Dichter und Denker, Spinner und Banker (eBook)
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-49261-5 (ISBN)
Philip Oltermann, Jahrgang 1981, wuchs in Norderstedt bei Hamburg auf und lebt sei 1997 in London. Für «spiegel online» schrieb er eine Kolumne über englischen Fußball. Zur Zeit arbeitet er als Redakteur beim «Guardian».
Philip Oltermann, Jahrgang 1981, wuchs in Norderstedt bei Hamburg auf und lebt sei 1997 in London. Für «spiegel online» schrieb er eine Kolumne über englischen Fußball. Zur Zeit arbeitet er als Redakteur beim «Guardian».
eins Heinrich Heine kann William Cobbett nicht beim Schimpfen zuhören
Ich kann mich nicht besonders gut an unsere Ankunft in England erinnern. Ich weiß zum Beispiel nicht mehr, ob wir an einem Morgen ankamen oder einem Abend, ob es regnete oder ob es sonnig war, kalt oder warm, ob wir einen Zug vom Flughafen in die Stadt nahmen oder uns gleich in ein Taxi setzten. Ich weiß allerdings noch, dass ich an diesem Tag schlechte Laune hatte und dass der Tag unserer Ankunft ein Sonntag war. Eine Kollegin meines Vaters hatte uns zu einer kleinen Begrüßungsfeier bei sich zu Hause eingeladen, und als sie uns die Tür öffnete, sagte sie, dass das «Sunday Roast» schon fast fertig sei. Sie untermalte die Worte «Sunday Roast» mit einer theatralischen Geste, als wäre sie ein Diener, der den Deckel einer silbernen Servierschüssel hob. Der englische Sonntagsbraten, wollte diese Geste sagen, war keine normale Mahlzeit.
Nachdem wir uns an den Esszimmertisch gesetzt hatten, versuchten meine Eltern mit ihrem gebrochenen Englisch eine Unterhaltung anzukurbeln. Ich saß still auf meinem Platz und beäugte kritisch das, was sich nach und nach auf der Tischplatte häufte. Der «Sunday Roast» sah in etwa so aus: drei dünne, gargekochte Scheiben Rindfleisch, vier Brokkolistängel und acht Bratkartoffeln. Alles lag kraftlos übereinandergetürmt wie müde Wanderer nach einer langen Pilgerfahrt. Fleisch und Gemüse siechten in einer Lache wässrig-brauner Soße. Unsere Gastgeber nachahmend, hatten wir jeweils einen Esslöffel grellgelben Senf und weißen Meerrettich auf die rechte und linke Tellerseite geschaufelt. Das direkte Vermischen dieser Pasten (man nannte sie «Condiments») mit dem Hauptgericht war allerdings keine gute Idee, wie mein Vater durch Selbstversuch am eigenen Leib herausfand. Als er endlich aufhörte zu husten, tränten seine blutunterlaufenen Augen. Paradoxerweise bedeutete die Schärfe der Condiments nicht automatisch, dass das Gericht an sich besonders würzig war. Im Gegenteil war es eher so, als würde der Sonntagsbraten umso milder schmecken, desto tiefer wir uns in sein Inneres vorarbeiteten. Ganze fünf Minuten nachdem der Tisch abgeräumt war, kaute ich noch unsicher auf einem faserigen Bissen Fleisch herum, bevor ich mich endlich zu schlucken traute. Vielleicht war dies kein Zufall, denn unser Koch hatte anscheinend weder Anstalten gemacht, die natürlichen Säfte des Fleisches durch Anbraten zu konservieren, noch, den ursprünglichen Biss des Gemüses festzuhalten. Die englische Soße, «Gravy» genannt, war weniger Soße als Wasser – ganz so, als ob man hier versucht hatte, den Geschmack unseres Mahls bis in die Unkenntlichkeit zu verdünnen. Das künstlerische Äquivalent des Sunday Roast wäre ein Aquarell in Graubraun oder eine Sonate auf einem ausgestöpselten Synthesizer.
