Duddits - Dreamcatcher (eBook)
896 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-12317-8 (ISBN)
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.
Kapitel 1 – McCarthy
1
Jonesy hätte den Typ fast erschossen, als er aus dem Wald kam. Wie knapp war es? Noch ein Pfund Druck auf den Abzug des Garand, vielleicht auch nur ein halbes Pfund. Später, mit der Hellsichtigkeit, die manchmal auf das Entsetzen folgt, wünschte er, er hätte geschossen, bevor er die orangefarbene Mütze und Warnweste sah. Richard McCarthy umzubringen hätte nicht schaden können; es wäre sogar gut gewesen. Es hätte sie alle retten können, hätte er McCarthy erschossen.
2
Pete und Henry waren zu Gosselin’s Market gefahren, dem nächsten Laden, um ihre Vorräte an Brot, Dosengerichten und Bier aufzustocken, den Grundnahrungsmitteln also. Sie hatten noch reichlich für zwei Tage, aber im Radio hieß es, es würde bald schneien. Henry hatte seinen Hirsch schon erlegt, eine große Hirschkuh, und Jonesy hatte so das Gefühl, dass sich Pete eher für ihren Biervorrat interessierte als dafür, selbst einen Hirsch zu schießen. Für Pete Moore war die Jagd ein Hobby, Bier aber eine Religion. Der Biber war irgendwo dort draußen, und da Jonesy im Umkreis von fünf Meilen keinen Gewehrschuss gehört hatte, nahm er an, dass der Biber, genau wie er selbst, noch auf der Lauer lag.
Gut siebzig Meter von ihrem Camp entfernt gab es in einem alten Ahornbaum einen Hochsitz, und dort saß Jonesy, trank Kaffee und las einen Krimi von Robert B. Parker, als er etwas sich nähern hörte und das Buch und die Thermoskanne beiseitelegte. In anderen Jahren hätte er vielleicht vor Aufregung den Kaffee verschüttet, aber diesmal nicht. Diesmal nahm er sich sogar noch die paar Sekunden Zeit, den knallroten Verschluss der Thermoskanne zuzuschrauben.
Die vier kamen seit sechsundzwanzig Jahren in der ersten Novemberwoche zur Jagd hier herauf, wenn man die Male mitzählte, die Bibers Dad sie mitgenommen hatte, und Jonesy hatte sich nie um diesen Hochsitz im Baum geschert. Niemand hatte sich dafür interessiert; es war einfach zu beengt dort. Doch in diesem Jahr war es Jonesys Lieblingsplatz geworden. Die anderen dachten, sie wüssten, warum, aber sie wussten nur die Hälfte.
Mitte März 2001 war Jonesy von einem Auto angefahren worden, als er in Cambridge über die Straße ging, ganz in der Nähe des Emerson College, wo er unterrichtete. Er hatte sich einen Schädelbruch zugezogen, sich zwei Rippen gebrochen und die Hüfte zertrümmert, die mit einer exotischen Mischung aus Teflon und Metall ersetzt worden war. Der Mann, der ihn angefahren hatte, ein emeritierter Geschichtsprofessor der Boston University, litt – zumindest laut seines Anwalts – an einer Frühform von Alzheimer und verdiente eher Mitleid als Strafe. Allzu oft, dachte Jonesy, hatte niemand Schuld, wenn sich der Staub einmal gelegt hatte. Und selbst wenn, was nützte es? Man musste trotzdem mit dem leben, was übrig blieb, und sich damit trösten, dass es, wie ihm die Leute tagein, tagaus sagten (bis sie die ganze Sache vergaßen), viel schlimmer hätte kommen können.
Und das hätte es tatsächlich. Er hatte einen sprichwörtlichen Dickschädel, und der Bruch heilte. Er konnte sich zwar an die Stunde vor dem Unfall in der Nähe des Harvard Square überhaupt nicht erinnern, aber sonst war seinem Hirnkasten nichts passiert. Seine Rippen heilten binnen eines Monats. Am schlimmsten war es mit der Hüfte, aber im Oktober brauchte er schon keine Krücken mehr, und nennenswert humpelte er meist erst gegen Abend.
