Jahre zurück, und außer bei jenen Freunden, die er sehr regelmäßig besuchte – Sedman in Paris, Ono in Bellinbad, Risir in ihrem Haus auf den Klippen von Chom sowie ein paar andere –, wusste er nie, auf welchem Kontinent oder in welcher Zeitzone er sich wieder finden würde. Aber er kannte die Namen und die Lage der Kontinente ohnehin nicht, geschweige denn die Konzepte geografischer oder chronometrischer Zonen, sodass ihm seine Unwissenheit nichts ausmachte.
Es war trotzdem verwirrend. Er hatte einen Tag verloren. Oder gewonnen? Jedenfalls roch die Luft hier anders – feuchter, würziger, wilder.
Daeman schaute sich um. Er stand in der Mitte eines ganz normalen Faxknoten-Feldes – der übliche Kreis aus Permbeton und eleganten Eisenpfosten mit einer gelben Glaspergola darüber, und am Pfosten in der Nähe des Kreismittelpunkts befand sich das unvermeidliche kodierte Zeichen, das er nicht lesen konnte. In dem Tal war kein anderes Bauwerk zu sehen, nur Gras, Bäume, ein Fluss in der Ferne und die langsame Drehung der beiden Ringe, die wie die Räder eines riesigen, langsamen Gyroskops über ihn wegzogen.
Es war ein warmer Abend, feuchter als in Ulanbat, und das Faxpad lag mitten auf einer grünen Wiese, die von niedrigen Hügeln umgeben war. Sechs Meter von dem kreisrunden Feld entfernt stand eine uralte einrädrige, offene Zweierkarriole; ein ebenso alter Servitor schwebte über der Fahrernische, und ein einzelner Voynix stand zwischen den hölzernen Deichseln. Es war über zehn Jahre her, dass Daeman Ardis Hall besucht hatte, aber jetzt fiel ihm wieder ein, wie primitiv und unbequem die ganze Sache gewesen war. Absurd, sein Haus nicht auf einem Faxknoten zu haben.
»Daeman Uhr?«, erkundigte sich der Servitor, obwohl er offensichtlich wusste, wen er vor sich hatte.
Daeman grunzte und hielt ihm seine ramponierte Reisetasche hin. Der winzige Servitor schwebte näher heran, nahm das Gepäck mit seinen gepolsterten Greifern und lud es in den Segeltuchkasten der Karriole, während Daeman einstieg. »Warten wir noch auf jemanden?«
»Sie sind der letzte Gast«, antwortete der Servitor. Er schwebte summend in seine halbkugelförmige Nische und schnalzte einen Befehl; der Voynix packte die Deichseln der Karriole und setzte sich in Bewegung, auf die untergehende Sonne zu. Seine rostigen Peds und das Rad der Karriole wirbelten auf der Schotterstraße nur sehr wenig Staub auf. Daeman ließ sich in das grüne Leder sinken, stützte beide Hände auf seinen Spazierstock und genoss die Fahrt.
Er war nicht gekommen, um Ada zu besuchen, sondern um sie zu verführen. Das war Daemans Lieblingsbeschäftigung – junge Frauen verführen. Und Schmetterlinge sammeln. Dass Adas Erster Zwanziger noch nicht lange zurücklag und Daeman bereits auf seinen Zweiten Zwanziger zuging, war ihm gleichgültig, ebenso wie die Tatsache, dass Ada seine Cousine ersten Grades war. Inzesttabus waren schon vor langer Zeit zerbröckelt. »Genetische Drift« war Daeman kein Begriff, aber selbst wenn, hätte er darauf vertraut, dass die Klinik die Sache schon wieder in Ordnung bringen würde. Die Klinik brachte alles wieder in Ordnung.
Daeman hatte Ardis Hill vor zehn Jahren als Adas Cousin besucht – und aus lauter Langeweile versucht, ihre Cousine Virginia zu verführen, die so attraktiv war wie ein Voynix. Damals hatte er Ada zum ersten Mal nackt gesehen. Auf der Suche nach dem Frühstückswintergarten war er einen der endlosen Korridore von Ardis Hall entlanggegangen und dabei am Zimmer des Mädchens vorbeigekommen; die Tür hatte einen Spaltbreit offen gestanden, und in einem hohen, verzogenen Spiegel war Ada zu sehen gewesen, die mit leicht gelangweilter Miene splitterfasernackt an einem Waschbecken stand und sich mit einem Schwamm wusch – Ada war vieles, aber bestimmt nicht übermäßig sauber, wie Daeman festgestellt hatte –, und ihr Spiegelbild, diese junge Frau, die gerade dem Kokon des Kindesalters entschlüpfte, hatte ihn innehalten lassen, diesen erwachsenen Mann, der zu jener Zeit nur ein wenig älter gewesen war als Ada jetzt.
