Höllental (eBook)
Goldmann (Verlag)
978-3-641-08154-6 (ISBN)
Im ersten Schnee des Winters steht eine junge Frau auf einer Eisenbrücke hoch über der Höllentalklamm. Sie ist fest entschlossen, sich in die Tiefe zu stürzen. Roman Jäger, Mitglied der Bergwacht, versucht noch sie aufzuhalten, doch vergeblich. Was ihm bleibt, ist ihr letzter Blick - ein Blick voll entsetzlicher Angst, der ihn bis in seine Träume verfolgt. Er macht sich daran, die Hintergründe dieses Selbstmords herauszufinden. Und stößt auf ein schreckliches Geheimnis, das sein Leben für immer verändern wird ...
Andreas Winkelmann, geboren 1968, entdeckte schon früh seine Leidenschaft für unheimliche Geschichten. Er war unter anderem Soldat, Sportlehrer und Taxifahrer, hielt es aber in keinem Job lange aus und blieb nur dem Schreiben treu. »Der menschliche Verstand erschafft die Hölle auf Erden, und dort kenne ich mich aus«, beschreibt er seine Faszination für das Genre des Bösen. Er lebt heute mit seiner Familie in einem einsamen Haus am Waldesrand nahe Bremen.
Augsburg
01.12.2009
Ihre Oberschenkelmuskulatur brannte, ihre Lunge litt Qualen. Schweiß tropfte von ihrem Gesicht zu Boden, ihr zu einem Zopf geflochtenes Haar flog hin und her. Mara Landau trieb die Maschine und sich selbst bis an die Belastungsgrenze. Aus dem Inneren des Stairmasters erklang ein metallenes Kratzen, trotzdem stellte die zweiundzwanzigjährige Brünette die Schwierigkeitsstufe noch höher – auf die höchste Frequenz, die das Gerät hergab. Während Maras Hände die Pulsmesser umklammerten, pumpten ihre Beine auf und ab und simulierten den harten Anstieg einer zwanzigprozentigen Steigung.
Von allen aeroben Geräten im Fitness-Studio benutzte Mara Landau den Stairmaster am häufigsten. Sie liebte diese Maschine. Sie liebte die Schmerzen, den Schweiß, das Gefühl, an ihre Grenzen zu gehen. Außerdem war es das perfekte Training fürs Bergsteigen. Mit siebzehn Jahren war sie zum ersten Mal zum Klettern in die Berge gegangen. Anfangs war es ihr nur um das reine Felsklettern gegangen, doch in den letzten zwei Jahren war mehr und mehr das Höhenbergsteigen hinzugekommen. Jetzt waren es die schneebedeckten Gipfel, die sie reizten. Und dafür brauchte man Kondition. Wenn Mara wie jetzt alles gab, malte sie sich gern aus, wie sie eines Tages auf einen der Achttausender im Himalaya steigen würde. Schon jetzt verfolgte sie jede Sendung darüber, las jedes Buch, jeden Erfahrungsbericht. Und sollte sie eines Tages das dafür nötige Geld zusammengespart haben, dann würde sie diesen Traum Realität werden lassen.
Bis dahin reichten ihr die Alpen.
Und der Stairmaster.
Sie hielt die hohe Frequenz länger durch als sonst. Das musste an dem zurückliegenden beschissenen Tag und dem aufgestauten Frust liegen. Der Prof vom Fachbereich Sport hatte ihr Referat zur Energiebereitstellung über Kreatinphosphate mit einer lausigen Drei benotet und sich auch nicht umstimmen lassen. Vielleicht hatte sie nicht perfekt recherchiert, schon möglich, aber für eine Zwei hätte es trotzdem reichen müssen. Der Prof mochte sie einfach nicht, daran lag es.
Ihr Frust hatte aber noch einen anderen Grund.
