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Poetik. (eBook)

Tübinger und Frankfurter Vorlesungen.
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402395-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Poetik. -  Marlene Streeruwitz
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Im Wintersemester 1995/96 hielt Marlene Streeruwitz als erste Tübinger Poetikdozentin drei Vorlesungen über die Voraussetzungen ihres Schreibens und schuf damit eine Streitschrift zur feministischen Literaturtheorie und Sprachkritik. Kurze Zeit später, im Wintersemester 1997/98, setzte die Autorin ihre Vorlesungen in Frankfurt fort, wo sie im Rahmen der von Ingeborg Bachmann 1959 eröffneten, traditionsreichen Frankfurter Poetikvorlesungen den Hörsaal betrat. Als Ergänzung zu den theoretischen Auseinandersetzungen der Tübinger Vorlesungen stehen in Frankfurt Ausdifferenzierungen und praktische Umsetzung im Zentrum. Die beiden Vorlesungszyklen werden ergänzt durch ein Gespräch mit Marlene Streeruwitz, das sich mit gegenwärtigen Positionen ihres Schreibens auseinandersetzt.

Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter zuletzt den Bremer Literaturpreis und den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Die Schmerzmacherin.« stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen der Roman »Flammenwand.« (Longlist Deutscher Buchpreis 2019), die Breitbach-Poetikvorlesung »Geschlecht. Zahl. Fall.« (2021), der Roman »Tage im Mai.« (2023) sowie die Bände »Handbuch für die Liebe.« und »Handbuch gegen den Krieg.« (2024).  Literaturpreise (u.a.): Mara-Cassens-Preis 1996 Österreichischer Würdigungsstaatspreis für Literatur 1999 Hermann-Hesse-Literaturpreis 2001 (für 'Nachwelt') Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2002 Bremer Literaturpreis 2012 Franz-Nabl-Preis 2015 Preis der Literaturhäuser 2020 Wiener Buchpreis 2023

Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter zuletzt den Bremer Literaturpreis und den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Die Schmerzmacherin.« stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen der Roman »Flammenwand.« (Longlist Deutscher Buchpreis 2019), die Breitbach-Poetikvorlesung »Geschlecht. Zahl. Fall.« (2021), der Roman »Tage im Mai.« (2023) sowie die Bände »Handbuch für die Liebe.« und »Handbuch gegen den Krieg.« (2024).  Literaturpreise (u.a.): Mara-Cassens-Preis 1996 Österreichischer Würdigungsstaatspreis für Literatur 1999 Hermann-Hesse-Literaturpreis 2001 (für "Nachwelt") Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2002 Bremer Literaturpreis 2012 Franz-Nabl-Preis 2015 Preis der Literaturhäuser 2020 Wiener Buchpreis 2023

Und Schein.


»Die Regeln«, seufzt Hauptkommissar Derrick in der Folge »Die zweite Kugel« der Fernsehserie »Derrick« vom 5. Jänner 1996, »die Regeln, die einmal das Zusammenleben geordnet haben, die gelten eben nicht mehr.« Und ein in dieser Folge auftretender blutjunger und sehr attraktiver katholischer Priester träumt mit idealistisch in die Ferne gerichtetem Blick: »Wenn man sich an die Regeln hält, dann verliert man den Boden unter den Füßen nicht.«

Wir haben hier die Aussagen von 2 Männern vor uns, die sich, nostalgisch argumentierend, Ordnung, also die eine Sprache, die eine eindeutige, wünschen. Die sich zurückgewandt der Sehnsucht hingeben. Diese beiden Männer sind Vertreter zweier Ordnungsblöcke. Der Polizei und der katholischen Kirche. Bereiche, in denen man die Gegenwart immer für schlechter hält als die Vergangenheit. Und zwar jede Gegenwart so. (Die Kirchengeschichte ist ein schönes Beispiel dafür, wie eine jeweils beklagte Gegenwart der Sitten in eine Vergangenheit verwandelt wurde, die dann durchaus wieder herbeisehnenswert erschien.) In beiden Bereichen kann immer auf die Gründungszeit zurückgegriffen werden: Also damals, als Jesus … Unter Peeler, dem Gründungsorganisator von Scotland Yard, war auch alles besser und wäre so – wie heute – nicht möglich gewesen. Es ist nie so, wie es einmal war. So. Wie es nie gewesen. Historismus pur.

Hauptkommissar Derrick und der katholische Priester sind Vertreter jener Machtzentren, die die totalen Ansprüche des Hirten besonders deutlich vertreten. Die Kirche will alle Menschen eingemeinden. Die Polizei kann erst zufrieden sein, wenn alle eingesperrt sind. Diese totalen Ansprüche sind als solche heute vordergründig nicht wirksam. Bei uns zumindest. Das kollektive Bewusstsein der Postmoderne, das sich als Schmelztiegel der Kommunikation begreift, versteht auch noch andere Sprachen als die des Hirten. Diese allerdings auf verschiedenen Ebenen. Denn neben der unglaublichen Erweiterung der Kommunikation gibt es eine Rückkehr zu dieser Sprache des Hirten in Regionalismen. Bei Betonung ethnischer Strukturen.