Unseren Gastgebern schien dies nichts auszumachen. «Yummy yummy in my tummy», sagte der Sohn der Familie, nachdem er sich die erste Gabelvoll in den Mund gestopft hatte. Wie ich den Jungen beim Schaufeln beobachtete, fiel mir auf, dass seine Haut seltsam blutarm und schwammig war. War dies die Wirkung einer langjährigen englischen Diät? Ich wandte mich dem Vater der Familie zu. Auch hier war der korrodierende Effekt der einheimischen Küche ganz offensichtlich. Der Mann hatte eine rote, scheinbar entzündete Nase, eine Halbglatze und schiefe gelbe Zähne. Plötzlich bemerkte ich auch die merkwürdigen Tischmanieren der Engländer. In Deutschland benutzten wir unsere Gabel in der linken Hand wie eine Kehrschaufel, auf die wir das Essen mit dem Messer in der rechten schoben. Die Engländer aber benutzten die Gabel als einen Spieß, auf dem sie mit ihrem Messer einen Mini-Schaschlik aus Roastbeef, Kartoffel und Brokkoli bauten. Man aß mit Wut im Bauch und anscheinend ohne jegliche Freude am Verzehrungsvorgang. Jeder Bissen wurde mit einem Schluck Flüssigkeit heruntergespült, als wäre der Geschmack sonst unerträglich. Dabei handelte es sich nicht einmal um Apfelschorle oder Spezi, sondern um ein Getränk, welches mir den englischen Nationalcharakter symbolisch auf den Punkt zu bringen schien: ein lauwarmes Glas Wasser.
Deutsche erzählen gerne Horrorgeschichten über englisches Essen. Macht sich eine englische Boulevardzeitung einmal über «typisch deutsche» Eigenschaften lustig, spielt man hierzulande gerne das Opfer. Geht es aber umgekehrt um die Kochkünste der Briten, wird fröhlich in die Klischeekiste gegriffen. Bei der Vorbereitung auf meinen Schulwechsel war ich so manch einem Schauermärchen über den Weg gelaufen. In der Literatur über Schüleraustauschprogramme las man Geschichte von wächsernen Kartoffeln und schleimigen Bohnen, von gefüllten Schafsmägen («Haggis») und frittierten Mars-Riegeln im Land der Schotten. Manch einer hatte Erfahrungen mit «Chicken Kievs», «Pork Scratchings» oder «Turkey Twizzlers» gemacht und die Eltern um die Zusendung von Vollkornbrot, Kohlrabi und Lakritze angebettelt. Schon Friedrich Engels berichtete ca. 1840 mit Entsetzen über die katastrophalen Zustände in englischen Küchen: In den Arbeitervierteln von Manchester gab es zum Abendbrot gammelige Kartoffeln, verwelktes Gemüse und ranzigen Schinken. Essen aus der Dose, in Deutschland eher ein Symbol der sparsamen Nachkriegsjahre, genoss auf der Insel viel früher Beliebtheit. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war Großbritannien der weltweit eifrigste Dosenimporteur: Bis zu 60 Prozent der Nahrungsmittel kamen aus der Konserve. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts änderte sich wenig. Großbritannien, die Arbeiternation, aß auch so: «Ready Meals» von Marks & Spencer oder «Takeaways» vom Inder um die Ecke bestimmten die Hauptmahlzeiten. Für «Slow Food» hatte man keine Zeit.