Am Nachmittag war der erneute Versuch, ihre Freundschaft zu Laura doch noch zu retten, gescheitert. Wieder einmal. Laura war weder über Handy noch Festnetz zu erreichen gewesen und hatte auch nicht die Tür geöffnet. Eine Stunde hatte Mara im Treppenhaus gewartet in der Hoffnung, ihre Freundin würde nach Hause kommen. Eine Stunde, in der sie immer wieder darüber nachgedacht hatte, wie es so weit hatte kommen können. Laura war nicht aufgetaucht. Eine Nachbarin hatte Mara schließlich berichtet, Laura sei schon sehr früh am Vormittag aufgebrochen.
Mara war ratlos und traurig und wusste nicht mehr weiter. Sie hatte schon daran gedacht, mit Lauras Eltern zu reden, wusste aber nicht, ob das nicht ein Vertrauensbruch war, den Laura ihr niemals verzeihen würde. Oft genug hatte Laura gesagt, dass es speziell ihren Vater nichts anging, was sie tat, wie sie lebte und mit wem sie ausging. Seit sie ausgezogen war, war das Zerwürfnis zwischen den beiden einfach zu tief geworden. Nicht einmal Lauras Mutter hatte den Riss kitten können, obwohl sie es diplomatisch geschickt oft genug versucht hatte.
Jetzt begannen die Muskeln zu übersäuern. Mara gab ein paar Sekunden noch mal alles, fing sich die anerkennenden Blicke einiger anderer Gäste des Studios ein, vor allem der Jungs, die ihr auf den Hintern schauten, hämmerte dann aber auf die rote Taste. Das Gerät fuhr langsam herunter und ging in die Cool-Down-Phase über.
Nach weiteren drei Minuten stieg Mara von den Pedalen. Sie musste sich noch einen Moment festhalten, so sehr war sie außer Atem. Sie wischte sich das erhitzte, rot glühende Gesicht mit ihrem Handtuch ab und ging auf zittrigen Beinen Richtung Umkleide. Für heute war sie fertig, im doppelten Sinne des Wortes.
In der Umkleide schloss sie den Spind auf, nahm die Wasserflasche heraus und ließ sich auf die Holzbank fallen.
»Mal wieder übertrieben?«, fragte Tessa.
Ihr gehörte das Fitness-Studio.
Sie absolvierte gerade ihren Rundgang durch die Kabinen und blieb vor Mara stehen. Mara verstand sich sehr gut mit der zehn Jahre älteren Tessa. Erst gestern hatte sie das Angebot, in den Abendstunden als Trainerin zu jobben, angenommen. Zehn bis fünfzehn Stunden die Woche würde sie neben ihrem Sportstudium locker schaffen. Und die sieben Euro pro Stunde konnte sie gut gebrauchen. Das zusätzliche Geld würde sie ihrem Traum vom Himalaya ein Stück näher kommen lassen.
»Kennst mich ja«, sagte Mara, noch immer kurzatmig.
»Diesmal sah es aber ziemlich verbissen aus.«
»Echt?«
Tessa nickte. »Wie ein Kampf, nicht wie Training.«
»Ich hatte einen beschissenen Tag«, wich Mara aus. So gut, dass sie Tessa von den Problemen mit ihrer besten Freundin erzählen würde, kannten sie sich nun doch nicht.
»Na, dann hab wenigstens noch einen schönen Abend.«
»Danke. Du auch.«
Tessa verschwand. Mara nuckelte an ihrer Wasserflasche und dachte nach. War sie wirklich so verbissen gewesen? Sah man es ihr an, wie es ihr ging? Das wollte sie eigentlich nicht. Aber die Sache mit Laura ging ihr wirklich an die Nieren. Sich schuldig zu fühlen und nichts tun zu können war ein Zustand, den sie nur sehr schwer ertrug. Eigentlich gar nicht.
Das ständige Grübeln machte sie fertig. Sie brauchte Klarheit. Wahrscheinlich war ihre Arbeit auch wegen dieser Sache schlechter ausgefallen als sonst. Ihr fehlte die Konzentration.
Während sie trank, nestelte sie ihr Handy aus dem Seitenfach der Sporttasche.
Eine SMS war während des Trainings eingegangen.
Von Laura.
Nur ein Wort.
