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Alte Meister (eBook)

Komödie
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
310 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78500-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alte Meister -  Thomas Bernhard
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Das Durchbrechen einer jahrzehntealten Gewohnheit führt in dem 1985 zuerst erschienenen Prosaband mit dem Untertitel »Komödie« von Thomas Bernhard dazu, daß der Privatgelehrte Atzbacher und der Musikphilosoph Reger sich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Wiener Kunsthistorischen Museum treffen. Atzbacher nimmt diese außergewöhnliche Verabredung zum Anlaß, den in seine Betrachtung versunkenen Reger zu beobachten. Der Zweiundachtzigjährige, der seit dreißig Jahren aus Wien für die Times Musikkritiken schreibt, hat im Kunsthistorischcn Museum seine Kunstbetrachtung zur Perfektion entwickelt: Sie besteht darin, jedes Kunstwerk, das für vollendet gehalten wird, so lange zu studieren, bis dessen Fehler aufgedeckt sind. Alle Alten Meister und Großen Geister sind unvollkommen. Daß Kunst, Musik, Philosophie und Literatur jedoch nicht das »Höchste, Allerhöchste« sind, wird Reger bewußt, als seine Frau stirbt, mit der er mehr als drei Jahrzehnte verheiratet war.



<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Ober&ouml;sterreich). Er z&auml;hlt zu den bedeutendsten &ouml;sterreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-B&uuml;chner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 B&auml;nden.</p>

Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.

Es ist ganz klar, daß eines dieser Tintorettogemälde eine Fälschung ist, sagte der Engländer dann, sagte Reger, entweder ist das hier gefälscht, das hier im Kunsthistorischen Museum, oder meins, das über meinem Bett hängt in meinem Schlafzimmer in Wales. Eins von beiden muß eine Fälschung sein, sagte der Engländer und drückte seinen kräftigen Körper für kurze Zeit an die Bordone-Saal-Sitzbankrückenlehne; gleich richtete er sich aber wieder auf und sagte, da hat mein Neffe also doch recht gehabt. Ich habe meinen Neffen verflucht, denn ich war mir doch sicher, daß er mir einen Unsinn erzählt hat, wie es die Art dieses Neffen ist, mich nämlich von Zeit zu Zeit zu beunruhigen in irgendeiner Sache oder mich vor den Kopf zu stoßen; er ist übrigens mein Lieblingsneffe, obwohl er mir zeit seines Lebens auf die Nerven geht und im Grunde nichts wert ist. Aber er ist mein Lieblingsneffe. Er ist der fürchterlichste aller meiner Neffen, aber mein Lieblingsneffe. Er hat richtig gesehen, sagte der Engländer, tatsächlich, der Tintoretto hier ist mit meinem in Wales identisch. Aber es gibt zwei Tintorettos, sagte der Engländer dann und lehnte sich wieder an der Bordone-Saal-Sitzbank an, um sich gleich wieder aufzurichten. Einer von beiden ist falsch, sagte er, und ich frage mich natürlich, ist meiner falsch, oder der hier im Kunsthistorischen Museum. Möglich ist es ja, daß das Kunsthistorische Museum eine Fälschung besitzt und daß mein Tintoretto echt ist, das ist sogar, wie ich die Zusammenhänge meiner Glasgow-Tante kenne, wahrscheinlich. Schon kurz nachdem Tintoretto diesen Weißbärtigen Mann gemalt hat, ist dieser Weißbärtige Mann ja nach England verkauft worden, zuerst an die Familie des Herzogs von Kent, dann an meine Glasgow-Tante. Übrigens ist der heutige Herzog von Kent mit einer Österreicherin verheiratet, das wissen Sie doch, sagte der Engländer plötzlich zu mir, sagte Reger, einer kurzen Ablenkung zuliebe, um dann gleich darauf zu sagen, daß mit Sicherheit der Tintoretto hier, also der Weißbärtige Mann hier im Kunsthistorischen Museum, eine Fälschung sei. Eine ganz ausgezeichnete Fälschung, sagte der Engländer dann. Ich werde sehr bald herausbekommen, welcher Weißbärtige Mann von Tintoretto nun der echte und welcher der gefälschte ist, sagte der Engländer, sagte