Plankton (eBook)
832 Seiten
Knaus (Verlag)
978-3-641-12264-5 (ISBN)
Das Sammeln und Bewahren von Erinnerungen war ein zentrales Motiv von Walter Kempowskis Arbeit. Fast 50 Jahre lang frönte er leidenschaftlich einer Tätigkeit, die er 'Plankton fischen' nannte: Er stellte Menschen, denen er begegnete, unterschiedlichste Fragen - nach ihrer Schulzeit, nach Begegnungen mit Prominenten, nach der ersten Liebe. Denn Kempowski war überzeugt, dass das, was dem Einzelnen widerfährt, exemplarisch ist für eine ganze Generation. Simone Neteler, Walter Kempowskis langjährige Mitarbeiterin, hat die Erinnerungssplitter nach den Vorgaben des 2007 verstorbenen Autors zusammengestellt. Das Ergebnis ist ein 'Urquell von Erinnerung', 'der Schlamm, aus dem sich das Echolot und die Chronik erheben' (Walter Kempowski). So ist 'Plankton' als Fundament des Kempowski'schen Werks zu betrachten.
Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten 'Deutschen Chronik', deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman 'Tadellöser & Wolff' eröffnete und 1984 mit 'Herzlich Willkommen' beschloss. Kempowskis 'Deutsche Chronik' ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der 'Chronik' korrespondierende zehnbändige 'Echolot', für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.
Studentin, *1970
Prominenz | Costa Cordalis habe ich gesehen. Da war ich aber noch jünger, sieben oder acht. Das war entsetzlich. Meine Mutter ging zu ihm hin und meinte: »Meine Tochter möchte ein Autogramm von Ihnen.« Das war mir so peinlich! Er hat sich dann sogar angeboten, ein Foto mit mir zu machen. Das fand ich alles gar nicht lustig.
Eine Französin, *1968
Reise | Mit sieben war ich zum erstenmal im Ausland, in Deutschland, da wohnte eine Schwester meiner Großmutter. Da fuhren wir im Sommer hin, Bad Bergzabern bei Landau. Das war sehr beeindruckend wegen der Grenzkontrollen, das Paßvorzeigen. Als Kind hatte man ja keinen Paß, da wurde dann abgezählt, die Kinder, ob die alle auf dem Paß der Eltern mit drauf waren.
Damals gab es in Frankreich Sommerzeit und in Deutschland nicht. Das war dann ganz gut so. Im Elsaß, da haben wir immer im deutschen Fernsehen »Sandmännchen« geguckt, das kam um 7 nach deutscher Zeit, im Sommer in Frankreich also erst um 8; und da wir nun in Deutschland waren, gab’s das ja wieder um 7. Darüber haben wir uns besonders gefreut, weil wir das nun früher gucken konnten. Vorher mußten wir aber noch essen, das war immer ein Drama, weil es dunkles Brot gab. Dagegen haben wir uns gesträubt.
Volkswirt, *1929
Zweiter Weltkrieg | 1944. Wir haben vom Krieg nicht viel erlebt. Ich wohnte im Sudetenland auf einem Dorf, da haben wir wirklich kaum was gemerkt. Ende des Krieges kamen dann die Bomberpulks, und da haben wir im Gras gelegen und haben gesagt: »Ach, das sind diese Bomberpulks.«
Allerdings eines haben wir doch mitgekriegt vom Krieg. Das war, wenn die Leiterin der Frauenschaft und der Ortsgruppenleiter ins Dorf kamen, ganz in Schwarz, dann wußten wir: Da ist wieder einer gefallen. Man saß dann am Fenster und hat beobachtet: Gehen die nun in das Haus oder in das Haus nebenan? Da hatte man richtig einen Horror davor. Die brachten die Nachricht von den Gefallenen.
Das war das einzige. Nachher wurde es dann ja allerdings schlimm, 1945, da kam’s dann dicke.
Eine Frau, *1968
Erste Liebe | Ein guter, süßer Junge. Der aß immer »Rotkäppchen«Camembert. Der durfte mit mir nicht in die Schule, weil er einen Herzfehler hatte – kam ein Jahr später zur Schule, und dann zogen sie auch weg.