Selbst damals, als ihren Hüften, Oberschenkeln und Brüsten mit den winzigen Brustwarzen noch ein Hauch Babyspeck angehaftet hatte, war Ada ein Anblick gewesen, für den sich das Stehenbleiben lohnte. Mit ihrer blassen Haut, die immer von einem weichen, pergamentenen Weiß war, ganz gleich, wie lange sie sich im Freien aufhielt, ihren grauen Augen, himbeerroten Lippen und pechschwarzem Haar war sie der Traum eines Amateurerotikers. Zu jener Zeit war es Mode gewesen, dass Frauen sich die Achselhöhlen rasierten, aber die junge Ada hatte dem nicht mehr Beachtung geschenkt als den meisten anderen kulturellen Usancen (und Daeman hoffte aufrichtig, dass ihr erwachsenes Gegenstück es ebenso wenig tat). Eingefroren in dem hohen Spiegel damals (und jetzt aufgespießt und ausgestellt im Schaukasten von Daemans Gedächtnis) waren jener noch mädchenhafte, aber bereits sinnliche Körper, die schweren, bleichen Brüste, die sahnige Haut, die wachen Augen, all jene Blässe, die von den vier Tupfern schwarzen Haares durchsetzt war – das wellige Fragezeichen ihres Schopfes, den sie immer achtlos hochgesteckt trug, außer wenn sie spielte (wie meistens), die beiden Kommata in ihren Achselhöhlen und das perfekte, noch nicht zu einem Delta gereifte schwarze Ausrufezeichen, das zu den Schatten zwischen ihren Schenkeln führte.
Daeman lächelte in seiner Karriole. Er hatte keine Ahnung, weshalb Ada ihn nach all den Jahren zu dieser Geburtstagsfeier eingeladen hatte – oder wessen Zwanziger sie feierten –, aber er war davon überzeugt, dass es ihm gelingen würde, die junge Frau zu verführen, bevor er wieder in seine wirkliche Welt der Partys, der ausgedehnten Besuche und der beiläufigen Affären mit weltlicheren Frauen zurückfaxte.
Der Voynix trabte mühelos dahin und zog die Karriole hinter sich her. Nur das Zischen des Schotters unter seinen Peds und das leise Summen uralter Gyroskope in der Karosserie der Kutsche waren zu hören. Schatten krochen über das Tal, aber die schmale Straße führte aufwärts über einen Kamm, erhaschte das letzte bisschen Sonne – die vom nächsten Kamm im Westen halbiert wurde – und führte dann in ein breiteres Tal hinunter, wo sich zu beiden Seiten von einer niedrigen Frucht bewachsene Felder ausdehnten. Die Pflegeservitoren schossen über den Feldern hin und her wie ein Haufen levitierender Krocketbälle, dachte Daeman.
Die Straße bog nach Süden ab – von Daeman aus gesehen nach links –, überquerte in Gestalt einer überdachten Holzbrücke einen Fluss, wand sich dann im Zickzack einen steilen Hang hinauf und führte in einen älteren Wald. Daeman erinnerte sich undeutlich daran, dass er in diesem uralten Wald vor zehn Jahren – in den späteren Stunden jenes Tages, an dem er die junge Ada nackt im Spiegel gesehen hatte – auf Schmetterlingsjagd gegangen war. Er erinnerte sich an seine Erregung, als er bei einem Wasserfall ein seltenes Exemplar eines Trauermantels gefangen hatte, und die Erinnerung vermischte sich mit der Erregung beim Anblick der blassen Haut und dem schwarzen Haar des Mädchens. Er erinnerte sich jetzt an den Blick, den ihm Adas Spiegelbild zugeworfen hatte – desinteressiert, weder erfreut noch zornig, schamlos, aber nicht unverschämt, beinahe kühl analysierend –, als ihr blasses Gesicht beim Waschen aufgeblickt und den auf dem Gang draußen vor Lust erstarrten, siebenundzwanzigjährigen Daeman ganz ähnlich angesehen hatte wie Daeman selbst seinen gefangenen Trauermantel.
Die Karriole näherte sich Ardis Hall. Es war dunkel unter den alten Eichen, Ulmen und Eschen auf den letzten Metern zur Kuppe des Hügels, aber an der Straße waren gelbe Laternen aufgestellt worden, und im Wald funkelten Reihen farbiger Laternen, die vielleicht Spazierwege markierten.
Der Voynix trabte aus dem Wald, und ein vom Abendlicht erfüllter Anblick tat sich auf: Ardis Hall, leuchtend auf seiner Hügelkuppe; weiße Schotterwege und Straßen, die sich in alle Richtungen schlängelten; die ausgedehnte Rasenfläche, die vor dem Herrenhaus fast einen halben Kilometer weit sanft abfiel, bis ein weiterer Wald dem Grün den Weg versperrte; der glänzende Fluss dahinter, der noch das sterbende Licht im Himmel spiegelte; und durch eine Lücke in den südwestlichen Hügeln der flüchtige Blick auf weitere bewaldete Hügel – schwarz, lichtlos –, und dann noch mehr Hügel dahinter, bis die schwarzen Kämme mit schwarzen Wolken am Horizont verschmolzen.
Daeman fröstelte. Erst jetzt fiel es ihm wieder ein: Adas Haus lag in der Nähe der Dinosaurierwälder auf diesem Kontinent, wie immer er heißen mochte. Er erinnerte sich, dass er bei seinem letzten Besuch schreckliche Angst gehabt hatte, obwohl Virginia und Vanessa und alle anderen ihn beruhigt hatten, dass es im Umkreis von achthundert Kilometern keine gefährlichen Dinosaurier gebe – alle anderen, hieß das, außer der fünfzehnjährigen Ada, die ihn nur mit jener berechnenden, leicht amüsierten Miene angesehen hatte, die sie, wie er bald erfahren sollte, üblicherweise zur Schau trug. Damals hatten...
Erscheint lt. Verlag | 16.7.2014 |
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Mitarbeit |
Mitglied der Redaktion: Wolfgang Jeschke |
Übersetzer | Peter Robert |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Ilium |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Alternative Geschichte • Antike • diezukunft.de • eBooks • Paradoxien • Troja • Zeitreisen |
ISBN-10 | 3-641-14925-8 / 3641149258 |
ISBN-13 | 978-3-641-14925-3 / 9783641149253 |
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