Etüden im Schnee (eBook)
320 Seiten
konkursbuch (Verlag)
978-3-88769-962-8 (ISBN)
Mein Text
Mein Text, der dank der unkorrekten Vorgehensweise des Verlegers schnell veröffentlicht worden war, zog im Ausland die Aufmerksamkeit derjenigen auf sich, die des Russischen mächtig waren. Ein Slawist namens Eisberg, der in Berlin lebte, übersetzte die erste Folge meiner Autobiografie ins Deutsche und veröffentlichte sie in einer Literaturzeitschrift. Diese Übersetzung wurde in einer nicht unbedeutenden deutschen Zeitung euphorisch besprochen. In den Briefkasten des Verlages strömten Leserbriefe, die nach Fortsetzungen fragten. Als in Berlin die erste Folge erschien, erschien hier in Moskau die zweite Folge. Das Original und seine Übersetzung fingen an, eine Fuge zu spielen. Für mich ähnelte das Spiel eher dem Spiel „Katz und Maus“ als der erhabenen Musikgattung der Fuge. Als verfolgte Maus musste ich immer schneller rennen, damit ich nicht von der Katze eingefangen wurde.
Es war sicher nicht Herr Eisberg, der meinen Text illegal veröffentlichte. Wahrscheinlich hatte Seelöwe das Übersetzungsrecht an Eisberg verkauft, ohne mir Bescheid zu sagen. So verwandelte sich mein Text in die Westwährung, die in Seelöwes Hosentasche verschwand. Nachdem mir meine Hausmeisterin dieses Szenario ausgemalt hatte, besuchte ich Seelöwe und bat ihn um eine Stellungnahme. Er behauptete, er wisse nichts davon. Man konnte an seiner dicken Haut nie sehen, ob er log oder nicht. Er wandte mir den Rücken zu und erlaubte sich auch noch einen frechen Kommentar: „Wenn du so viel Zeit hast, deine Übersetzungsrechte zu verwalten, solltest du besser Fortsetzungen schreiben!“
Seine Worte drängten in meinen Magen und drehten ihn um, ich wollte sie am liebsten herauswürgen. Mir fiel eine gemeine Idee für die Rache ein, und obwohl ich sie widerlich fand, konnte ich sie nicht lassen. Ich rief von einer Telefonzelle den Hausmeister des Hauses an, im dem sich der Nordsternverlag eingenistet hatte, und erzählte ihm, dass Seelöwe bei sich eine Menge Westwährung verstecke. Wahrscheinlich wusste der Hausmeister schon längst Bescheid, möglicherweise profitierte auch er davon. Aber er musste die Möglichkeit berücksichtigen, dass der anonyme Anruf von der Geheimpolizei selbst kam, die seine Treue auf die Probe stellen wollte. Daher konnte er sich nicht leisten, den Anruf zu ignorieren. Sonst bestand große Gefahr, selber in einer Haftanstalt zu landen. Also informierte er zuerst Seelöwe und denunzierte ihn dann bei der Geheimpolizei. Das sind übrigens alles meine Vermutungen. Die Polizei konnte bei der Haussuchung bei Seelöwe keine einzige Westschokolade finden, geschweige denn ausländische Geldscheine.
Später hörte ich das Gerücht über eine Dame in Odessa, die einen schneeweißen Toyota-Wagen einem Kurgast aus Griechenland abgekauft hatte. Ihre Nachbarn wunderten sich darüber, woher die Frau so viel Westgeld hatte. Kurz vorher war Seelöwe in Odessa gesehen worden. Ein Zeuge berichtete, Seelöwe sei mit einer großen Sporttasche in die Villa, in der die Dame wohnte, geschlichen. Schon entstand ein Szenario in meinem Kopf: Seelöwe hatte durch den Verkauf der Übersetzungsrechte viel Westgeld ergattert, mit dem er seiner Konkubine in Odessa ein Auto kaufen konnte.
