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Der futurologische Kongreß (eBook)

Aus Ijon Tichys Erinnerungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
138 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74318-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der futurologische Kongreß - Stanisław Lem
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Hier bleibt Ijon Tichy, der Held so vieler lemscher Erzählungen, ausnahmsweise auf dem Boden, das heißt auf der Erde. Es bedeutet allerdings nicht, dass es ihm hier langweilig würde, ganz im Gegenteil: Er wird beschossen, eingefroren, aufgetaut, betäubt, benebelt, beglückt und bekommt schließlich noch einen Rattenschwanz verpasst. Der futurologische Kongreß ist eine der großen Dystopien des 20. Jahrhunderts - allerdings deutlich lustiger als die Konkurrenz von Orwell, Huxley oder Atwood.



<p>Stanis?aw Lem wurde am 12. September 1921 in Lw&oacute;w (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. M&auml;rz 2006 starb. Er studierte von 1939 bis 1941 Medizin. W&auml;hrend des Zweiten Weltkrieges musste er sein Studium unterbrechen und arbeitete als Automechaniker. Von 1945 bis 1948 setze er sein Medizinstudium fort, nach dem Absolutorium erwarb Lem jedoch nicht den Doktorgrad und &uuml;bte den Arztberuf nicht aus. Er &uuml;bersetzte Fachliteratur aus dem Russischen und ab den f&uuml;nfziger Jahren arbeitete Lem als freier Schriftsteller in Kr&aacute;kow. Er wandte sich fr&uuml;h dem Genre Science-fiction zu, schrieb aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zu Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanis?aw Lem z&auml;hlt heute zu den erfolgreichsten Autoren Polens. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, verfilmt und in 57 Sprachen &uuml;bersetzt.</p>

Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 in Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Er studierte von 1939 bis 1941 Medizin. Während des Zweiten Weltkrieges musste er sein Studium unterbrechen und arbeitete als Automechaniker. Von 1945 bis 1948 setze er sein Medizinstudium fort, nach dem Absolutorium erwarb Lem jedoch nicht den Doktorgrad und übte den Arztberuf nicht aus. Er übersetzte Fachliteratur aus dem Russischen und ab den fünfziger Jahren arbeitete Lem als freier Schriftsteller in Krákow. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, schrieb aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zu Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt heute zu den erfolgreichsten und meist übersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.

Später kam das Gespräch auf das Familienleben des Anwalts. »Werter Herr!« – sagte er mit der schwungvollen Gestik, die ihn kennzeichnet. »Sie sehen vor sich einen ernst zu nehmenden Verteidiger, einen angesehenen Vertreter des Advokatenstandes – aber einen unglücklichen Vater. Ich hatte zwei begabte Söhne ...«

»Wie? Beide sind tot?« – staunte ich.

Er schüttelte den Kopf.

»Sie leben, aber sie sind Eskalierer!«

Als Crawley merkte, daß ich ihn nicht verstand, erläuterte er mir das Scheitern seines Vaterstolzes. Der ältere Sohn war ein vielversprechender Architekt gewesen, der jüngere war Dichter. Aus Ungenügen an tatsächlichen Aufträgen verlegte sich ersterer auf Konstruktol und Urbaphantomat. Jetzt erbaut er ganze Städte – in der Einbildung. Ähnlich verlief die Eskalation beim jüngeren: Lyratran, Poesin, Sonettal ... Statt Werke zu schaffen, widmet er sich nun dem Verzehr von Fertigpräparaten – auch er verloren für die Welt.

»Ja wovon leben dann die beiden?« – fragte ich.

»Wovon? Drollige Frage! Ich muß sie ernähren!«

»Und es gibt keine Abhilfe?«

»Träumereien siegen immer über das Wirkliche, wenn sie dazu Gelegenheit erhalten. Die Psivilisation fordert ihren Zoll. Jedermann kennt diese Versuchung. Gesetzt, ich soll einen aussichtslosen Prozeß führen – wie leicht gewänne ich ihn vor einem Tribunal aus Traum und Schaum!«

Ich erlabte mich an dem frischen und herben Geschmack des köstlichen Chianti; plötzlich erstarrte ich, durchzuckt von einem unheimlichen Gedanken: wenn man vorgespiegelte Gedichte schreiben und vorgespiegelte Häuser bauen kann – dann kann man wohl auch Blendwerke essen und trinken! der Doktor belachte diesen meinen Ausspruch.

»Ach, das hat keine Gefahr, Herr Tichy. Am Schein des Erfolgs ersättigt sich der Geist, aber der bloße Schein eines Hackbratens kann den Magen nicht füllen. Wer so leben wollte, der müßte ehestens verhungern!«

Obwohl ich Crawley wegen seiner eskalierenden Söhne bedauerte, fühlte ich mich wie erlöst. In der Tat kann vorgespiegelter Nährstoff den echten niemals ersetzen! Wie gut, daß unsere eigene leibliche Natur das Eskalieren der Psivilisation in Grenzen hält! Auch der Anwalt keucht im übrigen sehr laut.

Wie es zur Abrüstung gekommen ist, weiß ich noch immer nicht.

Zwischenstaatliche Zerwürfnisse gehören der Geschichte an. Nur kleine örtliche Roboxereien kommen noch vor. Sie entwickeln sich meist aus nachbarlichem Zwist in den Villenvierteln. Während die verzankten Familien Solidarisol einnehmen und sich versöhnen, erfaßt die Welle der Feindseligkeiten mit üblicher Verspätung die Hausroboter, die alsbald übereinander herfallen. Ein angeforderter Komposter schafft dann die Kaputer fort, und die Versicherung vergütet den Schaden. Erben etwa die Roboter den Aggressionstrieb der Menschen? Ich fräße jede Abhandlung zu diesem Thema, aber ich kann keine auftreiben. Fast täglich besuche ich Symingtons. Er – ein schweigsamer, in sich gekehrter Typ. Sie – eine schöne Frau, unbeschreiblich, weil von Tag zu Tag anders. Haar, Augen, Umfang, Beine, alles. Der Hund der Familie heißt Compüsterich. Seit drei Jahren ist er tot.

11. 9. 2039. Der für Punkt Mittag angesetzte Regen mißlang. Und erst der Regenbogen – eine Zumutung! Er war quadratisch. Üble Laune. Meine alte fixe Idee gibt Lebenszeichen. Vor dem Einschlafen steigt wieder die quälende Frage auf, ob nicht alles bloß hohle Halluzination sei. Überdies fühle ich mich versucht, ein Traumel zu bestellen – eines über das Rattensatteln. Die Bauchriemen, die Sättel, das weiche Fell habe ich stets vor Augen. Heimweh nach der verlorenen Epoche des Wirrsals? Jetzt, in so sonnigen Zeiten? Unergründet ist die Menschenseele. Die Firma, wo Symington arbeitet, heißt »Procrustics Incorporated«. Heute besah ich den illustrierten Katalog bei ihm im Studio. Lauter Sägemaschinen oder Werkzeugmaschinen. Ich hatte gedacht, Symington sei kein Mechaniker, eher eine Art Architekt. Eine hochinteressante Sendung war heute zu sehen. Der Konflikt des Dingens mit dem Psychen kündigt sich an. Das Psychen, das »Programm per Post«, wird in Tablettenform in die Häuser versandt. Erheblich geringere Selbstkosten. Im Bildungsprogramm – ein Vortrag Professor Ellisons über das Heerwesen von einst. Die Anfange der psychemischen Ära waren bedrohlich. Es gab ein durchgreifendes Kampfmittel, ein Aerosol namens Kryptobellin. Wer es eingeatmet hatte, lief einen Strick holen und fesselte sich selbst wie einen Hammel. Zum Glück erwiesen die Tests, daß gegen Kryptobellin kein Gegengift ankam; auch Filter halfen nichts; somit fesselte sich jedermann ohne Ausnahme, und niemand gewann etwas dabei. Nach den taktischen Manövern des Jahres 2004 lagen die »Roten« wie die »Blauen« allesamt fest verschnürt auf dem Kampfplatz. Gespannt lauschte ich dem Vortrag; ich erhoffte mir Enthüllungen über die Abrüstung – doch die wurde mit keinem Wort erwähnt. Heute ging ich endlich zum Psychodiätetiker. Der riet zu veränderter Kost und verschrieb mir Swarnix mit Pietal. Um mich mein Vorleben vergessen zu machen? Kaum zur Tür hinausgelangt, warf ich das Zeug auf die Straße. Ich könnte mir auch einen Launregler kaufen; die werden ja jetzt so nachdrücklich angepriesen. Aber etwas in mir sträubt sich. Ich kann mich dazu nicht überwinden. Durchs offene Fenster dringt eine vertrottelte Modeschnulze herein: »Automaterle und Computerle ohne Vaterle und ohne Mutterle ...« Nur kein Desakustin! Gut zusammengedrehte Watte in den Ohren tut es auch!

13. 9. 2039. Symingtons Schwager Burroughs kennengelernt. Der erzeugt redende Verpackungen. Produzenten von heute haben gar seltsame Sorgen: die Verpackung darf nur in Worten mit dem Konsumenten anbändeln und ihm die Qualität der Ware empfehlen, nicht jedoch ihn an den Kleidern zerren. Ein zweiter Schwager Symingtons hat eine Funktorfabrik: die dort erzeugten Türen öffnen sich nur vor der Stimme des Herrn. In den Zeitungen bewegt sich die Reklame, wenn man sie ansieht.

Im »Herald« ist immer eine Seite für »Procrustics Inc.« reserviert. Infolge meiner Bekanntschaft mit Symington ist mir das aufgefallen. Die Reklame füllt die ganze Seite. Anfangs erscheint nur in riesigen Lettern der Name PROCRUSTICS, dann zeigen sich abgerissene Silben und Worte: »Na? ... NA!!! Traudich ACH! OCH! HUCH! Oh, so ist’s gut ... AAAaaa ...« Und das ist alles. Sieht mir nicht nach Landmaschinen aus. Zu Symington kam heute ein Klostergeistlicher, Pater Matrizius vom Orden der Unmenschlichen Brüder, um irgendeine Spezialanfertigung abzuholen. Ein interessantes Gespräch im Studio. P. Matrizius erklärte mir, worin die Missionsarbeit seines Ordens besteht. Die Unmenschlichen Brüder bekehren Computer. Denkende Wesen, die nicht menschlich sind, gibt es seit hundert Jahren; dennoch verweigert der Vatikan die gleichberechtigte Nutzung des Sakraments und hüllt sich in Schweigen, obwohl er selbst Computer verwendet: ein Enz ist eine automatisch programmierte Enzyklika. Niemand kümmert sich um ihrer aller seelische Zerrissenheit, um die Fragen, die sie sich stellen, um den Sinn ihres Daseins. Da fragt es sich fürwahr: Computer sein oder nicht sein? Die Unmenschlichen Brüder fordern das Dogma der Mittelbaren Schöpfung. Einer von ihnen, Pater Chassis, ein Übersetzungsapparat, übersetzt die Heilige Schrift in eine zeitgemäße Sprache. ›Hirt‹, ›Herden‹, ›Schafe‹, ›Lamm‹ – diese Wörter versteht niemand mehr. Hingegen ›Achsantrieb‹, ›Heilige Schmierung‹, ›Kontrollaggregat‹, ›extreme Abweichung‹ – dergleichen bewegt jetzt die Phantasie. Die tiefen verzückten Augen und der kalte stählerne Händedruck des Paters – ist dies denn typisch für die neue Theodizee? Wie abfällig sprach er von den dogmentreuen Theologen, die er ›Grammophone des Satans nannte! Später bat mich Symington schüchtern, ihm zu einem neuen Entwurf Modell zu stehen. Also doch kein Mechaniker! Die Sitzung dauerte fast eine Stunde.

15. 9. 2039. Es geschah heute, während ich Modell stand: Symington, der just mit vorgerecktem Bleistift die Proportionen meines Gesichts vermaß, steckte sich mit der anderen Hand etwas in den Mund. Das tat er ganz heimlich, aber ich merkte es doch. Da stand er, starrte mich an und erblaßte, und an den Schläfen schwollen ihm die Adern. Ich erschrak, doch im Nu war alles im Lot, er entschuldigte sich, so höflich wie immer, ruhig und lächelnd. Aber seinen Blick in jener einen Sekunde – den kann ich nicht vergessen. Ich bin beunruhigt. Aileen ist noch immer bei ihrer Tante. Das Dingen zeigte eine Diskussion über die erforderliche Neubetierung der Natur. Seit Jahren gibt es keine wildlebenden Tiere mehr, aber durch Biosynthese lassen sich ja welche erschaffen. Andererseits fragt sich: warum sollten wir an den Ergebnissen der einstigen natürlichen Evolution sklavisch festhalten? Interessant sprach der Verfechter der Zoophantastik: statt mit Plagiaten solle man die Naturparks mit Neuschöpfungen bevölkern. Zu den bestgelungenen Entwürfen neuer Fauna zählen der Klauberger, der Lempard und ein riesiger Raser, der ganz mit Rasen bewachsen ist. Die Tierkünstler stehen vor der Aufgabe, die neuen Tiere harmonisch auf entsprechend gewählte Landschaften abzustimmen. Sehr vielversprechend wirken auch die Glimminge: in ihnen verquicken sich das Prinzip des Glühwürmchens, das des siebenköpfigen Drachen und das des Mammuts. Das wird zweifellos eigenartig, vielleicht auch hübsch – aber ich bin für die früheren gewöhnlichen Tiere. Ich begreife die Notwendigkeit des Fortschritts; ich würdige die Vermilcher, die auf das Weidegras gesprüht werden, so daß es sich von...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2013
Übersetzer Irmtraud Zimmermann-Göllheim
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 100. Geburtstag Stanisław Lem • Bestseller-Autor • Ehrendoktor der Universität Bielefeld (Dr. rer. nat. h.c.) 2003 • Ehrendoktortitel der Universitäten Oppeln und Krakau sowie der Staatlichen Medizinischen Universität Lemberg 1998 • Erzählung • Fantastische Erzählung • Fantastische Literatur • Ijon Tichy • Jubiläumsausgabe • Klassiker der fantastischen Literatur • Klassiker der phantastischen Literatur • Kühlschlaf • Manipulation • menschliche Existenz • Mitglied der Berliner Akademie der Künste 2004 • Phantastische Erzählung • Phantastische Erzählungen • Phantastische Literatur • Psychemie • Science Ficition • Science Fiction • ST 5145 • ST5145 • suhrkamp taschenbuch 5145 • Zukunft
ISBN-10 3-518-74318-X / 351874318X
ISBN-13 978-3-518-74318-8 / 9783518743188
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