Großer Süden (eBook)
236 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-66814-2 (ISBN)
In ihrem poetischen Reisebericht schildern Érik Orsenna und Isabelle Autissier ihre einsame Fahrt in die Antarktis, das Reich extremer Gefahren und außerordentlicher Schönheiten. Ihre Fahrt ist zugleich eine Reise durch die Naturgeschichte des weißen Kontinents und eine Begegnung mit den Menschen der Vergangenheit, die die Antarktis entdeckt, erobert und erschlossen haben.
Im Januar 2006 macht sich Érik Orsenna zusammen mit der weltberühmten Seglerin Isabelle Autissier auf den Weg in den Großen Süden - auf einem Segelboot. Sie verzichten auf Sicherheit und Bequemlichkeit und lernen die Angst kennen, wenn sie auf rettende Winde warten, gegen eisige Stürme ankämpfen oder von Eisbergen umgeben sind, die ihr kleines Schiff mühelos zermalmen können. Was sie gewinnen, sind die Einsamkeit und der Blick der großen Entdecker, deren Spuren sie verfolgen und deren Geschichten sie erzählen. Der Friede, den sie finden, ist auch ein politischer, denn das Land am Südpol gehört niemandem und ist allein dem Frieden und der Forschung gewidmet. So besuchen die Reisenden auch Forscher aus den verschiedensten Ländern und lernen ihre einzigartigen Untersuchungen über das Leben auf unserem Planeten, seine Bedingungen und seine Gefährdungen kennen. Gleichzeitig erzählen Orsenna und Autissier hier die Biographie des weißen Kontinents: wie er entstand, wie das einst üppige Leben von ihm verschwand, auf welch erstaunliche Weisen sich Tiere und Pflanzen den extremen Bedingungen anpaßten, wie die Antarktis den übrigen Planeten am Leben erhält â?' und wodurch sie bedroht ist. Sie berichten von der Ausbeutung des Kontinents in der Vergangenheit und den Bemühungen um seine Rettung in der Gegenwart. So verbindet ihr Buch politische Wachheit mit dem Sinn für die fremdartige Schönheit des Kontinents.
Érik Orsenna, geb. 1947, ist Schriftsteller, Mitglied der Académie Française und Direktor des Centre international de la mer. Für L'Exposition coloniale wurde er 1988 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, für Weiße Plantagen erhielt er 2007 die Corine. Isabelle Autissier, geb. 1956, ist Seglerin und hat als erste Frau in einer Regatta die Welt alleine umsegelt. Sie hat zahlreiche Preise gewonnen und neue Rekorde aufgestellt. Nach einem beinahe tödlichen Unglück im Südpazifik hat sie 1999 ihre Karriere als Einhandseglerin beendet, nimmt jedoch weiterhin an Regatten auf dem gesamten Globus teil.
Érik Orsenna, geb. 1947, ist Schriftsteller, Mitglied der Académie Française und Direktor des Centre international de la mer. Für L’Exposition coloniale wurde er 1988 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, für Weiße Plantagen erhielt er 2007 die Corine. Isabelle Autissier, geb. 1956, ist Seglerin und hat als erste Frau in einer Regatta die Welt alleine umsegelt. Sie hat zahlreiche Preise gewonnen und neue Rekorde aufgestellt. Nach einem beinahe tödlichen Unglück im Südpazifik hat sie 1999 ihre Karriere als Einhandseglerin beendet, nimmt jedoch weiterhin an Regatten auf dem gesamten Globus teil.
II.
Ushuaia
Angesichts seiner gewaltigen Ausdehnung (mit 2.770.000 Quadratkilometern ist es mehr als fünfmal so groß wie Frankreich) könnte man glauben, Argentinien habe genügend Fläche.
Irrtum. Es will noch größer werden. Davon zeugen die Denkmäler, die die Straße zum Yachtclub säumen.
Rechts wird mit salbungsvollen Worten die argentinische Polizei geehrt. Der Urheber des Kunstwerks, ein gewisser Carlos A. Ansaldo, legte Wert darauf, seine edlen Absichten auf einer Stele zu erläutern: Die Bögen aus Stahlbeton symbolisieren den Fluss der vaterländischen Energie. Sie sind nach Südwesten ausgerichtet, genauer gesagt, auf den «Grenzpunkt 26», der die Grenze zu Chile markiert, «den äußersten Punkt unseres Landes, über den wir die uneingeschränkte Souveränität wahren». Die Büste eines Generals, offensichtlich ein ruhmreicher Polizist, verbürgt diese Allegorie. Kleine, mit Lupinen bepflanzte Schalen verklären die Szene zum bukolischen Idyll.
