Holzfällen (eBook)
336 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78490-7 (ISBN)
Holzfällen ist die Geschichte einer »Erregung«, die Geschichte eines »künstlerischen Abendessens« in Wien, in der Gentzgasse. Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, sitzt auf dem Ohrensessel und beobachtet die Gesellschaft, die auf den Schauspieler des Burgtheaters wartet, der versprochen hatte, gegen halb zwölf zu diesem Essen zu kommen.
<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.</p>
Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.
Wir glauben, wir sind zwanzig und handeln danach und sind in Wirklichkeit über fünfzig und sind total erschöpft, dachte ich, gehen mit uns wie mit zwanzig um und ruinieren uns und gehen mit allen andern auch so um, als wären wir zwanzig und sind fünfzig und halten in Wirklichkeit gar nichts mehr aus, vergessen auch, daß wir ein Leiden haben, mehrere, viele Leiden zusammen, sogenannte Todeskrankheiten, mit welchen wir schon die längste Zeit zu existieren haben, was wir aber ignorieren und gar nicht für wahr halten die längste Zeit, während es doch immer da ist, fortwährend, lebenslänglich und uns eines Tages umbringt, ja gehen mit uns um, als hätten wir noch die Kräfte, die wir vor dreißig Jahren gehabt haben, während wir nicht einmal mehr einen Bruchteil dieser Kräfte vor dreißig Jahren haben, nichts mehr von diesen Kräften, dachte ich auf dem Ohrensessel. Denn vor dreißig Jahren hat es mir nicht das geringste ausgemacht, zwei, drei Nächte hintereinander auf zu sein und beinahe ununterbrochen zu trinken, gleich was, und mich als Unterhaltungsmaschine zu produzieren, mehrere Nächte allen möglichen Leuten, die damals alle Freunde gewesen sind, den Narren zu machen rund um die Uhr, wie gesagt wird, ohne den geringsten Schaden zu nehmen und ich bin ja tatsächlich viele Jahre, so denke ich jetzt, erst um drei oder vier Uhr früh nach Hause gekommen, also erst im Vogelgezwitscher ins Bett, ohne daß es mir im geringsten geschadet hätte. Jahrelang habe ich den Apostelkeller und alle möglichen unterirdischen Lokale in der Inneren Stadt gegen elf aufgesucht, um sie nicht vor drei oder vier Uhr früh zu verlassen und ich habe mich in diesen Nächten immer voll und also völlig verausgabt, wie gesagt werden kann, mit jener äußersten Rücksichtslosigkeit, die mir damals zueigen gewesen ist und die mir damals, wie ich heute denke, überhaupt nicht geschadet hat. Und gerade mit der Joana habe ich so viele Nächte verplaudert und vertrunken, daß sie gar nicht gezählt werden können, dachte ich auf dem Ohrensessel. Tatsächlich hatte ich überhaupt kein Geld und auch sonst nichts und habe doch jahrelang die Nächte bis zum äußersten verplaudert und vertrunken, verredet und vertanzt, kann ich sagen, gerade mit der Joana und ihrem Mann und mit der Jeannie Billroth und vor allem immer wieder mit dem Ehepaar Auersberger. Damals habe ich alle Kräfte, die ein junger Mensch haben kann, gehabt und mich skrupellos von allen, die etwas gehabt haben, aushalten lassen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Ich habe keinen Groschen in der Tasche gehabt und habe mir doch alles leisten können, dachte ich auf dem Ohrensessel, die Gäste im Musikzimmer beobachtend. Und so viele Jahre bin ich tagtäglich, muß ich sagen, schon am späteren Nachmittag zur Joana in die Simmeringer Hauptstraße hinaus, vorher noch zum Dittrich um die Weinflaschen aufzunehmen in meinen Armen, um mit der Joana zusammen zu sein bis in der Frühe und mit dem ersten Einundsiebziger in die Stadt zurück zu