Die Firma (eBook)
640 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-11024-6 (ISBN)
John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seine Romane sind ausnahmslos Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.
1
Der Seniorpartner las die Bewerbung zum hundertsten Mal und fand abermals nichts, das ihm an Mitchell Y. McDeere mißfiel, jedenfalls nicht auf dem Papier. Er hatte den Verstand, den Ehrgeiz, das gute Aussehen. Und er war hungrig; mit seinem Hintergrund mußte er es sein. Er war verheiratet, und das war unerläßlich. Die Firma hatte nie einen unverheirateten Anwalt eingestellt, sie mißbilligte Scheidung ebenso wie Schürzenjägerei und Trinken. Ein Drogentest war Bestandteil des Vertrages. Er hatte in Rechnungswesen graduiert, hatte das Examen als amtlich zugelassener Wirtschaftsprüfer auf Anhieb bestanden und wollte Steueranwalt werden, was natürlich bei einer Steuerfirma Voraussetzung war. Er war weiß, und die Firma hatte nie einen Schwarzen eingestellt. Das war ihnen gelungen, indem sie eine verschwiegene, klubähnliche Gemeinschaft bildeten und Mitarbeiter nie per Inserat suchten. Andere Firmen inserierten und stellten Schwarze ein. Diese Firma rekrutierte und blieb blütenweiß. Außerdem hatte die Firma ihren Sitz in Memphis, und die schwarzen Spitzenleute wollten nach New York oder Washington oder Chicago. McDeere war ein Mann, und in der Firma gab es keine Frauen. Dieser Fehler war einmal vorgekommen, Mitte der siebziger Jahre, als sie die Nummer Eins des Harvard-Jahrgangs rekrutierten, bei der es sich zufällig um eine Frau und ein As in Steuersachen handelte. Sie überdauerte vier turbulente Jahre und kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben.
Er sah gut aus, auf dem Papier. Er war ihre erste Wahl. In diesem Jahr gab es nicht einmal weitere Kandidaten. Die Liste war sehr kurz. Entweder McDeere oder niemand.
Der geschäftsführende Partner, Royce McKnight, las ein Dossier mit der Aufschrift »Mitchell Y. McDeere – Harvard«. Es war einen Zoll dick, eng beschrieben, mit ein paar Fotos, und von ein paar ehemaligen CIA-Agenten in einer privaten Detektei in Bethesda zusammengestellt worden. Sie war Kunde der Firma und stellte die Nachforschungen alljährlich kostenlos an. Es wäre ein Kinderspiel, nichtsahnende Jurastudenten auszuforschen, sagten sie. Sie erfuhren zum Beispiel, daß er es vorzog, den Nordosten zu verlassen, daß er drei Stellenangebote hatte, zwei in New York und eins in Chicago, und daß das höchste Angebot 76 000 Dollar und das niedrigste 68 000 Dollar betrug. Er war gefragt. Er hätte Gelegenheit gehabt, bei einem Wertpapier-Examen in seinem zweiten Jahr zu schummeln. Er hatte es abgelehnt und als Klassenbester abgeschnitten. Vor zwei Monaten war ihm bei einer Fakultätsparty Kokain angeboten worden. Er hatte nein gesagt und war gegangen, als das allgemeine Schnupfen begann. Er trank gelegentlich ein Bier, aber Trinken war teuer, und er hatte kein Geld. Seine Schulden aus dem Studentendarlehen beliefen sich auf knapp 23 000 Dollar. Er war hungrig.
Royce McKnight blätterte in dem Dossier und lächelte. McDeere war ihr Mann.