Es bedeutete ein großes Unglück für mich, dass Herr Eisberg ein begabter Übersetzer war. Er machte aus meinen Bärensätzen kunstvolle Literatur, die bald von einer renommierten Westzeitung hoch gelobt wurde. Allerdings lobte kein Literaturkritiker die poetische Qualität meiner Autobiografie. Es ging beim Lob um ganz andere Kriterien, von denen ich keine Ahnung hatte.
Damals gab es in Westdeutschland eine Protestbewegung gegen die Ausbeutung von Zirkustieren. Die Vertreter der Bewegung behaupteten, die Dressur verletze die Menschenrechte der Tiere. Im Ostblock seien die Tiere noch mehr unterdrückt als im Westen. Bei uns im Osten erschien ein Buch mit dem Titel „Dressur der Liebe“ von einer gewissen Frau Dr. Aikowa. Sie hatte einen Zoologen als Vater. Vielleicht war das ein Grund, warum es ihr gelang, den sibirischen Tigern und Wölfen die Bühnenkunst ohne Peitsche und andere Drohungen beizubringen. Das Buch bestand zum größten Teil aus Interviews, in denen die Autorin von ihrem liebevollen Umgang mit Tieren erzählte. Ihr Buch provozierte eine Reihe von Westjournalisten. „Die wilden Tiere würden sich niemals für Bühnenkunst interessieren, wenn die Menschen sie nicht mit Gewalt dazu zwingen würden. Aikowa will ihren Zirkus rechtfertigen, der nichts anderes ist als eine Scheinkunst, durch die der Sozialismus weiter Westwährung ergattern will.“ Ungefähr das war die Meinung der verärgerten Journalisten. Sie entdeckten meine Autobiografie als Beweis für den sozialistischen Tiermissbrauch.
Es dauerte nicht lange, bis das zuständige Amt bei uns den Ruf meines Buches im Westen bemerkt hatte. Eines Tages teilte mir Seelöwe durch ein Telegramm mit, dass meine Autobiografie nicht fortgesetzt werden könne. Ich ärgerte mich über Seelöwe, aber was die Zukunft meines Schreibens betraf, hatte ich keine Bedenken. Ich werde einfach weiter schreiben, auch wenn Seelöwe nichts von mir drucken will. Vielleicht werde ich sogar einen besseren Verlag finden. Schluss mit den giftigen Stachelworten, mit denen Seelöwe aus meinen Pfotenhänden immer wieder neue Zeilen zu ziehen versuchte! Ich würde auf niemanden mehr Rücksicht nehmen, mich zurückziehen und die intime Zweisamkeit mit meiner Feder genießen.
Mein Leben wurde still wie ein Kamin, in dem das Feuer schon längst gelöscht war. Früher hatte ich mir nicht einmal ein paar Dosen von einem Laden holen können, ohne von einem Fan angesprochen zu werden. Jetzt kam niemand mehr auf mich zu. Selbst mitten im Gewimmel auf dem Wochenmarkt traf mein Blick auf keinen anderen. Alle Blicke flogen wie Eintagsfliegen von mir weg, keinen von ihnen konnte ich fangen. Ich freute mich, als der Postbote mir einen Brief von meinem Arbeitgeber brachte, aber darin stand nur, dass ich mich im Büro nicht blicken lassen solle, bis die Lage sich verbessere. Ich müsse auch nicht das neue Projekt mit Musikern aus Kuba weiter betreuen, da jemand anderes jetzt dafür zuständig sei. Einladungen zu Konferenzen kamen auch nicht mehr.
Die Zeitschrift von Seelöwe hatte bestimmt nicht das literarische Monopol im Lande, aber seltsamerweise kontaktierte mich keine andere Zeitschrift. Der ganze Literaturbetrieb hat sich abgesprochen, mich zu ignorieren. Bei diesem Gedanken lief mir die Galle über, ich schlug mit meiner Faust gegen den Schreibtisch. Es war eine spontane Reaktion, hinterher merkte ich, dass ich einen Kugelschreiber in der Hand hielt. Zu spät.
