Der Schrank
DVA (Verlag)
978-3-421-05381-7 (ISBN)
- Titel erscheint in neuer Auflage
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"In der ersten Nacht träumte ich unruhig. In meinem Traum war nichts als ein Blick, ein reines Schauen, ohne Körper, ohne Namen. Ich hing hoch über dem Tal an einem nicht näher bestimmten Punkt, von dem aus ich fast alles sah. Ich bewegte mich in diesem Zustand des Schauens, blieb aber an derselben Stelle. Die Welt, die ich sah, bot sich mir dar, näherte und entfernte sich, so daß ich entweder alles auf einmal oder nur die kleinsten Einzelheiten sehen konnte."
Olga Tokarczuks großer Erfolg bei Lesern und Kritik hat mit der Magie ihrer Perspektive zu tun. Poetisch-realistisch beschreiben ihre Geschichten eine Welt, die uns in ihrer Fremdheit immer auch bekannt scheint. Individuelles korrespondiert mit kollektiv Unterbewußtem, unversehens findet sich der Leser im Netz des Erzählten. Die in diesem Band versammelten Geschichten entstammen den letzten Jahren und wurden speziell für die deutsche Ausgabe zusammengestellt.
Olga Tokarczuk, geboren 1962, studierte Psychologie in Warschau und gilt als eine der interessantesten polnischen Autorinnen. Ihre Bücher wurden bereits mehrfach mit Preisen bedacht und sind bei Kritikern wie Lesern gleichermaßen erfolgreich. 2008 wurde Olga Tokarczuk mit dem Samuel-Bogumil-Linde-Preis für Literatur ausgezeichnet.
"Als wir hier einzogen, kauften wir Den Schrank. Er war dunkel und alt und kostete weniger als der Transport vom Geschäft zu unserem Haus. Er hatte zwei Türen, die mit einem Pflanzenornament verziert waren, die dritte Tür war aus Glas, und in der Scheibe spiegelte sich die ganze Stadt, als wir den Schrank mit einem gemieteten Lieferwagen transportierten. Wir mußten eine Kordel um den Schrank binden, damit sich die Türen während der Fahrt nicht öffneten. Damals, als ich mit der verknoteten Kordel vor dem Schrank stand, hatte ich zum ersten mal dieses Gefühl der Unsinnigkeit meiner Existenz. »Er paßt gut zu unseren Möbeln«, sagte R. und strich zärtlich über den hölzernen Körper des Schranks, ganz so als handele es sich um eine Kuh, die man für den neuen Hof gekauft hat.Zuerst stellten wir ihn im Flur auf. Das sollte seine Quarantäne sein, bevor er in die Welt unseres Schlafzimmers eingelassen wurde. Ich spritzte Terpentin in die kaum sichtbaren Löcher, eine zuverlässige Impfung gegen den Zahn der Zeit. In der Nacht gab der an seinen neuen Ort verpflanzte Schrank knarrende Seufzer von sich. Die sterbenden Holzwürmer jammerten.Im Laufe der nächsten Tage räumten wir in unserer neuen alten Wohnung auf. In einer Fußbodenritze fand ich eine Gabel mit einem eingravierten Hakenkreuz auf dem Griff. Hinter der Holztäfelung sahen die Reste einer alten vergilbten Zeitung hervor, das einzige noch lesbare Wort war »Proletarier«. R. öffnete das Fenster weit, um die Gardinen aufzuhängen, und der Lärm der Bergmannskapellen, die gegen Abend durch die Stadt zogen, drang ins Zimmer. In der ersten Nacht, in der der Schrank unsere Träume mit uns teilte, konnten wir lange nicht einschlafen. "
Übersetzer | Esther Kinsky |
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Sprache | deutsch |
Maße | 115 x 187 mm |
Gewicht | 213 g |
Einbandart | gebunden |
Themenwelt | Literatur |
ISBN-10 | 3-421-05381-2 / 3421053812 |
ISBN-13 | 978-3-421-05381-7 / 9783421053817 |
Zustand | Neuware |
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