fahren oder ganz einfach von ihr aus zu Fuß die Simmeringer Hauptstraße zurück, den Rennweg hinunter, über den Schwarzenbergplatz bis nach Währing. Das waren noch Zeiten, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie noch die Pferdewagen vor den Milchgeschäften Halt gemacht haben in der Nacht und ich mitten auf dem Rennweg und quer über den Schwarzenbergplatz und den vollkommen leeren Ring entlang nach Hause gehen habe können ohne fürchten zu müssen, überfahren zu werden. Wenn überhaupt einen Menschen, so bin ich bei diesen Gelegenheiten doch nur Meinesgleichen und das heißt, einem Betrunkenen begegnet, und ein die Nacht durchkreuzendes Automobil war eine Seltenheit. Niemehr im Leben habe ich so viele italienische Arien gesungen, wie damals auf dem Weg von der Simmeringer Hauptstraße auf den Rennweg und über den Schwarzenbergplatz nach Währing, dachte ich auf dem Ohrensessel. Damals hatte ich die Kraft, zu gehen und zu singen, dachte ich auf dem Ohrensessel, heute habe ich nicht mehr die Kraft, zu gehen und zu sprechen, das ist der Unterschied. Dreißig Jahre ist es her, daß ich ohne weiteres an die fünfzehn Kilometer in der Nacht nach Hause gegangen bin, dachte ich auf dem Ohrensessel, singend, in meiner damaligen Mozart- und Verdibegeisterung dem Rausch freien Lauf lassend. Dreißig Jahre ist es her, dachte ich auf dem Ohrensessel, daß ich auf diese Weise Operngeschichte gemacht habe, dreißig Jahre. Tatsächlich hätte ich ohne die Joana, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, einen anderen Weg genommen, wäre möglicherweise den entgegengesetzten gegangen, wenn ich, diesen Gedanken noch weiter zurück verfolgend, den Auersberger nicht kennen gelernt hätte. Denn den Auersberger kennen gelernt zu haben, bedeutete im Grunde die Umkehr zum Künstlerischen, von welchem ich mich ja nach dem Abschluß des Mozarteums schon gänzlich und, wie ich damals glaubte, für immer abgekehrt hatte; damals, mit dem Mozarteumsabgang, hatte ich ja plötzlich mit dem sogenannten Künstlerischen nichts mehr zu tun haben wollen, mich für das Gegenteil dessen, das ich als das Künstlerische bezeichne, entschieden gehabt, während die Begegnung mit dem Auersberger, wie ich jetzt auf dem Ohrensessel wieder dachte, noch einmal eine totale Kehrtwendung verursacht hatte in mir. Und erst die Begegnung mit der Joana, mit diesem Ausbund des Künstlertums, dachte ich. Für das Künstlerische, nicht für die Kunst, immer nur für das Künstlerische hatte ich mich damals vor fünfunddreißig Jahren entschieden, endgültig, dachte ich auf dem Ohrensessel, wenn ich auch gar nicht wußte, was das ist, das Künstlerische, aber ich hatte mich für das Künstlerische entschieden, wenn ich auch nicht wußte, für was für ein Künstlerisches. Ich hatte mich ganz einfach für den Auersberger entschieden, für jenen Auersberger, der er damals, vor fünfunddreißig, vor vierunddreißig, ja noch vor dreiunddreißig Jahren gewesen ist, der künstlerische Auersberger. Und für die Joana, die durch und durch künstlerische Joana. Und für Wien. Und für die künstlerische Welt, dachte ich auf dem Ohrensessel. Dem Auersberger verdanke ich, daß ich die Kehrtwendung in die künstlerische Welt gemacht habe, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, und der Joana und allem, das damals, eben vor fünfunddreißig Jahren und vor zweiunddreißig Jahren noch, mit dem Auersberger und mit der Joana zusammenhing, das ist die Wahrheit, dachte ich auf dem Ohrensessel. Mehrere Male sagte ich die künstlerische Welt vor mich hin, auch das künstlerische Leben, tatsächlich