Eine Frau, *1959
Schule | Furchtbar. Schon der Geruch, wenn man reinkam: Bohnerwachs, Milch, muffige Kleidung, Staub und Schweiß.
Ein Mann
Zaun | Ich bin einmal zwischen die Schranken eines Bahnübergangs geraten. Der Schrankenwärter hatte die Schranken geschlossen, und ich stand dazwischen und spielte mit den Steinen, als der Zug sich näherte.
Studentin, *1970
Prominenz | Karlheinz Böhm habe ich auf Sylt getroffen. Das war in Kampen. Ich habe ihn angerempelt, unabsichtlich natürlich. Ich versuchte gerade ganz vertieft, meinen Schuh zu schließen. Er hat dann genickt. Ich habe hochgesehen zu dem netten Herrn, der da so freundlich nickte, erkannte ihn aber erst im Weitergehen. Da dachte ich: Mensch, das ist doch dieser Frauenheld! – Ich erkannte ihn dann endgültig an seinem Schal, das Hemd oben so offen, den Schal so umgebunden.
Ein Mann
Brücke | Ich denke an eine kurze Brücke, die über einen kleinen Graben hinwegführt und sich auf der Oberfläche nicht von der Straße eines Wohnviertels einer Kleinstadt unterscheidet. Der Bach, der unter der Brücke fließt, wird durch einen Betonring ein paar Meter lang kanalisiert.
Mein Vater klärt mich über die »Brücken-Einsturz-Neurose« auf: eine psychische Krankheit, die es dem Betroffenen nicht gestattet, eine Brücke zu betreten – aus Angst vor der vermeintlichen Einsturzgefahr.
Eine Frau, *1943
Kindheit | Nachmittags mußten wir eine Kuh an der Leine am Wegrand hüten und dann im Sitzen zwischen den Beinen auf der Erde Schularbeiten machen.
Hausfrau, *1893
Erster Weltkrieg | August 1914. Es waren ja zunächst schöne ruhige Tage, aber in Langemarck, da fielen dann die ganzen Wandervögel, das war ja schlimm. Singend sind die gefallen. Die waren ja fanatisch; Fanatismus kann man ja in die Jugend hineintragen. Und die andern waren uns doch technisch weit überlegen.
Lehrerin, *1952
Gedicht | »Das Karussell« von Rilke …
»In seinem Schatten dreht sich eine kleine Weile der Bestand von Hund, Tieren, alle aus dem Land, das lange zögert, ehe es untergeht …«
Romanistin, *1968
Prominenz | Eberhard Feik wohnte hier in Hamburg im Haus nebenan, so 1994, wohl wenn er zu Dreharbeiten kam. Wenn der abends zurückkam, verschwand er im Haus; kurz darauf kam er dann mit einem superedlen Mountainbike und Radlerhose, verschwand und kam nach einiger Zeit wieder zurück – total verschwitzt, total rot –, ging ins Haus, kam bald wieder raus, ging essen, in die Kneipe nebenan und dann in die Eisdiele. Da habe ich den dann getroffen. Er bestellte Rieseneisportionen. Die Leute haben ihn natürlich erkannt, die standen da rum, aber keiner sagte was. Plötzlich meinte einer, ob er denn auch »in Fisch macht«? Was das sollte, weiß ich nicht. – Feik sagte: »Nee, ich mach’ in Eis.« – Das war’s.
Ein Mann, *1963
Reise | Santa Margherita Ligure. Ein Seebad, das in den 60ern hoch im Kurs stand. Jetzt ist es dort ganz still, und unter dem Firnis schimmert das Flair der 60er Jahre. Sehr vornehm sind die Leute dort. Sie sind das für Italien, was die Hanseaten für Deutschland sind. Tiefe, Verläßlichkeit, Intensität.
Eine herrliche Landschaft. Da gibt es Dörfer, die nur zu Fuß oder mit der Bahn zu erreichen sind. Und da fragt man sich denn doch: Warum ist das hier noch nicht entdeckt? Wo sind die Reisebusse? Es gibt Berge, und: Da ist das Meer? Dadurch, daß der Lack ein bißchen ab ist, ist es auch preiswert.
Ein reaktionärer Spießer ist man heute, wenn man sagt: »Ich fahr’ nach Italien.« Heute muß es mindestens die Dominikanische Republik sein.
