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Frieden auf Erden (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
274 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74317-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frieden auf Erden - Stanisław Lem
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Im 21. Jahrhundert sind die Großmächte übereingekommen, auf Erden abzurüsten und die gesamten Waffenarsenale auf den Mond zu verlagern; in durch neutrale Zonen getrennte Sektoren. Analog dem Prinzip der natürlichen Evolution organischer Lebewesen vollzieht sich auf dem Mond eine Selbstoptimierung der Waffensysteme, völlig autonom. Niemand auf Erden weiß, was sich auf dem Mond wirklich abspielt, welche Seite inzwischen einen Vorsprung gewonnen haben mag, die »Doktrin der totalen Unkenntnis« wird strikt eingehalten. Automatische Aufklärungssonden gehen spurlos verloren. Zeit also für Ijon Tichy, Lems unermüdlichen Weltraumreisenden, der nie zögert, wenn es gilt, die Menschheit zu retten, als Agent der »Lunar Agency« auf dem Mond nach dem Rechten zu sehen. Leider zieht er sich dabei eine Kallotomie zu, sein Gehirn wird in zwei Teile aufgespalten, was zu für ihn grotesken Folgen führt, denn zwei Seelen oder zwei Gehirnhälften liegen alsbald in ihm in Widerstreit miteinander, treiben ihn bald dahin, bald dorthin. Es kommt aber noch dicker, denn vom Mond hat Tichy etwas auf die Erde mitgebracht, was den Verlauf der irdischen Zivilisation nachhaltig verändert.



<p>Stanis?aw Lem wurde am 12. September 1921 in Lw&oacute;w (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. M&auml;rz 2006 starb. Er studierte von 1939 bis 1941 Medizin. W&auml;hrend des Zweiten Weltkrieges musste er sein Studium unterbrechen und arbeitete als Automechaniker. Von 1945 bis 1948 setze er sein Medizinstudium fort, nach dem Absolutorium erwarb Lem jedoch nicht den Doktorgrad und &uuml;bte den Arztberuf nicht aus. Er &uuml;bersetzte Fachliteratur aus dem Russischen und ab den f&uuml;nfziger Jahren arbeitete Lem als freier Schriftsteller in Kr&aacute;kow. Er wandte sich fr&uuml;h dem Genre Science-fiction zu, schrieb aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zu Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanis?aw Lem z&auml;hlt heute zu den erfolgreichsten Autoren Polens. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, verfilmt und in 57 Sprachen &uuml;bersetzt.</p>

II. Eingeweiht


In die schlimmste Verlegenheit meines Lebens war ich ganz zufällig geraten, als ich nach meiner Rückkehr von der Entia Professor Tarantoga besuchen wollte. Ich traf ihn nicht zu Hause an, er war nach Australien geflogen. Zwar wollte er in wenigen Tagen zurück sein, da er aber eine seltene Primel züchtete, die viel Wasser brauchte, hatte er für die kurze Zeit seinen Cousin in der Wohnung einquartiert. Es war ein anderer als der, der die Klosetts weltweit nach Wandsprüchen durchforscht, Tarantoga hat eine Menge Cousins, und der hier befaßte sich mit Paläobotanik. Ich sah ihn zum erstenmal, er empfing mich im Hausmantel und ohne Hose, in die Schreibmaschine war ein Bogen Papier gespannt, ich wollte gleich wieder gehen, aber er ließ es nicht zu. Ich störe ihn durchaus nicht, sagte er, im Gegenteil, ich sei gerade zur rechten Zeit gekommen. Er schreibe nämlich ein schwieriges, bahnbrechendes Werk und könne seine Gedanken am besten sammeln, wenn er den Inhalt des gerade in Arbeit befindlichen Kapitels selbst dem zufälligsten Hörer erzähle. Ich fürchtete, er schreibe ein Buch über Botanik und werde mir den Gehirnkasten mit Knollen, Stauden und Fruchtknoten kompostieren, aber das trat zum Glück nicht ein, ich war sogar einigermaßen frappiert. Seit dem Frührot der Geschichte müssen sich, so meinte er, unter den wilden Stämmen der Urmenschen verschiedene Originale herumgetrieben haben, die unvermeidlich für verrückt gehalten wurden, weil sie alles zu essen versuchten, was ihnen vor Augen kam: alle möglichen Blätter, Knollen, Triebe und Stengel, frische und dürre Wurzeln. Angesichts der Vielzahl giftiger Pflanzen müssen sie gestorben sein wie die Fliegen, aber es gab immer wieder Nonkonformisten, die sich nicht abschrecken ließen und das gefährliche Werk weiterführten. Nur ihnen ist es zu danken, wenn wir heute wissen, daß Spargel und Spinat die Küchenarbeit lohnt, daß Lorbeerblatt und Muskatnuß zu etwas taugen, während man die Tollkirsche besser meiden sollte. Tarantogas Cousin wies mich auf eine von der Wissenschaft weltweit außer acht gelassene Tatsache hin: Allein um festzustellen, welche Pflanze sich am besten eignet, in Brand gesteckt zu werden und durch Inhalieren des sich entwickelnden Rauches Genuß zu erzeugen, mußten die Sisyphusse der Urzeit etwa 47 000 Arten von Blattpflanzen sammeln, trocknen, fermentieren, zu Röllchen drehen und schließlich in Asche verwandeln, ehe sie auf den Tabak kamen, denn schließlich war nicht jedes Zweiglein mit dem Schildchen versehen, gerade DIES eigne sich zur Herstellung sowohl von Stumpen als auch – kleingehäckselt – von schwarzem Krauser. Divisionen solcher Leute, Urbilder der Himmelfahrtskommandos, haben in Jahrhunderten alles, aber auch alles in den Mund genommen, angebissen, zerkaut, geschmeckt und geschluckt, was immer auch an Zäunen und auf Bäumen wuchs, und sie taten es auf jede mögliche Weise: roh und gekocht, mit und ohne Wasser, durchgeseiht oder nicht, in ungezählten Kombinationen. Davon haben wir heute ohne eigenes Zutun den Nutzen, indem wir wissen, daß der Sauerkohl seinen Platz an der Seite des Schweinebratens hat, während die Rübe die Begleiterin des Hasenbratens ist. Mancherorts duldet man die Rübe nicht neben dem Hasen und zieht ihr den Rotkohl vor – Tarantogas Cousin schließt daraus auf die frühzeitige Entstehung von Nationalitäten. Es gibt keine Slawen ohne Rübensuppe. Jede Nation hatte offenkundig ihre eigenen Experimentatoren, und wenn diese sich einmal für die Rübe entschieden hatten, wurde dieser auch von den Nachkommen die Treue gehalten, sosehr auch die Nachbarstämme darüber die Nase rümpften.

Über Verschiedenheiten der gastronomischen Kultur, die Unterschiede der nationalen Charaktere bedingen (die Wechselbeziehung zwischen der Pfefferminzsauce und dem Spleen der Engländer, nachzuweisen beispielsweise beim Rostbraten), will Tarantogas Cousin ein Buch extra schreiben. Darin wird er auch enthüllen, warum die Chinesen, die schon so lange so viele sind, gern mit Stäbchen essen, dazu noch alles kleingehackt, feingeschnitten und unbedingt mit Reis. Aber darauf wolle er später zurückkommen.

Jedermann wisse, wer Stephenson gewesen sei, rief er mit erhobener Stimme, jedermann feiere ihn für seine banale Lokomotive, aber was sei eine Lokomotive, die noch dazu völlig überholt, weil dampfgetrieben sei, gegen die Artischocke, die uns auf ewig bleibe? Im Gegensatz zur Technik veralten die Gemüse nicht, und er sei gerade dabei, ein Kapitel über dieses aufschlußreiche Thema zu überdenken. War Stephenson denn übrigens, als er Watts fertige Dampfmaschine hernahm und auf Räder setzte, vom Tode bedroht? Befand sich Edison, als er den Phonographen erfand, in Lebensgefahr? Im schlimmsten Fall riskierten sie die Verärgerung ihrer Familien und die Pleite. Wie ungerecht, daß die Erfinder technischen Gerümpels jedermann bekannt sein müssen, während die großen Erfinder der Gastronomie niemand kennt und niemand auch nur daran denkt, daß dem Unbekannten Küchenmeister ebensogut ein Denkmal gebührt wie dem Unbekannten Soldaten. Wie viele dieser anonymen Helden sind nicht bei ihren todesmutig unternommenen Kostproben unter schrecklichen Qualen zugrunde gegangen, beispielsweise nach dem Pilzesammeln, als man die Unterscheidung von Gift- und Speisepilz nur treffen konnte, indem man davon aß und abwartete, ob das letzte Stündlein schlug!

Warum sind die Schulbücher voll von Faseleien über alle möglichen großen Alexander, die sich, da sie einen König zum Vater hatten, ins fertige Nest setzen konnten? Warum müssen die Kinder sich Kolumbus als den Entdecker Amerikas merken, wo er es doch ganz ungewollt, auf dem Weg nach Indien, entdeckt hat? Warum hört man statt dessen kein Wort über den Entdecker der Gurke? Amerika hätte sich früher oder später von selber gemeldet, man wäre ohne es ausgekommen, nicht aber ohne die Gurke, ohne die man zum Fleisch keine anständige Marinade auf dem Teller gehabt hätte. Um wieviel heroischer und verklärter als der Soldatentod war das Sterben jener Namenlosen! Wenn ein Soldat nicht die feindliche Stellung berannte, kam er vors Kriegsgericht, niemand aber war jemals gezwungen, sich der tödlichen Gefahr unbekannter Pilze oder Beeren auszusetzen. Tarantogas Cousin würde es daher begrüßen, wenn an der Tür jedes einigermaßen ordentlichen Restaurants wenigstens Gedenktafeln mit angemessenen Sprüchen angebracht würden wie MORTUI SUNT UT NOS BENE EDAMUS oder MAKE SALAD, NOT WAR. Vor allem für vegetarische Speisegaststätten sollte das gelten, denn mit den Tieren gab es weniger Aufwand. Um Koteletts zu klopfen oder Hackfleisch für Hamburger zu gewinnen, brauchte man nur zuzusehen, was Hyäne oder Schakal mit einem Kadaver machten, und bei den Eiern war das nicht anders. Die Franzosen mit ihren sechshundert Käsesorten haben sich vielleicht eine kleine Medaille verdient, keinesfalls aber Marmortafeln oder gar ein Denkmal, denn die meisten dieser Käse entstanden infolge von Zerstreutheit – ein vergeßlicher Hirte hat einmal neben dem Quark eine Scheibe Brot liegenlassen. Sie verschimmelte, und so entstand der Roquefort.

Als der Cousin daranging, zeitgenössische Politiker herabzusetzen, die nichts von Gemüse hielten, klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab, lauschte hinein und gab ihn mir. Mich wolle man sprechen. Ich war sehr erstaunt, weil niemand von meiner Rückkehr wissen konnte, aber der Fall klärte sich sogleich auf.

Aus dem Büro des UN-Generalsekretärs hatte man Tarantoga nach meiner Adresse fragen wollen, und der Cousin hatte, indem er mich ans Telefon bat, alles sozusagen kurzgeschlossen. Am Apparat war Doktor Kakesut Wahatan, der Sondergehilfe des Beraters für Fragen der globalen Sicherheit beim Generalsekretär der Vereinten Nationen. Er wünschte mich möglichst rasch zu sehen, wir verabredeten uns für den nächsten Tag, und als ich mir den Termin notierte, konnte ich nicht wissen, worauf ich mich einließ. Für den Augenblick hatte sich der Anruf immerhin als nützlich erwiesen, weil er den Redestrom von Tarantogas Cousin unterbrochen hatte. Dieser wollte bei den Pfeffergewürzen fortfahren, es gelang mir jedoch, mich zu verabschieden, indem ich Eile vorschützte und das heuchlerische Versprechen abgab, ihn bald wieder zu besuchen.

Etliche Zeit später erzählte mir Tarantoga, die Primel sei eingegangen, der Cousin in seinem paläobotanisch-gastronomischen Rausch habe sie zu gießen vergessen. Ich nahm das als eine typische Erscheinung hin: Wer sich der Mehrzahl ergeben hat, hält nichts von der Einzahl. Daher rührt es, daß die großen Melioratoren, die die ganze Menschheit auf einmal glücklich machen wollen, mit Einzelpersonen keine Geduld haben.

Die Katze blieb noch lange im Sack. Ich erfuhr nicht, daß ich für die Menschheit den Kopf hinhalten und auf den Mond fliegen sollte, um nachzusehen, was die erfinderischen Waffen dort ausheckten. Zunächst einmal wurde ich mit Mokka und altem Weinbrand von Doktor Wahatan empfangen. Er war Asiat und als solcher vollkommen: das reine Lächeln, und nichts herauszukriegen. Angeblich wollte der Generalsekretär unbedingt meine Bücher kennenlernen, aber da er in seiner hohen Stellung außerordentlich überlastet sei, sollte ich selbst ihm die Titel empfehlen, die ich für die wesentlichsten hielte. Wie zufällig fanden sich bei Wahatan noch einige andere Burschen ein, die um Autogramme baten. Ich konnte es ihnen nicht abschlagen. Freilich, wir unterhielten uns auch, über Roboter etwa und den Mond, über letzteren aber vor allem in seiner historischen Rolle als Exponat oder Dekoration in der Liebesdichtung. Viel später kam mir zu Ohren, daß es sich dabei nicht um simple Plaudereien, sondern um den Übergang vom Screening zur...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2013
Übersetzer Hubert Schumann
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ehrendoktor der Universität Bielefeld (Dr. rer. nat. h.c.) 2003 • Ehrendoktortitel der Universitäten Oppeln und Krakau sowie der Staatlichen Medizinischen Universität Lemberg 1998 • Evolution • Mitglied der Berliner Akademie der Künste 2004 • Pokój na s'wiecie deutsch • Science Fiction • ST 1574 • ST1574 • suhrkamp taschenbuch 1574 • Weltraum
ISBN-10 3-518-74317-1 / 3518743171
ISBN-13 978-3-518-74317-1 / 9783518743171
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