laut und so, daß es die Leute im Musikzimmer hören mußten und auch gehört haben, denn sie schauten aufeinmal alle auf mich, aus dem Musikzimmer heraus in das Vorzimmer, ohne mich tatsächlich sehen zu können, weil sie mich gehört hatten, wie ich das künstlerische Leben gesagt habe und die künstlerische Welt und diese Wörter immer wieder wiederholt hatte, und ich dachte, was diese Begriffe künstlerische Welt und künstlerisches Leben für mich damals bedeutet haben und mir im Grunde ja auch heute noch bedeuten, mehr oder weniger alles, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, und wie abgeschmackt es doch von den Auersbergerischen ist, ihr Abendessen, besser, ihr Nachtmahl, wie in Wien gesagt wird, ein künstlerisches Abendessen zu nennen. Wie heruntergekommen sie sind, die Auersbergerischen, dachte ich auf dem Ohrensessel, die Auersbergerischen, die in meinen Augen längst und schon vor Jahrzehnten künstlerischen und überhaupt geistigen und tatsächlich ja auch seelischen Bankrott gemacht haben. Aber alle diese Leute im Musikzimmer hatten ja, wie ich künstlerische Welt gesagt hatte und künstlerisches Leben es so gehört, wie wenn ich gesagt hätte, künstlerisches Abendessen wie die Eheleute Auersberger und es war ihnen, außer der Lautstärke, mit welcher ich künstlerische Welt und künstlerisches Leben gesagt hatte, nichts aufgefallen, sie merkten die Bedeutung gar nicht, die dieses künstlerische Leben und künstlerische Welt für mich gehabt hat, während ich es ausgesprochen habe. Alle diese Leute waren ja einmal tatsächlich Künstler oder wenigstens Kunsttalente, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, jetzt sind sie alle nurmehr noch ein einziges Kunstgesindel, das mit Kunst und also mit künstlerisch eben nicht mehr gemeinsam hat, als das Abendessen der Eheleute Auersberger. Alle diese Leute, die einmal tatsächlich Künstler oder wenigstens künstlerisch gewesen sind, dachte ich auf dem Ohrensessel, sind nurmehr noch die Larven und die Hülsen derer, die sie einmal gewesen sind; ich brauche nur zu hören, was sie sagen, ich brauche sie nur anzuschauen, ich brauche nur mit ihren Erzeugnissen in Kontakt zu kommen, ich empfinde das gleiche, das ich jetzt in Zusammenhang mit diesem Nachtmahl empfinde, mit diesem abgeschmackten künstlerischen Abendessen. Was in diesen dreißig Jahren aus allen diesen Leuten geworden ist, dachte ich, was alle diese Menschen in diesen dreißig Jahren aus sich gemacht haben. Und was ich selbst in diesen dreißig Jahren aus mir gemacht habe, dachte ich. In jedem Fall ist es deprimierend, was diese Leute in diesen dreißig Jahren aus sich gemacht haben, was ich aus mir gemacht habe, aus allen diesen einmal glücklichen Zuständen und Umständen haben alle diese Leute deprimierende Zustände und deprimierende Umstände gemacht, dachte ich auf dem Ohrensessel, alles haben sie zu etwas durch und durch Deprimierendem gemacht, ihr ganzes Glück zu einer einzigen Depression, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie ich selbst aus meinem Glück eine einzige Depression gemacht habe. Denn zweifellos waren alle diese Leute einmal, das...
Erscheint lt. Verlag | 22.10.2012 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Adolf-Grimme-Preis 1972 • Belletristische Darstellung • Franz Theodor Csokor-Preis 1972 • Grillparzer-Preis 1972 • Kulturbetrieb • Prix Medicis 1988 • ST 1523 • ST1523 • suhrkamp taschenbuch 1523 • Wien |
ISBN-10 | 3-518-78490-0 / 3518784900 |
ISBN-13 | 978-3-518-78490-7 / 9783518784907 |
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