Reger, und dann, daß es aber auch durchaus möglich sei, daß beide Weißbärtigen Männer echt sind, also von Tintoretto und echt sind. Nur einem so großen Künstler wie Tintoretto mag es, so der Engländer, so Reger, tatsächlich gelungen sein, ein zweites Gemälde nicht als ein vollkommen gleiches, sondern als vollkommen dasselbe zu malen. Das wäre dann immerhin eine Sensation, sagte der Engländer, sagte Reger, und ging aus dem Bordone-Saal hinaus. Er hat sich nur mit einem kurzen Good bye von mir verabschiedet, mit dem gleichen Good bye auch noch von Irrsigler, der Zeuge der ganzen Szene gewesen war, so Reger zu mir. Wie die Sache ausgegangen ist, weiß ich nicht, sagte Reger, ich habe mich nicht mehr darum gekümmert. Jedenfalls, der Engländer war derjenige, so Reger, der einmal auf der Bordone-Saal-Sitzbank gesessen ist, wie ich in den Bordone-Saal eingetreten bin. Kein anderer. Reger bildet sich die Bordone-Saal-Sitzbank seit über dreißig Jahren ein, er behauptet, daß er nicht ordentlich, das heißt, nicht seinem Kopf entsprechend denken könne, wenn er nicht auf der Bordone-Saal-Sitzbank sitzt. Im Ambassador habe ich sehr gute Gedanken, so Reger immer wieder einmal, auf der Bordone-Saal-Sitzbank im Kunsthistorischen Museum aber habe ich die besseren, zweifellos immer die besten Gedanken, kommt im Ambassador kaum ein sogenanntes philosophisches Denken in Gang, ist es doch auf der Bordone-Saal-Sitzbank eine Selbstverständlichkeit. Im Ambassador denke ich wie jeder andere auch denkt, das Alltägliche und das alltäglich Notwendige, auf der Bordone-Saal-Sitzbank aber denke ich immer mehr das Außergewöhnliche und das Außerordentliche. Beispielsweise sei es ihm im Ambassador nicht möglich, die Sturmsonate in derselben konzentrierten Weise wie auf der Bordone-Saal-Sitzbank zu erläutern und einen Vortrag zu halten wie den über die Kunst der Fuge in allen seinen Tiefen und in allen seinen Besonder- und Absonderheiten, sei ihm im Ambassador völlig unmöglich, dazu fehlt im Ambassador jede Voraussetzung, so Reger. Auf der Bordone-Saal-Sitzbank sei es ihm möglich, selbst die kompliziertesten Gedanken aufzugreifen und zu verfolgen und schließlich zu einem interessanten Ergebnis zusammenzubringen, im Ambassador nicht. Aber das Ambassador hat natürlich eine Reihe von Vorzügen, die das Kunsthistorische Museum nicht hat, sagte Reger, ganz abgesehen davon, daß ich jedesmal von der Toilette im Ambassador begeistert bin, seit diese Toilette kürzlich neugebaut worden ist, wissen Sie, das ist in Wien, wo ja tatsächlich alle Toiletten so verwahrlost sind wie in keiner anderen größeren Stadt Europas, doch eine Seltenheit, eine Toilette vorzufinden, in welcher es einem nicht den Magen umdreht und in welcher man sich nicht die ganze Zeit, während man sich in ihr aufhält, Augen und Nase unbedingt zuhalten muß; die Wiener Toiletten sind insgesamt ein Skandal, selbst auf dem unteren Balkan finden Sie nicht eine einzige solche verwahrloste Toilette, sagte Reger. Wien hat keine Toilettenkultur, sagte er, Wien ist ein einziger Toilettenskandal, selbst in den berühmtesten Hotels der Stadt befinden sich skandalöse Toiletten, die scheußlichsten Aborte finden Sie in Wien, so scheußlich wie in keiner anderen Stadt, wenn Sie Wasser ablassen müssen, erleben Sie Ihr Wunder, sagte er. Wien ist ganz oberflächlich wegen seiner Oper berühmt, aber tatsächlich gefürchtet und verabscheut wegen seiner skandalösen Toiletten. Die Wiener, ja die Österreicher insgesamt, haben keine Toilettenkultur, auf der ganzen Welt finden Sie keine derartig verschmutzten und übelriechenden Aborte, sagte Reger. In Wien auf den Abort gehen zu müssen, ist meistens eine Katastrophe, man macht sich in ihnen, wenn man kein Akrobat ist, schmutzig und der Gestank in ihnen ist so groß, daß er sich oft auf Wochen in den Kleidern festsetzt. Überhaupt, sagte Reger, sind die Wiener schmutzig, es gibt keine europäischen Großstädter, die schmutziger sind, wie es ja bekannt ist, daß die schmutzigsten europäischen Wohnungen die Wiener Wohnungen sind, die Wiener Wohnungen sind noch viel schmutziger als die Wiener Toiletten. Die Wiener sagen andauernd, auf dem Balkan ist es so schmutzig, überall hören Sie das Gerede, aber in Wien ist es noch hundertmal schmutziger als auf dem Balkan, so Reger. Wenn Sie mit einem Wiener in seine Wohnung gehen, bleibt Ihnen meistens vor Schmutz der Verstand stehen. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber die Regel ist doch, daß die Wiener Wohnungen die schmutzigsten Wohnungen auf der Welt sind. Immer denke ich, was denken sich die Ausländer, wenn sie auf die Toilette gehen müssen in Wien, was denken sich diese Leute, die ja doch saubere Toiletten gewohnt sind, wenn sie in diese schmutzigsten Toiletten von ganz Europa gehen müssen. Die Leute gehen nur schnell ihr Wasser ablassen und kommen entsetzt vor soviel Schmutz im Pissoir zurück. Überall dieser übelstinkende Geruch auch in allen öffentlichen Aborten, gleich, ob Sie auf den Bahnhöfen auf den Abort gehen oder weil es Sie in der Untergrundbahn dazu nötigt, Sie müssen einen der schmutzigsten Aborte von Europa aufsuchen. Auch und vor allem in den Wiener Kaffeehäusern sind die Toiletten so schmutzig, daß es einen ekelt, sagte Reger. Einerseits dieser größenwahnsinnige gigantische Mehlspeisenkult, andererseits diese fürchterlich schmutzigen Toiletten, sagte er. In vielen dieser Toiletten kommt es einem vor, als wäre in ihnen schon jahrelang nicht mehr geputzt worden. Die Kaffeehausbesitzer schützen einerseits ihre Mehlspeisen vor der geringsten Zugluft, was den Mehlspeisen natürlich zugute kommt, legen andererseits aber nicht den geringsten Wert auf die Sauberkeit in ihren Aborten. Wehe, sagte Reger, wenn man einmal bevor man noch mit dem Mehlspeiseessen begonnen hat, auf die Toilette gehen muß in einem dieser zum Großteil doch recht berühmten Kaffeehäuser, da vergeht es einem, wenn man aus der Toilette herauskommt, gründlich, auch nur einen Bissen von der angebotenen oder gar schon servierten Mehlspeise zu essen. Aber auch die Wiener Restaurants sind schmutzig, ich behaupte, sie sind die schmutzigsten in ganz Europa. Alle Augenblicke sind Sie mit einem vollkommen bekleckerten Tischtuch konfrontiert und wenn Sie den Kellner darauf aufmerksam machen, daß das Tischtuch bekleckert ist und Sie nicht die Absicht haben, auf einem von vorn bis hinten bekleckerten Tischtuch Ihre Mahlzeit einzunehmen, wird dieses vollkommen beklekkerte Tischtuch nur widerwillig weggenommen und durch ein neues ersetzt, Sie ziehen, wenn Sie die Entfernung eines schmutzigen Tischtuchs verlangen, doch nur wütende und tatsächlich gemeingefährliche Blicke auf sich. In den meisten Gasthäusern bekommen Sie ja nicht einmal ein Tischtuch auf den Tisch und wenn Sie darum bitten, man möge doch den ärgsten Schmutz von der schmutzigen, sehr oft tatsächlich biernassen Platte wischen, bekommen Sie eine ungezogene Maulerei zu hören, sagte Reger. Die Toilettenfrage und die Tischdeckenfrage sind in Wien nicht gelöst, sagte Reger. In jeder Großstadt der Welt, und ich habe schließlich beinahe alle bereist und die meisten von ihnen mehr als nur oberflächlich kennengelernt, bekommen Sie als Selbstverständlichkeit ein sauberes Tischtuch auf den Tisch, bevor Sie mit Ihrer Mahlzeit anfangen. In Wien ist ein sauberes Tischtuch oder wenigstens eine saubere Tischplatte durchaus keine Selbstverständlichkeit. Und mit den Toiletten verhält...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adolf-Grimme-Preis 1972 • Belletristische Darstellung • Franz Theodor Csokor-Preis 1972 • Gemäldegalerie • Grillparzer-Preis 1972 • Kunstbetrachtung • Kunsthistorisches Museum • Prix Medicis 1988 • ST 1553 • ST1553 • suhrkamp taschenbuch 1553 • Wien
ISBN-10 3-518-78500-1 / 3518785001
ISBN-13 978-3-518-78500-3 / 9783518785003
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