Pete, Henry und der Biber dachten, er würde wegen seiner Hüfte und nur seiner Hüfte wegen den Hochsitz im Baum dem feuchten, kalten Waldboden vorziehen, und sicherlich spielte seine Hüfte dabei auch eine Rolle, bloß eben nicht die einzige. Er hatte ihnen verschwiegen, dass er kaum noch Lust hatte, einen Hirsch zu schießen. Sie hätten es nicht fassen können. Ja, es bestürzte Jonesy auch selbst. Aber da war etwas Neues in sein Leben getreten, womit er nie gerechnet hatte, bis sie am elften November hier heraufgekommen waren und er sein Gewehr ausgepackt hatte. Er fand den Gedanken zu jagen nicht abstoßend, nein, ganz und gar nicht; er verspürte bloß überhaupt kein Bedürfnis danach. Der Tod hatte ihn an einem sonnigen Märztag gestreift, und Jonesy wollte das nicht noch einmal erleben, auch wenn er hier eher austeilte als einsteckte.
3
Es wunderte ihn schon, dass ihm der Aufenthalt im Camp immer noch gefiel, in mancher Hinsicht sogar besser als früher. Die Nächte durchzuquatschen – über Bücher und Politik und Kram aus ihrer Kindheit und ihre Zukunftspläne. Sie waren noch keine vierzig, noch jung genug, um Pläne zu haben, sogar viele Pläne, und die alten Bande waren noch stark.
Und auch die Tage waren schön – die Stunden auf dem Hochsitz, wenn er ganz allein war. Er nahm einen Schlafsack mit und schlüpfte bis zur Taille hinein, wenn ihm kalt wurde, hatte ein Buch und einen Walkman dabei. Nach dem ersten Tag hatte er aufgehört, Kassetten zu hören, und hatte bemerkt, dass ihm die Musik des Waldes besser gefiel – das seidige Rauschen des Winds in den Kieferbäumen, der rostige Ruf der Krähen. Er las ein wenig, trank Kaffee, las dann wieder ein bisschen, kämpfte sich manchmal aus dem Schlafsack (der so rot wie ein Bremslicht war) und pinkelte vom Hochsitz hinab. Er war ein Mann mit einer großen Familie und einem großen Kollegenkreis, ein geselliger Mensch, der die vielfältigen Beziehungen genoss, die ihm Familie, Kollegen (und Studenten natürlich, dieser unerschöpfliche Strom von Studenten) boten und der es allen recht machen konnte. Und erst hier draußen und hier oben merkte er, dass die Stille durchaus auch noch ihren Reiz hatte, und zwar einen starken. Es war, als würde man nach langer Trennung einem alten Freund wieder begegnen.
»Bist du dir sicher, dass du da rauf willst?«, hatte ihn Henry gestern Morgen gefragt. »Du bist auch herzlich eingeladen, mit mir auf die Pirsch zu gehen. Wir werden dein Bein auch nicht überanstrengen – versprochen.«
»Lass ihn«, hatte Pete gesagt. »Er ist gern da oben. Nicht wahr, Jones-Boy?«
»Irgendwie schon«, hatte er geantwortet, nicht willens, mehr zu sagen – wie sehr er es in Wirklichkeit genoss, zum Beispiel. Manches wagte man selbst seinen besten Freunden nicht anzuvertrauen. Und manches wussten die besten Freunde ja ohnehin.