Sein Hals war schon abgebrochen, sein Kopf blieb im Holzfleisch des Schreibtisches stecken, während sein Leib in meiner Pfotenhand blieb.
Ich fand früher jeden symbolischen Akt lächerlich, zum Beispiel hielt ich nichts von einem zweibeinigen Autor, der aus Protest gegen Zensur seinen Füller zerbrach. Jetzt habe ich aber selber meinen Kugelschreiber zerstört. Ich dachte, ein Schreibzeug würde mir in der Krise einen sicheren Halt geben, aber in Wirklichkeit ließ es sich so leicht brechen wie ein Säuglingsarm.
Eines Tages bekam ich einen Brief von einem inländischen Verein, der sich „Förderverein für internationale Kommunikation“ nannte. Die Anfrage klang seltsam: „Möchten Sie nicht an einem Projekt teilnehmen, in Sibirien Orangenbäume einzupflanzen? Es ist für uns sehr wichtig, dass eine Berühmtheit wie Sie mitmacht. Damit könnten wir in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit für unser Projekt wecken.“ Ich? Eine Berühmtheit? Diese Worte waren Rosenblüten, die die Innenseite meines Ohrs angenehm kitzelten. Ohne zu zögern sagte ich die Teilnahme am Projekt zu.
Am selben Tag, etwas später, wollte ich meinen Müllsack hinunterbringen, öffnete die Wohnungstür und sah die Hausmeisterin direkt vor mir stehen. Sie fragte mich, wie es mir gehe. Es klang nach Ausrede, ich wusste aber nicht, was sie zu verbergen hatte. „Ich habe vor, in Sibirien zu arbeiten“, antwortete ich stolz und erzählte ihr genauer von der ehrwürdigen Einladung. Die Augenbrauen der Hausmeisterin wurden von Mitleid verzogen. „In diesem Projekt geht es darum, Orangen in der Kälte zu züchten“, fügte ich hinzu, um mögliche Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Meine Worte brachten die Hausmeisterin fast zum Heulen. Sie drückte ihre Tragetasche fest gegen ihre Brust und entschuldigte sich. Sie müsse leider jetzt gehen, da sie schnell etwas erledigen müsse.
Ich war naiv und optimistisch genug zu glauben, dass Orangen auch in Sibirien wachsen würden. Man kann doch in der Wüste Israels Kiwis und Tomaten ernten. Also warum nicht Orangen in Sibirien? Außerdem, wenn es jemanden gäbe, der zu Sibirien passt, wäre ich das. Die Kälte war meine Leidenschaft.
Seitdem mied mich die Hausmeisterin. Jedes Mal, wenn ich aus meiner Wohnung herauskam, verließ sie schnell das Treppenhaus und versteckte sich hinter ihrer Wohnungstür. Auf dem Gehweg vor unserem Haus bemerkte ich einige Male, dass sie mich durch die Spalte ihrer Gardinen beobachtete. Als ich einmal etwas von ihr wollte und an ihrer Tür klopfte, tat sie so, als wäre sie nicht zu Hause.
In meinen Ohren wuchs Schimmel, weil niemand mehr mit mir sprach. Die Zunge ist nicht nur zum Sprechen da, man kann sie auch für den Verzehr von Nahrungsmitteln einsetzen. Die Ohren hingegen sind nur dazu da, Stimmen und Geräusche zu hören. Meine Ohren hörten nur noch das Kreischen der Straßenbahn und rosteten ein, genau wie die Räder einer vernachlässigten Bahn. Ich vermisste Menschenstimmen, kam auf die Idee, mir ein Radio zu besorgen, und ging zu einem Elektroladen. Der Verkäufer sagte mir aber, alle Radios im Lande seien zurzeit ausverkauft. Ich war eher froh darüber,...
Erscheint lt. Verlag | 30.11.2014 |
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Verlagsort | Tübingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Berlin • DDR • Eisbären • Knut • Migranten • Moskau • Zirkus |
ISBN-10 | 3-88769-962-9 / 3887699629 |
ISBN-13 | 978-3-88769-962-8 / 9783887699628 |
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