Alle Tage (eBook)
432 Seiten
Luchterhand (Verlag)
978-3-641-12835-7 (ISBN)
Ein junger Mann kann nicht mehr in seine osteuropäische Heimat zurückkehren - dort wird Krieg geführt. Er lebt am gesellschaftlichen Rand einer großen deutschen Stadt und ist ein Genie im Erlernen von Sprachen, obwohl er ein nur geringes Interesse daran hat, überhaupt zu sprechen. Höllenfahrt und Passionsgeschichte: Terézia Mora hat einen großen Roman (einen Großstadtroman) geschrieben, der seine Helden in tiefe Abgründe stößt und dennoch nicht böse endet ...
Ausgezeichnet mit dem 'Preis der Leipziger Buchmesse', sensationeller Erfolg bei Literaturkritik und Lesern.
Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman »Das Ungeheuer« erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband »Seltsame Materie«, wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt außerdem zu den renommiertesten Übersetzer*innen aus dem Ungarischen.
Chöre
An einem Samstag vor etwas mehr als vier Jahren kam Abel Nema zu spät zu seiner Hochzeit. Mercedes trug ein schmales schwarzes Kleid mit einem weißen Kragen und einen Strauß weißer Margeriten in der Hand. Er kam wie immer, in zerknitterten schwarzen Klamotten, suchte lange, mit zitternden Fingern nach seinem Identitätsnachweis, es sah so aus, als würde er ihn nicht finden, dann fand er ihn doch, in der Tasche, in der er zuerst nachgesehen hatte. Zur Scheidung, an einem Montag vor…, kam er wieder zu spät, ich habe so was schon geahnt, nach einer Weile weiß man das, schon als noch Zeit genug war, eine Viertelstunde vor dem Termin, als sich Mercedes mit der gemeinsamen Anwältin traf.
Wollen Sie das wirklich? fragte die Anwältin, als sie sie engagierten. Immerhin war er dort einigermaßen pünktlich erschienen, sagte aber anschließend kein Wort, nickte nur zu allem, was Mercedes sagte. Sind Sie sicher? fragte die Anwältin hinterher. Vielleicht sollte jeder seinen eigenen… Nein, sagte Mercedes. Das ist kein Streitfall. Plus die Kostenersparnis.
Es war also schon zu wissen, dass es auch diesmal nicht glatt gehen würde, warum sollte es ausgerechnet diesmal glatt gehen. Sie standen auf dem Gerichtsflur, die Anwältin redete etwas, Mercedes sagte nichts, beide warteten sie. Draußen sammelte sich eine letzte Brüllhitze, als würde der scheidende Sommer mit hochrotem Kopf noch einmal das Maul aufreißen und einen (Mercedes, das ist ihre Assoziation) heiß und verächtlich anhauchen, aber hier drinnen zog es fröstelig kühl den langen, grünlichen Flur herauf.
Als das Handy der Anwältin klingelte, waren es nur noch fünf Minuten bis zum Termin, und, natürlich: er war dran. Mercedes spitzte die Ohren, ob sie ihn sprechen hörte und wie er klang, aber es war nichts zu hören, nur die Echos der Flure und die Anwältin, wie sie Hm-Aha-Verstehe-In-Ordnung sagte.
Er habe, berichtete sie, angerufen, um mitzuteilen, dass er unterwegs sei, das heißt, so gut wie, es gäbe da nämlich ein Problem. – Wieso überrascht mich das nicht? Jedes Mal, wenn sich dieser Mann auf den Weg machen will, wohin auch immer, taucht ein Problem auf. – Das Problem sei diesmal, dass er ein Taxi nehmen müsse, nein, das sei nicht das Problem, das Problem sei, dass er es nicht bezahlen könne, er habe momentan leider so gut wie kein Geld, aber er müsse dieses Taxi nehmen, sonst würde er es nicht bis zum Gericht schaffen, schon gar nicht rechtzeitig.
Verstehe.
Sie standen noch eine Minute nebeneinander auf dem Flur, dann sagte die Anwältin, sie würde jetzt hinausgehen und vor dem Gebäude auf ihn warten. Mercedes nickte und ging auf die Toilette.
Sie musste nicht auf die Toilette, aber draußen auf dem Flur stehen konnte sie auch nicht. Sie wusch sich die Hände, stand mit tropfenden Fingern vor dem Spiegel, sah sich an.
Frauenstimme (singt): Do-o-na no-o-bis pa-a-cem pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.
Männerstimme (singt mit ihr): Do-o-na no-o-bis pa-a-cem pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.
Andere Stimmen (singen mit ihnen): Do-o-na no-o-bis pa-a-cem pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.
Alle: Do-na. No-bis. Pa-a-cem, pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.
Frauenstimme: Do-o-na no-o-bis …
Männerstimme: Do-o-na no-o-bis
Frauenstimme (gleichzeitig): Paa-cem pa-cem.
Männerstimme: Paa-cem pa-cem.
Frauenstimme (gleichzeitig): Doooo-naa no-o-bis.
Andere Stimmen (gleichzeitig): Do-o-na no-o-bis.
Männerstimme (gleichzeitig): Paa-cem, pa-cem.
Andere Stimmen: Paa-cem pa-cem.
Männerstimme (gleichzeitig): Doooo-naa noo-bis.
Frauenstimme (gleichzeitig): Paaa-a-cem.
Andere Stimmen (gleichzeitig): Doooo-naa noo-bis.
Alle: Paaa-a-cem. (Mit ein wenig Konzentration bringt man das alles schon auf die Reihe.)
Auf dem Flur war es nicht zu hören, nur hier: In der Nähe oder weit weg probte ein Chor, oder was ist das, ein Friedensgebet, aber wieso am Montag mittag, Mittagspause, sie verwenden ihre Montagmittagspause, um Dona nobis pacem zu singen. Wie lange schon, keine Ahnung, jedenfalls unermüdlich. Frieden unsrer Seele, Frieden unsrer Seele, Friede, Friede.
Der dunkle Lippenstift ist ungewohnt. Das spitze Lippenherz. Wieso muss man sich für seine Scheidung schminken? Andere Frauen kommen und gehen, schauen sich ebenfalls im Spiegel an, ihre dunklen oder helleren Lippen, Mercedes schaut ihnen durch den Spiegel zu, sie schauen Mercedes zu oder schauen ihr nicht zu, sie gehen, Mercedes bleibt. Mit einem Papierhandtuch den Mund abzuwischen ist riskant. Rotes bleibt in den Härchen drumherum zurück. Himbeersirupmund. Jetzt verkrümmt er sich nach unten. Ich bin weniger ärgerlich als traurig. Friede, Friede, Friede.
Maria von der Gnade der Gefangenenbefreiung, sagte Tatjana zu Erik. Unsere Freundin Mercedes hat eine Art Genie oder was aus Transsylvanien oder wo geheiratet, den sie aus dem Feuer oder so ähnlich gerettet hat.
Eigentlich, sagte Mercedes’ Mutter Miriam, ist alles in Ordnung mit ihm. Ein höflicher, stiller, gutaussehender Mensch. Und gleichzeitig ist nichts in Ordnung mit ihm. Wenn man das auch nicht näher benennen kann. Etwas ist verdächtig. Die Art, wie er höflich, still und gutaussehend ist. Aber vielleicht ist das so, wenn man hochbegabt ist.
Was heißt hier: hoch? Nun gut, er kann was. Einpaar Sprachen. Angeblich. Denn in der Praxis hört man kaum einen Satz von ihm. Das mag ein Symptom sein. Aber die Ursache ist es nicht.
Er hat die gleichen Probleme wie jeder Emigrant: er braucht Papiere und er braucht Sprache, sagte zu einem früheren Zeitpunkt Professor Tibor B. zu seiner damaligen Lebensgefährtin Mercedes. Letzteres hat er so gelöst, dass er einfach perfekt geworden ist, und das gleich zehnmal, und zwar so, das glaubt man einfach nicht, dass er den Großteil seiner Kenntnisse im Sprachlabor erworben hat, so wie ich es sage: von Tonbändern. Es würde mich nicht wundern, wenn er nie mit einem einzigen lebenden Portugiesen oder Finnen gesprochen hätte. Deswegen ist alles, was er sagt, so, wie soll ich sagen, ohne Ort, so klar, wie man es noch nie gehört hat, kein Akzent, kein Dialekt, nichts – er spricht wie einer, der nirgends herkommt.