»Ich sag dir was«, hatte der Biber gesagt. Er nahm einen Bleistift, steckte ihn sich in den Mund und nagte daran herum – seine älteste, liebste Angewohnheit schon seit der ersten Klasse. »Ich mag es, wenn ich wiederkomme und du da oben bist – wie ein Matrose im Mastkorb in einem dieser blöden Hornblower-Bücher. Du hältst Ausschau.«
»Schiff ahoi!«, hatte Jonesy gesagt, und sie hatten alle gelacht, und Jonesy wusste, was der Biber damit meinte. Er spürte es. Ausschau halten. Einfach nur seinen Gedanken nachhängen und Ausschau halten – nach Schiffen oder Haifischen oder was sonst auch immer. Die Hüfte tat ihm weh, wenn er hinunterstieg, der Rucksack mit seinem Kram drin lastete ihm schwer auf dem Rücken, und er kam sich lahm und unbeholfen vor auf den hölzernen Sprossen, die an den Stamm des Ahornbaums genagelt waren, aber das war schon okay. Nein, sogar gut so. Alles änderte sich, und es wäre Blödsinn zu glauben, dass alles immer nur schlimmer wurde.
Das dachte er zumindest damals.
4
Als er das Rascheln im Gebüsch hörte und das leise Knacken eines Zweigs – Geräusche, die fraglos von einem sich nähernden Hirsch stammten –, fiel Jonesy etwas ein, was sein Vater oft gesagt hatte: Man kann sein Glück nicht zwingen. Lindsay Jones war einer dieser ewigen Verlierer gewesen und hatte wenig gesagt, was es wert gewesen wäre, sich zu merken, aber das war so ein Satz, und hier war schon der Beweis: Nur Tage nachdem er beschlossen hatte, ein für alle Mal mit der Hirschjagd Schluss zu machen, lief ihm da einer direkt vor die Flinte, und den Geräuschen nach sogar ein kapitaler, bestimmt ein Bock, vielleicht so groß wie ein Mensch.
Dass es ein Mensch hätte sein können, wäre Jonesy nie in den Sinn gekommen. Sie waren hier mitten in der Wildnis, fünfzig Meilen nördlich von Rangely, und die nächsten Jäger waren zwei Stunden Fußmarsch entfernt. Bis zur nächsten befestigten Straße, die schließlich zu Gosselin’s Market führte (bier köder jagdscheine lotterielose), waren es mindestens sechzehn Meilen.
Tja, dachte er, ich hab’s ja nicht direkt geschworen oder so.
Nein, einen Schwur hatte er nicht geleistet. Im nächsten November saß er vielleicht mit einer Nikon hier oben statt mit einem Garand-Gewehr, aber es war ja noch nicht nächstes Jahr, und er hatte das Gewehr griffbereit. Und einem geschenkten Hirsch wollte er nicht ins Maul schauen.
Jonesy schraubte den roten Verschluss auf die Thermoskanne und stellte sie beiseite. Dann streifte er den Schlafsack ab wie einen großen, wattierten Strumpf (und zuckte dabei zusammen, als es in der Hüfte kniff) und nahm sein Gewehr. Es war nicht mehr nötig durchzuladen und dabei dieses laute Ratschen zu erzeugen, das Hirsche so fürchteten; alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab, und die Waffe war schussbereit, sobald er sie entsichert hatte. Das tat er, als er fest auf beiden Beinen stand. Die altbekannte Aufregung stellte sich nicht ein; es war nur noch ein Rest davon geblieben: Sein Puls war gestiegen, und darüber freute er sich. Seit seinem Unfall freute er sich über jedes solcher Lebenszeichen. Es war, als gäbe es ihn nun doppelt, einmal als den, der er war, ehe er überfahren wurde, und einmal den umsichtigeren, älteren Kerl, der im Krankenhaus wieder aufgewacht war … wenn...
Erscheint lt. Verlag | 4.6.2013 |
---|---|
Übersetzer | Jochen Schwarzer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Dreamcatcher |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Aliens • Außerirdische • Boston • Down-Syndrom • Dreamcatcher • Dreamcatcher, Traumfänger, Down-Syndrom, Maine, Außerirdische, Aliens, Boston • eBooks • Horror • Maine • Traumfänger |
ISBN-10 | 3-641-12317-8 / 3641123178 |
ISBN-13 | 978-3-641-12317-8 / 9783641123178 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 3,4 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich