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Eine Geschichte von Liebe und Finsternis (eBook)

Roman | Der Welterfolg des israelischen Bestsellerautors

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
828 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73920-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Geschichte von Liebe und Finsternis - Amos Oz
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In seinem Bestseller erzählt Amos Oz die Geschichte seiner Familie, voller Zärtlichkeit und Scharfblick. Alles beginnt im Jerusalem der 1940er Jahre, einem Refugium der Juden, die - wie Oz' Großeltern - vor der antisemitischen Verfolgung fliehen konnten. In der Stadt ringen sie mit ihrer Verzweiflung, hier wächst aber auch ihre gemeinsame Hoffnung auf ein angstfreies Leben.



<p>Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren und starb am 28. Dezember 2018 in Tel Aviv. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf Hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Amos Oz war Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now) und befürwortete eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992, dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main 2005 und dem Siegfried Lenz Preis 2014. Sein bekanntestes Werk <em>Eine Geschichte von Liebe und Finsternis</em> wurde in alle Weltsprachen übersetzt und 2016 als Film adaptiert.</p>

1


Geboren und aufgewachsen bin ich in einer kleinen, niedrigen Erdgeschoßwohnung von etwa dreißig Quadratmetern. Meine Eltern schliefen auf einem Bettsofa, das abends, wenn es ausgezogen war, das Zimmer fast von Wand zu Wand ausfüllte. Frühmorgens schoben sie dieses Sofa wieder völlig in sich zusammen, verbargen das Bettzeug im Unterkasten, klappten die Matratze zurück, zurrten alles fest, breiteten einen hellgrauen Überwurf über das Ganze und streuten ein paar bestickte orientalische Kissen darüber, so daß jedes Indiz ihres nächtlichen Schlafes beseitigt war. So diente ihr Schlafzimmer auch als Arbeitszimmer, Bibliothek, Eßzimmer und Wohnzimmer.

Ihm gegenüber lag mein grünliches Zimmerchen, dessen eine Hälfte von einem dickbauchigen Kleiderschrank eingenommen wurde. Ein dunkler, schmaler, niedriger, etwas verwinkelter Flur, ähnlich einem Fluchttunnel aus dem Gefängnis, verband die winzige Küche, den engen Bad- und Toilettenraum und die beiden kleinen Zimmer miteinander. Eine schwache Birne, im eisernen Käfig gefangen, beleuchtete diesen Flur selbst tagsüber nur dürftig. Nach vorn gab es nur ein Fenster im Zimmer meiner Eltern und eines in meinem, beide geschützt von eisernen Läden, beide bemüht, durch blinzelnde Ladenritzen nach Osten zu schauen, zu sehen war aber nur eine verstaubte Zypresse und eine niedrige Mauer aus unbehauenen Steinen. Durch vergitterte Fensterchen spähten Küche und Bad in einen kleinen, von hohen Mauern umgebenen Gefängnishof, einen Hof, auf dem eine bleiche Geranie in einem rostigen Olivenkanister ohne einen einzigen Sonnenstrahl dahinstarb. Auf den Fensterbänken dieser Luken standen bei uns immer Gläser mit eingelegten Gurken und auch ein verbitterter Kaktus in einer gesprungenen und daher zum Blumentopf umfunktionierten Vase.

Es war eigentlich eine Kellerwohnung, denn man hatte das Erdgeschoß des Gebäudes in einen Berghang gehauen. Dieser Berg war unser Nachbar jenseits der Wand – ein schwerer, in sich gekehrter und leiser Nachbar, ein alter und melancholischer Berg mit festen Junggesellengewohnheiten, ein schläfriger, ein winterlicher Berg, nie rückte er Möbel, nie empfing er Besucher, nie lärmte, nie störte er, aber durch die ihm und uns gemeinsamen Wände sickerten immer, wie leichter, hartnäckiger Moderhauch, die Kälte, die Dunkelheit, die Stille und die Feuchtigkeit dieses schwermütigen Nachbarn zu uns.

So hielt sich bei uns den ganzen Sommer lang ein wenig der Winter.

Gäste sagten: Es ist so angenehm bei euch an einem glühendheißen Tag, so kühl und angenehm, richtig frisch, doch wie kommt ihr im Winter zurecht? Lassen diese Wände keine Feuchtigkeit durch? Ist es nicht etwas bedrückend?

Bücher füllten bei uns die ganze Wohnung. Mein Vater konnte sechzehn oder siebzehn Sprachen lesen und elf sprechen (alle mit russischem Akzent). Meine Mutter sprach vier oder fünf Sprachen und konnte sieben oder acht lesen. Sie unterhielten sich auf russisch oder polnisch, wenn ich nichts verstehen sollte. (Und die meiste Zeit wollten sie, daß ich nichts verstand. Als Mutter einmal versehentlich in meiner Gegenwart »Zuchthengst« auf hebräisch sagte, rügte Vater sie verärgert auf russisch: Schto s toboj?! Widisch maltschik rjadom s nami! Was ist denn mit dir los?! Siehst du nicht, daß der Junge dabei ist!) Aus kulturellen Erwägungen heraus lasen sie vorwiegend Bücher auf deutsch oder englisch, und ihre nächtlichen Träume träumten sie sicherlich auf jiddisch. Aber mich lehrten sie einzig und allein Hebräisch. Vielleicht fürchteten sie, Fremdsprachenkenntnisse könnten auch mich den Verlockungen des wunderbaren und tödlichen Europa aussetzen.

Auf der Werteskala meiner Eltern galt: je westlicher, desto kultivierter. Tolstoj und Dostojewski standen ihrer russischen Seele nahe, und doch vermute ich, Deutschland erschien ihnen – trotz Hitler – kultivierter als Rußland und Polen, während Frankreich wiederum Deutschland übertraf. Und England stand für sie sogar noch höher als Frankreich. Was Amerika anging, da waren sie sich nicht so sicher: Dort schoß man schließlich auf Indianer, überfiel Postzüge, ergab sich dem Goldrausch und jagte Mädchen nach.

Europa war ihnen ein verbotenes verheißenes Land, ein Sehnsuchtsort – mit Glockentürmen und kopfsteingepflasterten alten Plätzen, mit Straßenbahnen und Brücken und Kathedralen, mit entlegenen Dörfern, Heilquellen, Wäldern, Schnee und Auen.

Die Worte »Aue«, »Bauernkate«, »Gänsehirtin« hatten meine ganze Kindheit lang etwas Lockendes und Erregendes für mich. Es war in ihnen der sinnliche Duft einer echten Welt, einer sorglosen Welt, fern der staubigen Wellblechdächer und der mit Schrott und Disteln übersäten Brachflächen und der ausgedorrten Hänge Jerusalems, das unter der Last der weißglühenden Hitze fast erstickte. Ich brauchte nur leise »Aue« vor mich hin zu sagen – und schon hörte ich das Muhen von Kühen, die kleine Glocken um den Hals trugen, und das Plätschern der Bäche. Wenn ich die Augen schloß, sah ich die barfüßige Gänsehirtin, beinahe wären mir die Tränen gekommen, so sexy erschien sie mir, noch bevor ich irgend etwas wußte.

Jahre später erfuhr ich, daß das Jerusalem der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, das Jerusalem der britischen Mandatszeit, eine faszinierende Kulturstadt gewesen war. Großkaufleute, Musiker, Gelehrte und Schriftsteller lebten dort: Martin Buber, Gershom Scholem, S. J. Agnon und viele andere berühmte Forscher und Künstler. Manchmal, wenn wir die Ben-Jehuda-Straße oder die Ben-Maimon-Allee entlanggingen, flüsterte Vater mir zu: »Schau, dort geht ein Gelehrter von Weltruf.« Ich wußte nicht, was er meinte. Ich dachte, Weltruf habe etwas mit kranken Beinen zu tun, denn häufig war es ein alter Mann, der sich unsicheren Schrittes an einem Stock vorantastete und auch im Sommer einen dicken wollenen Anzug trug.

Das Jerusalem, nach dem sich meine Eltern sehnten, lag fernab unseres Viertels: in Rechavia, durchflutet von Grün und Klavierklängen, in drei oder vier Cafés mit goldfunkelnden Kronleuchtern in der Jaffa- und der Ben-Jehuda-Straße, in den Hallen des YMCA und im King David Hotel, wo sich kulturliebende Juden und Araber mit kultivierten Briten trafen, wo verträumte, langhalsige Damen in Abendkleidern am Arm von Herren in dunklen Anzügen dahinschwebten, wo vorurteilslose Briten mit gebildeten Juden oder Arabern dinierten, wo Konzerte, Bälle, literarische Abende, Tanztees und feinsinnige Kunsterörterungen stattfanden. Möglicherweise existierte dieses Jerusalem mit Kronleuchtern und Tanztees ja auch nur in den Träumen der Bibliothekare, Lehrer, kleinen Angestellten und Buchbinder, die in Kerem Avraham lebten. Bei uns jedenfalls fand es sich nicht. Unser Viertel, Kerem Avraham, gehörte Tschechow.

Jahre später, als ich Tschechow (in hebräischer Übersetzung) las, war ich überzeugt, er sei einer von uns: Onkel Wanja wohnte ja direkt über uns, Doktor Samoilenko beugte sich über mich und tastete mich mit seinen breiten, starken Händen ab, wenn ich an Angina oder Diphtherie erkrankt war, Lajewski mit der ewigen Migräne war ein Vetter zweiten Grades meiner Mutter, und Trigorin hörten wir am Schabbatmorgen bei der Matinee im Bet Ha’am, im Haus des Volkes.

Wir waren von Russen unterschiedlicher Provenienz umgeben: Es gab viele Tolstojaner. Einige sahen sogar genauso aus wie Tolstoj. Als ich Tolstojs sepiabraunes Portrait auf der Rückseite eines Buchumschlags zum ersten Mal erblickte, war ich sicher, ihn schon oft in unserer Nachbarschaft gesehen zu haben: in der Malachi- oder Ovadja-Straße, barhäuptig, mit wehendem weißen Bart und funkelnden Augen, ehrfurchtgebietend wie unser Stammvater Abraham, in der Hand eine Rute, die ihm als Gehstock diente, das über die weite Hose fallende Bauernhemd mit einem groben Strick gegürtet.

Die Tolstojaner unseres Viertels (meine Eltern nannten sie Tolstojschtschiks) waren ausnahmslos alle fanatische Vegetarier, Weltverbesserer, Moralapostel, Freunde der Menschheit, Freunde eines jeden Lebewesens, von tiefem Naturempfinden durchdrungen, und sie alle sehnten sich nach dem Landleben, einem einfachen und reinen Leben der Arbeit auf Feldern und in Obstgärten. Aber nicht einmal ihre bescheidenen Topfpflanzen wollten unter ihren Händen gedeihen: Vielleicht gossen und gossen sie, bis die Pflanzen verfaulten, vielleicht vergaßen sie zu gießen, oder vielleicht war es auch die Schuld der heimtückischen britischen Mandatsmacht, die unserem Wasser Chlor zusetzte.

Einige der Tolstojaner schienen geradewegs aus einem Roman von Dostojewski entstiegen: gepeinigt, redselig, von unterdrückten Leidenschaften und Ideen verzehrt. Aber alle, Tolstojaner wie Dostojewskianer, ja, alle im Viertel Kerem Avraham arbeiteten eigentlich bei Tschechow.

Der Rest der Welt hieß bei uns gewöhnlich »die ganze Welt«, aber sie hatte auch andere Namen: die aufgeklärte Welt, die freie Welt, die scheinheilige Welt, die Außenwelt. Ich kannte sie fast nur aus meiner Briefmarkensammlung: Danzig, Böhmen und Mähren, Bosnien und Herzegowina, Ubangi-Schari, Trinidad und Tobago, Kenia-Uganda-Tanganjika. Die Ganzewelt war fern, anziehend, wunderbar, aber sehr gefährlich und uns feindlich gesinnt: Sie mochte die Juden nicht, weil sie klug, scharfsinnig und erfolgreich waren, aber auch lärmend und vorwitzig. Sie liebte unser Aufbauwerk hier im Lande Israel nicht, weil sie uns sogar dieses Fleckchen Sumpf-, Fels- und Wüstenland nicht gönnte. Dort draußen in der Welt waren alle Wände mit Schmähparolen bedeckt: »Itzig, geh nach Palästina!« Und nun, da wir nach Palästina gegangen waren, schrie die Ganzewelt uns zu:...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2013
Übersetzer Ruth Achlama
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Ssipur al ahava we-choschech, 2002
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abraham-Geiger-Preis 2017 • A Tale of Love and Darkness • Autobiographie 1939-1953 • bücher bestseller 2019 • Erzählung • Erzählungen • Familensaga • Geschichte • Internationaler Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt 2015 • Israel • Jerusalem • Kibbutz • Mount Zion Award 2017 • Nahostkonflikt • Ostjuden • Ostjuden, Geschichte • Roman • Romane • spiegel bestsellerliste • Spiegel-Bestsellerliste • Spiegel Bestseller Liste • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Ssipur al ahava we-choschech 2002 deutsch • ST 3968 • ST3968 • suhrkamp taschenbuch 3968 • WELT-Literaturpreis
ISBN-10 3-518-73920-4 / 3518739204
ISBN-13 978-3-518-73920-4 / 9783518739204
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