Die Fundamentalismen, die Hirtensprache sind derzeit etwas in den Hintergrund gedrängt. Aber. So lange sind die Zeiten nicht entfernt, in denen die unbehinderte Dominanz der irdischen Angst durch die Polizei und der himmlischen Angst in der Kirche zur totalen Einverleibung der Menschen geführt hat. Und Hauptkommissar Derrick eine Ordnung vorgefunden hätte.

Betrachten wir, bevor wir weitere Schlüsse ziehen, noch einmal unser Beispiel der Initiation. Diese Initiation ist ein Vorgang, der nach Regeln abläuft. Nach harten, unerbittlichen, nicht beugbaren Regeln. Da es sich dabei wahrscheinlich um das Ritual einer Jägergesellschaft handelt, würde durch das Bestehen der Prüfung und damit der Einhaltung der Regeln Teilnahme hergestellt. Der junge Mann darf nach der Prozedur an der Jagd teilnehmen. Er darf am Töten teilhaben. Er darf am höchsten Akt der Unmittelbarkeit teilnehmen. Er darf morden.

Genau genommen ist jede Sehnsucht nach unmittelbarem Leben, wie sie in der gegenwärtigen Vernunftkritik geäußert wird, letztlich Sehnsucht nach dieser Teilnahme.

Aufgeklärterweise verbietet sich das. So wie sich die letzten Reste dieser Form bei uns, nämlich die Jagd, verbieten. Der Jagd, mit ihren Zulassungsregelungen, Verbänden, Gemeinschaften und Ritualen, die sich rasch als schöngeredeter Sprach-Verband von Mordbuben herausstellt. Dass Frauen mittlerweile daran teilnehmen, ändert an einer solchen Definition nichts. Es ist bekannt, dass der ökologische Grund für die Jagd auf Zweckbehauptungen beruht und nicht stimmt. Das einzige Ziel der Unternehmung ist, ein ganzer Kerl zu sein. Ein Mann. Und zu töten. In ein Mysterium einzutreten. Interessanterweise rekrutiert sich aus Jagdfreundschaften das, was Seilschaften genannt wird. Männerrotten zur Vermehrung der Beute. In allen Bereichen der Gesellschaft tätig.

Übrigens: Die Vorgesetzten, die ich selbst hatte, waren fast ausnahmslos Jäger. Sie kamen von ihren Jagdausflügen keinesfalls entspannter ins Büro zurück. Die psychische Entlastungsfunktion, die noch immer als Argument für die Jagd eingesetzt wird, scheint mir nicht zuzutreffen. Eher das Gegenteil. Eine gewisse Gereiztheit war zu bemerken gewesen. Sollte das an der Anpassung an die zwangspazifierte nachagrarische Gesellschaft liegen, in der nicht einfach herumgeschossen werden darf? Gewöhnlich jedenfalls nicht.

Unmittelbares Töten ist in unserer Gesellschaft gemeinhin nicht zugelassen. Der Zugang zu Waffen ist mehr oder weniger eingeschränkt. Der Gebrauch von Waffen wird den jungen Männern gelehrt. Dieser Gebrauch wird aber wiederum in ein striktes Regelsystem eingebaut, in dem der junge Mann sprachlos den Befehlen der Vorgesetzten zu gehorchen hat, damit er immer so funktioniert, wie der Befehlende es will. Er wird darauf gedrillt, möglichst rasch selbst Befehlender zu werden und sich so der von Canetti beschriebenen Befehlsstacheln zu entledigen.

Erinnern wir uns: Der Hirte lenkt die Herde. Töten ist kein ekstatischer Akt einer Auseinandersetzung der Rotte mit dem gejagten Tier. Töten ist Schlachthof geworden. Geordneter Plan. Nicht das Kräftemessen oder die List des Jägers und die Wendigkeit der Beute bestimmen den Zeitpunkt des Mordes. Der Plan des Hirten entscheidet über die Lebensdauer des Schlachtviehs. Die Mordmaschinerie des Nationalsozialismus ist hiervon sicherlich die extremste Form der Durchführung.