Lamar Quin war zweiunddreißig und noch kein Partner. Er war mitgenommen worden, um jung auszusehen und jung zu agieren und ein jugendliches Bild abzugeben für Bendini, Lambert & Locke, eine in der Tat junge Firma: die meisten Partner traten mit Ende Vierzig oder Anfang Fünfzig in den Ruhestand, steinreich. Er würde es in dieser Firma zum Partner bringen. Mit der Garantie eines sechsstelligen Einkommens bis ans Ende seiner Tage konnte Lamar sich der Maßanzüge für zwölfhundert Dollar erfreuen, die so bequem an seiner hochgewachsenen, sportlichen Gestalt hingen. Er durchquerte lässig die Tausend-Dollar-Suite und goß sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Er schaute auf die Uhr. Er warf einen Blick auf die beiden Partner an dem kleinen Konferenztisch in der Nähe des Fensters.
Genau um halb drei klopfte jemand an die Tür. Lamar sah die Partner an, die das Dossier in einem offenen Aktenkoffer verschwinden ließen. Alle drei griffen nach ihren Jacketts. Lamar schloß den obersten Knopf und öffnete die Tür.
»Mitchell McDeere?« fragte er mit einem breiten Lächeln und ausgestreckter Hand.
»Ja.« Sie schüttelten einander kräftig die Hand.
»Freue mich, Sie kennenzulernen, Mitchell. Ich bin Lamar Quin.«
»Ganz meinerseits. Bitte nennen Sie mich Mitch.« Er trat ein und ließ den Blick schnell durch das geräumige Zimmer schweifen.
»Gern, Mitch.« Lamar ergriff seine Schulter und führte ihn durch die Suite zu den Partnern, die sich vorstellten. Sie waren überaus freundlich und herzlich. Sie boten ihm zuerst Kaffee an, dann Mineralwasser. Sie saßen an einem glänzenden Konferenztisch aus Mahagoni und tauschten Höflichkeiten aus. McDeere knöpfte sein Jackett auf und schlug die Beine übereinander. Er hatte inzwischen reichlich Erfahrungen bei Vorstellungsgesprächen gesammelt und wußte, daß sie ihn haben wollten. Er entspannte sich. Bei drei Stellenangeboten von drei der angesehensten Firmen im Lande war er nicht auf dieses Interview, diese Firma angewiesen. Er konnte es sich jetzt leisten, ein bißchen zu viel Selbstsicherheit an den Tag zu legen. Er war aus Neugierde gekommen. Und er sehnte sich nach wärmerem Klima.
Oliver Lambert, der Seniorpartner, lehnte sich auf den Ellenbogen vor und übernahm bei dem einleitenden Geplauder die führende Rolle. Er war gewandt und verbindlich, mit einem angenehmen, fast professionellen Bariton. Mit einundsechzig war er der Großvater der Firma und verbrachte den größten Teil seiner Zeit damit, den riesenhaften Egos einiger der reichsten Anwälte im Lande beizustehen und sie im Gleichgewicht zu halten. Er war die Vaterfigur, derjenige, an den sich die jüngeren Mitarbeiter mit ihren Problemen wendeten. Mr. Lambert war auch für die Rekrutierung zuständig, und es war seine Aufgabe, Mitchell Y. McDeere einzustellen.
»Haben Sie die Interviews satt?« fragte Oliver Lambert.
»Eigentlich nicht. Sie gehören nun einmal dazu.«
Ja, ja, stimmten alle zu. Es kam ihnen vor wie gestern, als sie selbst zu Vorstellungsgesprächen erschienen waren und Bewerbungen einreichten und eine Heidenangst hatten, daß sie keinen Job finden würden und drei Jahre Plackerei für die Katz gewesen wären. Sie wußten genau, was er durchmachte.
»Darf ich eine Frage stellen?« fragte Mitch.
»Gewiß.«
»Natürlich.«
»Fragen Sie nur.«
»Weshalb findet dieses Gespräch in einem Hotelzimmer statt? Die anderen Firmen führen ihre Interviews auf dem Campus durch, über das Vermittlungsbüro.«
»Gute Frage.« Sie alle nickten und schauten sich an und waren sich einig, daß dies eine gute Frage war.