Rechtsanwalt, *ca. 1955
Bibel | »Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.« Das kann ich sogar auf lateinisch sagen: »Et Petrus egressus flevit amare.«
Geographin, *1965
Prominenz | Thomas Gottschalk ist mir mal im Auto begegnet, in München, 1987, auf dem Altstadtring, so am Sendlinger Tor. Ich glaube, ich saß in der Straßenbahn, und er ist in einem alten Auto vorbeigefahren. Das war irgendwas Besonderes, ich glaub’, ein weißer Rolls-Royce. Ich dachte: Hm, der sieht ja aus wie Thomas Gottschalk. – Dann war er auch schon vorbei, und ich dachte dann: Ja, das ist er gewesen.
Pressezeichner, *1920
NS-Zeit | Den Zeppelin hab’ ich 1934 über Berlin gesehen. Macht schon ’n Eindruck, wenn da ’n Riesending rumschwebt, in majestätischer Höhe. Ich glaube, wir haben’s vom Dach aus gesehen.
Mütterberaterin, *1927
Film | 1937. Ein Film von Beniamino Gigli. Mein Großvater ging mit mir da hin, denn wir hätten kein Geld gekriegt. Kinder kriegen doch kein Geld fürs Kino! Bevor man nicht zehn ist, darf man nicht ins Kino. Da gab’s so ’ne Grenze.
Mein Großvater summte dann ja immer mit, und denn schwankte er so hin und her: Oh, fand er das schön, wenn der da sang!
Ich weiß die Handlung gar nicht mehr genau, ich erinnere mich bloß noch: Auf einer Schiffsreise war ein Vater mit einem Kind. Irgendwie hatten die keine Mutter, die war wahrscheinlich gestorben. Dann kümmerte sich auf diesem Schiff ein anderes Mädchen nun um das Kind, eine junge Dame, nicht wahr! Und die verliebte sich natürlich in den Vater des Kindes, und nachher war das wieder vereint in eine Familie, und sie standen da so an der Reling. Ich seh’ nur noch, wie sie an der Reling standen, Beniamino und wer da diese Mädchenrolle gespielt hat, und die Köpfe gingen immer näher zusammen, und eine Musik! Ach, das war wunderbar.
Eine Frau
Geräusch [ein Tonband wird vorgespielt mit dem Geräusch fließenden Wassers] | Schneeschmelze: Die Dachrinne ist kaputt, darunter steht eine Zink-Waschwanne.
Ein Mann
DDR | Einen Ossi hab’ ich mal kennengelernt, ein Mensch wie du und ich war das.
Kellnerin, *1949
Reise | 1961 bin ich zur Kur gefahren, nach Usedom, nach Bansin. Ich weiß noch genau, am 13. September war das. Da mußten wir Morgenappell machen, weil der da gestorben, wie heißt der andere noch, nicht Ulbricht … Pieck. Da hatten wir Appell, und da bin ich umgefallen, wahrscheinlich zu lange gestanden. Wie das da sonst war, weiß ich nicht mehr.
Amerikanischer Student
Deutschland/Erster Eindruck | Im Sommer, ich war gerade 17 Jahre alt, besuchte ich Deutschland zum ersten Mal. Weil meine Mutter Deutsche ist, hatte ich schon einige Erwartungen an das Land – erfüllt – und an die Leute – nicht erfüllt; allerdings betrachtete ich vieles durch die rosarote Brille.
Das Land: märchenhaft schön. Ich war in der Gegend von Nürnberg und machte einen Ausflug nach Würzburg, um meine Großmutter zu besuchen. Gepflegte Äcker, ländliche Häuser, keine Zäune, viele Hügel, Wald.
Städtische Landschaften in Franken...
Erscheint lt. Verlag | 31.3.2014 |
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Reihe/Serie | Befragungsbände | Befragungsbände |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aleatorische Literatur • Aleatorische Literatur, Deutsche Geschichte, Echolot, Personalisierte Literatur, Print-on-Demand-Literatur, Kollektivautor • Deutsche Geschichte • eBooks • Echolot • Kollektivautor • Personalisierte Literatur • Print-on-Demand-Literatur • Roman • Romane |
ISBN-10 | 3-641-12264-3 / 3641122643 |
ISBN-13 | 978-3-641-12264-5 / 9783641122645 |
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