Sich als Deutscher darüber lustig zu machen mag etwas naiv erscheinen, ist der internationale Ruf der deutschen Küche doch kaum positiver. Handelt es sich hier nicht schlicht um zwei nordeuropäische Länder, denen es einfach an Sonne fehlt, um in der Küche mit wirklich spannenden Zutaten zaubern zu können? Und trotzdem: Als ich auf meinem Sonntagsbraten kaute, sehnte ich mich nach würzigen deutschen Bratwürsten. Egal ob majorangespickte Nürnberger, Kümmel-und-Knoblauch-infizierte Thüringer oder Weißwurst mit Petersilie und Ingwer: Hauptsache Geschmack. Es mögen vielleicht britische Fregatten gewesen sein, die Currypulver im 18. Jahrhundert nach Europa brachten, doch anscheinend hatte man nur in Deutschland den Mut, diese feurige Würze zur Erfindung der Currywurst zu benutzen. Zu Hause in Hamburg gab es solch waghalsige Kombination wie Birnen, Bohnen und Speck, aber hier? Als Kind erzählte mein Großvater mir einmal, dass es sich bei der Hamburger Spezialität Labskaus um ein echtes Produkt deutsch-englischer Freundschaft handelte: So war Labskaus angeblich ein traditionelles Matrosenmahl («lobscouse»), welches ursprünglich aus der Hafenstadt Liverpool stammte, dessen Anwohner auch «Scousers» genannt wurde. Der Vergleich zwischen deutschem und englischem Labskaus aber entpuppte sich leider als vernichtend: Was in deutschen Küchen eine gewagte Fusion aus Pökelfleisch, roter Beete und Spiegelei versprach, war auf der britischen Insel ein Brei aus unkenntlichen Zutaten, der ähnlich unbefriedigend schmeckte wie der sagenumworbene Sunday Roast.
Meine Eltern wollten davon nichts hören. Während wir nach dem Abendessen zurück in unser Hotel fuhren, schwärmten sie in den überschwänglichsten Tönen von den knusprigen englischen Bratkartoffeln und dieser «fabelhaften» Meerrettichsoße. Kritik am Sonntagsbraten war schlicht verboten.
In Wirklichkeit hatten meine Eltern sich schon Jahre vor unserem Umzug heimlich in England verliebt. Ein kleiner Kratzer an der Oberfläche reichte, um die Erkrankung wiederzuerwecken und die anglophile Grundhaltung in ein anglomanisches Fieber zu steigern. Innerhalb der nächsten paar Tage stapelten sich Salt-and-Vinegar-Chipstüten und Dosen mit englischem Bitter in unserem Hotelzimmer. Zum Frühstück schleppten meine Eltern mich in Cafés, in denen «Cooked Breakfast» serviert wurde, welches natürlich nie gekocht, sondern in heißem Fett gebraten war: Schinken, Würste, Blutwurst, Spiegelei und Bohnen in Tomatensoße. Jedes authentische englische Gericht mussten meine Eltern zumindest einmal probieren, egal ob «Shepherds Pie», «Fish and Chips» oder «Toad in the Hole», eine Art Lasagne mit Würsten und Kartoffelbrei anstelle von Pasta und Hack.
Vielleicht war es gar nicht das Essen an sich, was mich irritierte, sondern der Aufwand, den meine Eltern dabei betrieben. Dieses genießerische Gehabe – die geschlossenen Augen beim Biss in eine Scheibe Toast mit Marmite-Aufstrich, Ausrufe wie «Delicious!» und «How tasty» – kam mir aufgesetzt vor. Was war aus meiner sonst so norddeutsch-unterkühlten Familie geworden? Aber vielleicht war auch einfach nur die Nähe zu meinen Eltern das Problem. In Norderstedt war ich das jüngste von vier Geschwistern gewesen – jetzt war ich plötzlich mit meiner Mutter und meinem Vater allein. Unser Plan war, uns für zwei Monate eine Wohnung zu mieten, während wir uns nach einer neuen Schule umschauten. Das erstbeste Apartment, das mein Vater finden konnte, lag in Mortlake, einem vorörtlichen Stadtteil in einem toten Winkel zwischen der A205 und der Themse: ein für London unerwartet langweiliger Stadtteil, dessen größte Attraktion eine Budweiser-Brauerei und ein verwitterter viktorianischer Friedhof waren. Trotzdem waren die Mietpreise astronomisch hoch: Die beste Wohnung, die meine Eltern sich leisten konnten, war winzig und roch wie das Schlafzimmer meiner Oma.
Meine Mutter und mein Vater wuchsen...
Erscheint lt. Verlag | 2.4.2013 |
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Übersetzer | Philip Oltermann |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Anekdoten • Begegnungen • Bewunderung • Deutschland • Dinner for One • England • Fußballrivalität • Geschichte • Weltkriege • Zuneigung |
ISBN-10 | 3-644-49261-1 / 3644492611 |
ISBN-13 | 978-3-644-49261-5 / 9783644492615 |
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Größe: 724 KB
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