»Vielleicht kann ich Ihnen darauf eine Antwort geben, Mitch«, sagte Royce McKnight, der geschäftsführende Partner. »Sie müssen verstehen, was es mit unserer Firma auf sich hat. Wir sind anders, und wir sind stolz darauf. Wir haben einundvierzig Anwälte, sind also klein im Vergleich zu anderen Firmen. Wir stellen nicht sonderlich viele Mitarbeiter ein, ungefähr einen pro Jahr. Wir offerieren die höchsten Gehälter und Zulagen im ganzen Land, und das ist keine Übertreibung. Deshalb sind wir sehr wählerisch. Wir haben Sie ausgewählt. Der Brief, den Sie vorigen Monat erhalten haben, wurde geschrieben, nachdem wir mehr als zweitausend Jurastudenten an den besten Universitäten überprüft hatten. Es wurde nur ein Brief versandt. Wir schreiben offene Stellen nicht aus und geben keine Inserate auf. Wir halten uns bedeckt, und wir machen alles anders. Das ist unsere Erklärung.«
»Klingt einleuchtend. Um was für eine Art Firma handelt es sich?«
»Steuern. Einige Wertpapier-, Immobilien- und Bankgeschäfte, aber achtzig Prozent sind Steuersachen. Aus diesem Grunde wollen wir Sie kennenlernen, Mitch. Für den Steuersektor bringen Sie die besten Voraussetzungen mit.«
»Weshalb sind Sie in Western Kentucky aufs College gegangen?« fragte Oliver Lambert.
»Aus dem einfachen Grund, weil mir dort ein volles Stipendium angeboten wurde, wenn ich Football spielte. Sonst hätte ich das College nicht bezahlen können.«
»Erzählen Sie uns von Ihrer Familie.«
»Ist das wichtig?«
»Für uns ist es sehr wichtig, Mitch«, sagte Royce McKnight herzlich.
Das sagen sie alle, dachte McDeere. »Okay, mein Vater kam bei einem Grubenunglück ums Leben, als ich sieben Jahre alt war. Meine Mutter hat wieder geheiratet und lebt jetzt in Florida. Ich hatte zwei Brüder. Rusty ist in Vietnam gefallen. Ich habe noch einen Bruder, der Ray McDeere heißt.«
»Wo ist er?«
»Das tut nichts zur Sache.« Er starrte Royce McKnight an und ließ damit erkennen, daß er ein Problem mit sich herumschleppte. Das Dossier enthielt wenig über Ray.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der geschäftsführende Partner leise.
»Mitch, unsere Firma sitzt in Memphis«, sagte Lamar. »Würde Sie das stören?«
»Durchaus nicht. Ich bin nicht scharf auf kaltes Klima.«
»Waren Sie schon einmal in Memphis?«
»Nein.«
»Wir werden Sie bald dorthin einladen. Es wird Ihnen gefallen.«
Mitch lächelte und nickte und spielte mit. Meinten diese Leute es ernst? Wie konnte er eine so kleine Firma in einer so kleinen Stadt in Erwägung ziehen, wo Wall Street auf ihn wartete?
»Wo rangieren Sie in Ihrem Jahrgang?« fragte Mr. Lambert.
»Unter den ersten fünf.« Nicht den ersten fünf Prozent, sondern den ersten fünf Leuten. Das genügte ihnen allen als Antwort. Unter den ersten fünf von dreihundert. Er hätte sagen können, als Dritter, einen Bruchteil von Nummer Zwei entfernt und in Reichweite von Nummer Eins. Aber er sagte es nicht. Sie kamen von weniger angesehenen Universitäten – Chicago, Columbia und Vanderbilt, wie er sich nach einer kursorischen Lektüre von Martindale-Hubbell’s Juristenkalender erinnerte. Er wußte, daß sie nicht auf...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2013 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Agententhriller • Alptraum • Anwalt • Betrug • eBooks • FBI • Firma • Justiz • Kanzlei • Korruption • Politthriller • Roman • Spannung • spiegel beststeller • Thriller • Tom Cruise • Verrat • Weltbestseller |
ISBN-10 | 3-641-11024-6 / 3641110246 |
ISBN-13 | 978-3-641-11024-6 / 9783641110246 |
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