Erinnern wir uns weiter: Wir sind die Herdentiere mit der vom Hirten eingepflanzten Sehnsucht, damit wir freiwillig und ohne große Umstände unsere Aufträge erfüllen. Derzeit äußert sich dieser Auftrag hauptsächlich als Scheinauftrag zu kaufen. Eigentlich aber geht es immer um Leben und Tod. Canetti hat das für den Befehl herausgearbeitet. Dass jeder Befehl sich auf den Tötungsbefehl zurückleiten lässt. Ich möchte das auf das gesamte Netz an Aufträgen erweitern, die uns für unsere Lebensgestaltung mitgegeben werden. Hier wieder dominant vom Kulturgut als dem Wahren, Edlen, Guten und Schönen verführt, sind wir schlafende Agenten des Patriarchalen. Zu reden ist von Mord. Die Sprache konstituiert sich darin und ist vorgeschobener Schein, den Plan des Hirten zu vermitteln. Der Auftrag heißt Töten. Kriegsbereitschaft hieß das im Nationalismus. Und die Kriegsvorbereitungen sind nie unterbrochen worden. Gingen immer weiter.

Es müssen nur die Grundmechanismen der Aufträge in Gang gesetzt werden, dann funktioniert es wieder. Die schlafenden Agenten werden aktiviert.

Jugoslawien. Das Land wird in den Medien als balkanisch-rückständig, historisch belastet dargestellt. Und das wird dann auch als Grund für all das altmodische Morden angenommen. Ich denke, dass dort nur einige Gruppen wirklich Interesse am Morden hatten und es deshalb durchsetzten. Sicher sind patriarchale Religiosität und der große Anteil an Landbevölkerung einem solchen Aufflammen der Gewalt zuträglich. Aber diese Voraussetzungen finden Sie überall in Europa. In anderen Gegenden wird das Morden zur Zeit als geschäftsstörend angesehen. Das kann morgen anders sein. Es gibt überhaupt keinen Grund, über die Vorkommnisse erstaunt zu sein. Solange Ideale über Menschenleben gestellt werden, wird es diese Ereignisse geben. Die Ideale, die, früh eingespeichert, den Menschen als Sammelplatz für ihre eigene Vernichtung dienen. Die Hirten kommen immer davon.

Saßen sie nicht wieder fesch da. In Paris. Zur Unterzeichnung des Friedensvertrags. Nichts vom Dreck und der Kälte. Vom Blut und dem Geruch zerfetzter Leiber. Ich denke, dass schon die Diskrepanz der Bilder erhellend sein sollte. Aber. Wie wir wissen, sind die Herden zu gut konditioniert, um es sehen zu können. Überhaupt.

Es geht natürlich, um wieder auf den Gegenstand der Vorlesung zu kommen. Es geht natürlich darum, herauszufinden, welche Aufträge wo versteckt sind. Herauszufinden, ob in einem Text, aber auch in jeder anderen Kommunikation und als Kunst deklarierten Information der Auftrag zu töten enthalten ist. Oder nicht.

Wie funktioniert das? Wie verbergen sich die Aufträge?

Es ist noch nicht lange her, da wurde der Auftrag zu töten auch hier umfassend geäußert. Andersgläubige wurden eliminiert. Wir müssen begreifen lernen, dass der totalitäre nationalsozialistische Apparat im Grunde die höchste Vollendung patriarchaler Auftragserteilung ist. Alle kritischen Schulen haben das bis ins deutlichste herausgearbeitet. Zur Kenntnis genommen in dem Sinn, dass sich das wirkliche Leben danach richten könnte, wurde es nicht. Deshalb die Frage nach dem Frühstück. Was nicht in den Alltag gezogen werden kann, bleibt zerstörerisches Verborgenes. Zerstörerisches Außen. Im Inneren vom Schein der Sprachlosigkeit verdeckt.

Also. Der Mordauftrag gilt weiterhin. Es ist den kritischen Schulen vorzuwerfen, dass sie den Funktionen des Männlichen, des Mythisch-Männlichen keine Aufmerksamkeit zukommen ließen. Obwohl Analysen wie die von Canetti durchaus als Grundlage dafür vorgelegen haben.

Die Aufträge werden verschleiert weitergegeben. Verschiebungen haben stattgefunden. Das Ziel ist nicht mehr die Eroberung von Land, sondern die Erringung von Marktanteilen. Das Ziel der Macht ist Geldanhäufung. Geld, die perfekte Simulation Gottes, und über den Blick Gottes, simuliert, mit dem Anspruch auf Gottes Thron hergestellt. Die perfekteste Abstraktion. Der perfekteste Schein. Blendwerk der Erweiterung des reinen Verstandes.

Damit wir Frauen, die ja an diesem Spiel nur als Simulanten-Simulanten teilnehmen, dabei auch Frauen bleiben können, wurde der Selbstzerstörungsauftrag in den Auftrag gegossen, schön sein zu müssen. Ein...

Erscheint lt. Verlag 23.1.2014
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
Schlagworte Ästhetik • Berthold Auerbach • Claudia Püschel-Knies • Feminismus • Frankfurt • Literaturtheorie • Lyrik • Poetik • Poetikvorlesung • Politik • Schreiben • Tübingen • Vorlesung
ISBN-10 3-10-402395-6 / 3104023956
ISBN-13 978-3-10-402395-3 / 9783104023953
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Größe: 837 KB

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