Ein Glückspilz, sagte jemand namens Konstantin. Ich sage zu ihm: Du bist ein Glückspilz. Da schaut er mich an, als hätte er kein Wort verstanden. Dabei soll das doch, nicht wahr, seine Spezialität sein. Wobei ich persönlich denke, seine eigentliche Spezialität ist es, dass sich Menschen für ihn interessieren, und zwar ohne dass er auch nur das Geringste dafür tut. Man macht sich Gedanken über ihn und ärgert sich hinterher, weil sich herausstellt, dass er einem die ganze Zeit, während man auf ihn eingeredet hat, nur auf den Mund geschaut hat, als besäße allein die Art und Weise, wie man die Frikative bildet, Wichtigkeit für ihn. Der ganze Rest, die Welt, mit Mann und Maus, interessiert ihn nicht die Bohne. In der Welt leben und nicht in der Welt leben. So einer ist er.
Immer etwas etepetete, so ein Rührmichnichtan, aber du täuschst mich nicht, dein Name verrät dich: Nema, der Stumme, verwandt mit dem slawischen Nemec, heute für: der Deutsche, früher für jeden nichtslawischer Zunge, für den Stummen also, oder anders ausgedrückt: den Barbaren. Abel, der Barbar, sagte eine Frau namens Kinga und lachte. Das bist du.
Schlicht und ergreifend Trouble, sagte Tatjana. Das sieht man auf den ersten Blick, es sei denn, man ist blind, es sei denn, man ist Mercedes. Im Wesentlichen, sagt sie, sei es eine Scheinehe. Das sind ihre Worte: Im Wesentlichen. Eine Scheinehe. Womit er beide seiner Probleme gelöst hätte. Gratulieren wir. Und was sie anbelangt…
Wie käme ich dazu, über andere zu urteilen. Es kann Gründe geben, diese sind oft von außen – Mercedes verzieht den Mund, das Gegenüber lächelt –, von außen, von wo aus sonst!, nicht zu sehen. Scheinbar verlieren sie einfach so den Verstand. Da ist dieser Mensch, Abel Nema, so ein hoffnungsvoller, junger, die erste freie Generation!, mit der Welt zu Füßen. Genieße es, für diesen kurzen Moment, den es dauert, denn wie schnell kann es vorbei sein. Kaum hat man sich einmal umgeschaut, bricht etwas auf und aus, sagen wir: ein Bürgerkrieg – Ich kann es immer noch nicht begreifen, praktisch vor unserer Haustür! Was genau begreifst du nicht?–, und das war’s dann, sieh zu, dass du Land gewinnst. Vor zehn, nein, mittlerweile dreizehn Jahren musste A.N. seine Heimat verlassen, das war sicher nicht leicht, seitdem allerdings war alles eher normal. Was man so nennt. Ein Mensch mit bemerkenswerten Talenten, zehn Jahre, zehn Sprachen, gelernt und gelehrt, und auch als Privatperson von einiger Wirkung, schließlich und endlich sogar mit Ehefrau, Stiefkind, Staatsbürgerschaft. Hat seine Nische gefunden, seine ruhige Ecke am Rande der Party, und dann, vor etwas mehr als einem Jahr, einem Samstag, nein, es war schon Sonntag, erwähnte Party, stand er auf, ging hinaus und ist seitdem praktisch nicht mehr vorhanden. Hat sich zurückgezogen in diese skurrile bis lächerliche (alle Kursive: Mercedes) Wohnung mit diesem formidablen Blick zur Bahn und nichts als einer Matratze und einer Standleitung, und macht nichts, außer von überall auf der Welt skurrile bis lächerliche Geschichten für einen ominösen Agenten für skurrile bis lächerliche Wurstblätter zusammenzusuchen, sieben Tage die Woche. Was soll ich dazu noch...
Erscheint lt. Verlag | 15.8.2013 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | eBooks • Georg-Büchner-Preis • Kunstpreis Berlin • Kunstpreis Berlin, Lesen! Empfohlen von Elke Heidenreich, Mara-Cassens-Preis, Preis der Leipziger Buchmesse, Preis der LiteratourNord • Lesen! Empfohlen von Elke Heidenreich • Mara-Cassens-Preis • Preis der Leipziger Buchmesse • Preis der LiteratourNord • Roman • Romane |
ISBN-10 | 3-641-12835-8 / 3641128358 |
ISBN-13 | 978-3-641-12835-7 / 9783641128357 |
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