Auf der anderen Straßenseite wollte die Stadt das «Heldenepos der Malwinen» würdigen. 1982 überfiel Argentinien den Archipel der Falkland-Inseln, den es seit langem für sich beansprucht. Die Engländer eroberten ihren Besitz zurück. Über tausend Besatzer starben. Damit die Ereignisse nicht in Vergessenheit gerieten, wurde eine große, mit vielen Löchern versehene Mauer errichtet: Die Löcher haben die Form der Falkland-Inseln, des fernen Kriegsziels. «Volveremos», «Wir kommen wieder», verkünden die programmatischen Verse, die jeder unter den Löchern lesen kann. Noch weiter unten sind die Namen der gefallenen Kriegshelden eingraviert.
*
In Ushuaia hat der Segler die Wahl zwischen zwei Clubs: dem Nautico und dem Afasyn. Der erste hat mit der Nautik nur den Namen gemein. Seine vornehmliche Aufgabe liegt in der Verpflegung und in der Musik. Kurz, der Nautico ist zum Restaurant und Nachtclub geworden. Tagsüber riecht es nach Essen, nachts wird gefeiert, dass man kein Auge zubringt. Über einem roten Sockel erhebt sich die Büste von Vito Dumas (1900–1965), dem großartigen Segler, der betrübt auf diesen Niedergang blickt. Der Ponton ist nicht mehr als ein schwankender, notdürftig ausgebesserter Steg, auf dem man sich nur durch ein Wunder fortbewegt. Wie bei einer Furt von Stein zu Stein springt man von der einen fauligen Planke auf die nächste, die sich zu sehr durchbiegt, um Vertrauen zu erwecken. Um hier festzumachen, braucht es schon die Treue und Kühnheit eines Alain Caradec, des legendären Skippers des Südpolarmeers. Die Boote, die hier liegen, sind schwimmende Wracks, und manchmal tauchen noch wie aus einer langen Nacht Leute aus ihnen auf, die von einer unendlichen, jeder Vernunft spottenden Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft sind.
Der konkurrierende Club heißt Afasyn. Schon die Bedeutung dieser Initialen macht neugierig: Asociación Fueguina de Actividades Subacuáticas y Náuticas, also Feuerländischer Verein für Unterwassersport und Schifffahrt. Neben den verstaubten Reliquien, die üblicherweise an solchen Orten anzutreffen sind (altertümliche, riesige hölzerne Seilscheiben, die Flagge eines spanischen Handelsschiffs, eine offene Vitrine, in der nur Trophäen verblieben sind, die niemand mit nach Hause nehmen wollte: beispielsweise ein Schiffsspiegel aus silbern glänzendem Metall, der die Teilnahme des Afasyn-Yachtclubs an der «20. nordpatagonischen Segelmeisterschaft» bezeugt), können hier alle, die Freude an Erfindungen haben, ein seltenes Stück bewundern. Es handelt sich um ein Münztelefon. Auf den ersten Blick sieht es ganz gewöhnlich aus, doch bei näherer Betrachtung stellt man fest, dass es sowohl von drinnen wie von draußen zu benutzen ist. Der Apparat steht auf einem Brett, das durch die Wand durchgeht und sich drehen lässt.
Natürlich ist dieses Wundertelefon kein ausreichender Grund, warum hier so viele Segler aus der ganzen Welt zusammenkommen. Der Afasyn bietet alles, was man für eine große Fahrt braucht: eine kleine Werft, fähige Handwerker, drei Duschen, eine davon mit Warmwasser … und einen soliden Ponton. Hier bereitet man die Abfahrt vor. Hier wartet man auf das Fenster.
An der Frage des Fensters teilt sich im Grunde genommen die Menschheit. Der eine Teil hat mit dem anderen nichts zu tun.
Die zahllosen Touristen zum Beispiel, die sich auf der anderen Seite der Bucht ohne Unterlass am Kai ablösen, scheren sich überhaupt nicht um das berühmte Fenster. Planmäßig läuft am vorgesehenen Tag ihr Passagierschiff ein. Zur angekündigten Stunde öffnen sich seine Türen, und Hunderte strömen an Bord. Dann legt das große Schiff zu seiner zeitlich genau bemessenen Rundfahrt ab.
Die Gäste des Afasyn sind nicht so gleichgültig. Ihre Schiffe sind klein, und sie segeln – zwei Gründe, warum sie lange in den Himmel blicken, das heißt den Bildschirm des Computers befragen, bevor sie die Leinen kappen.
«Und was ist das für ein Fenster, auf das man so sehr hofft und dem man mit so viel technischem Aufwand nachjagt?»
«Es sind die zwei oder drei ruhigen Tage im Kreislauf der Tiefs.»
*
Auf einem Hügel über dem Yachtclub amüsiert sich eine Reisende aus vergangenen Tagen im Stillen über unsere Vorbereitungen. Sie heißt Stango 22 und ist eine Douglas DC-3. Durch eine Tafel erfahren wir, dass die Maschine zwischen 1941 und 1979 bei Wind und Wetter, sommers wie winters, insgesamt vierzigtausend Flugstunden absolviert hat. Nach ihrer Ausmusterung ehrten ihre früheren Piloten sie mit einem Platz im Aeroclub, von dem aus man einen unvergleichlichen Blick auf den Beagle-Kanal und die umliegenden Berge hat, die sie so häufig überfliegen musste. Sonntags kehren die Getreuen zu ihr zurück, um die Flügel neu zu streichen und den Rost abzukratzen, der an den beiden Doppelsternmotoren nagt. Zum Dank erzählt ihnen die DC-3 bestimmt sagenhafte Geschichten von den heroischen Anfängen der patagonischen Luftfahrt: Trotz Saint-Exupéry und seinen Kollegen hat die französische Luftfrachtgesellschaft kein Monopol auf Großtaten in der Luft – die argentinische Luftfahrt stand ihr in nichts nach. Immer waren die Landebahnen zu kurz, und aufgrund der tausendfach beschriebenen geografischen Tücken bliesen die herrschenden Winde immer senkrecht auf sie hinab.
In den Skippern der Kotick oder der Walhalla fand das Flugzeug Leute, mit denen es über seine schweren Kämpfe sprechen konnte. Diese Männer und Frauen haben sich nicht zufällig dazu entschlossen, hier zu segeln, in den schwierigsten Gewässern der Welt. Oft haben sie in ihrem Leben noch größere Hürden gemeistert. Der Kampf gegen die ewigen Stürme lässt den Körper wie den Geist nicht rasten.
Dieselben Gründe, die Ushuaia einst zu einem trostlosen Ort machten, sind heute seine Chance. Früher fanden nur die Gescheiterten, Ausgestoßenen und Verdammten den Weg in die südlichste Stadt des Kontinents. Folgerichtig hatte man hier ein Zuchthaus errichtet. Heute lockt diese Lage alle Grenzgänger an. Die einen begnügen sich mit Feuerland, andere wollen mehr. Sie suchen die wahren Extreme, das wirkliche Ende der Welt, Kap Hoorn oder die Antarktis. Ushuaia wurde zum Basislager für alle, die sich nach dem großen geografischen Schauder sehnen. Seither fließt das Geld, in zahllosen Souvenirläden werden die Touristen zur Kasse gebeten.
Der Pioniergeist verflüchtigt sich langsam und auch der Humor. Vor fünf Jahren noch stand vor dem kleinen Chalet des Vereins Caza y pesca (Jagd und Fischfang) mitten unter den unvermeidlichen Lupinen ein amüsantes Schild:
Hier treffen sich
jeden Mittwoch um 19.00Uhr
die Lügenbarone vom südlichsten Zipfel der Welt
Das Schild ist verschwunden. Nichts soll den Gast vor den Kopf stoßen.
Ein seltsames Schicksal für Ushuaia: gestern noch ein unbekanntes Nest und Straflager, heute eine Zone der Freiheit, die auf der ganzen Welt bekannt ist, zumal in Frankreich, wo Nicolas Hulot seine erfolgreiche Fernsehserie über den Natur- und Umweltschutz nach dieser Stadt benannt hat.
Gegenüber der Anlegestelle für die Kreuzfahrtschiffe hat die Stadtverwaltung in einem Hüttendorf, das vom Handel mit Kunstgewerbe lebt, die «Zeitkapsel» errichtet, einen riesigen, ausgehöhlten Stein, in den ein Schatz eingelassen ist, der erst am 20. Oktober 2492 geöffnet werden darf. Es handelt sich um eine zeitgenössische Fernsehserie, anscheinend die beste Form, ein Bild unserer Epoche zu zeichnen …
Wie wird die südlichste Stadt der Welt in fünf Jahrhunderten aussehen? Wird sie noch ebenso viele Menschen anziehen, wenn der Planet einmal richtig aufgeheizt und das Packeis fast völlig geschmolzen ist?
*
In diesen südlichen Gewässern ist es eine vorwiegend französische Spezialität: das Segeln. Nicht dass andere Länder, England, die Vereinigten Staaten, Deutschland und selbst die Schweiz, nicht auch talentierte Segler hervorbringen würden, aber Sie brauchen nur ein paar Minuten auf dem Ponton von Ushuaia...
Erscheint lt. Verlag | 20.6.2014 |
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Übersetzer | Holger Fock, Sabine Müller |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Angst • Antarktis • Ausbeutung • Autissier • Bericht • Eisberg • Gefahren • Orsenna • Reise • Reisebericht • Rettung • Segelboot • Segeln • Seglerin • Umwelt |
ISBN-10 | 3-406-66814-3 / 3406668143 |
ISBN-13 | 978-3-406-66814-2 / 9783406668142 |
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