»Hinauf!«
Sie befanden sich tief unten in der Klamm. Hier standen die grauen Felswände dicht beieinander und pressten die Welt auf ein Minimum zusammen. Wenige Meter ebener Boden, und den mussten sie sich mit einem reißenden Fluss teilen, der über eine für den Menschen kaum vorstellbare Zeitspanne diese Welt überhaupt erst erschaffen hatte. Denn so massiv und ewig beständig die Wände auch wirkten, hatte das Wasser sich doch tief hineingeschnitten und tat es immer noch. Dies war kein Ort für das Leben, jeder, der sich dort aufhielt, konnte das spüren. In dieser beinahe lichtlosen Enge gedieh nichts, und doch war es ein Ort von unvergleichlicher, wilder Schönheit und nicht nachlassendem Reiz. Kristallklares Wasser umspülte sanft gerundete Felsen, polierte Kiesel zu Edelsteinen, staute sich in Trichtern und Becken, um dann aus einem schmalen Loch hervorzuschießen, sich in die Tiefe zu stürzen und mit Brüllen und Tosen an den Felsen zu nagen, die ihm schutzlos ausgeliefert waren. Überall war es feucht; Gischt spritzte auf, Tag und Nacht, Wasserkaskaden perlten aus großer Höhe hinab, um den flüssigen Reichtum dieser Welt zu mehren. Stille gab es hier nicht, und wer die Zeichen nicht erkennen wollte, dem schrie das Wasser seine Warnung ins Gesicht: Du bist hier nur geduldet, und wenn es mir gefällt, dann spüle ich dich hinweg und spucke dich talabwärts als etwas wieder aus, das meiner mehr entspricht als einem Menschen.
Roman erinnerte sich an die Klamm im Sommer, wenn es die hoch am Himmel stehende Sonne schaffte, ein paar Strahlen hier herunterzuschicken. Dann glitzerte und funkelte diese Welt, und in der Gischt spannten sich Regenbogen zwischen den Wänden wie Brücken. An Sommertagen hielt Roman sich gern unten in der Höllentalklamm auf, doch jetzt, im Winter, zudem am Abend, war dies ein unheimlicher und Angst einflößender Ort.
Im Hintergrund röhrte der tragbare Dieselgenerator, der den Strom für die beiden Halogenscheinwerfer erzeugte. Ein geisterhafter Vorhang aus Schneeflocken trieb durchs Licht. Wie vorhergesagt hatte der Schneefall noch zugenommen, wenngleich hier unten in der Klamm nicht viel davon ankam. Dafür spürten sie quasi als Ausgleich vom Wind aber umso mehr. Es waren scharfe, eiskalte Fallwinde, die auf dem Rücken des Wassers durch die Schlucht ritten.
Mit tauben Fingern band Roman Jäger das Ende des Sicherungsseils in einen Haken mit Karabiner ein, der sich schon seit Jahren in der Felswand in der Nähe des Beckens befand. Denn in diesem natürlichen Becken, das von den Bergrettern Stopselzieher genannt wurde, sammelten sich die Körper, die oberhalb der Eisernen Brücke in die Klamm stürzten. Hier gab es häufiger Einsätze mit Totenbergung.
Roman kehrte mit dem Seil zu seinem Kollegen zurück. Hans Dachner hockte auf einem Felsblock am Rande des Beckens. Er trug einen schwarzen Trockentauchanzug ohne Helm und Brille. Zwar würde er nicht tauchen müssen, aber ohne den Anzug könnte er die Temperatur des Wassers keine zwei Minuten ertragen. Hans nahm ihm das Seil ab und sicherte sich mit einem Achterknoten an seinem Klettergurt ein. Er und Georg Lorenz, der ebenfalls einen Tauchanzug trug, hatten sich bereit erklärt, in den Hammersbach zu steigen, um die Leiche zu bergen.
»Das wird auch mit Anzug verflucht kalt«, sagte Roman.
Er selbst zitterte immer noch, trotz seiner wattierten, dichten Kleidung, trotz des heißen Tees, den er in der letzten halben Stunde becherweise getrunken hatte.
Die Kälte, die ihn zittern ließ, kam von innen, da half kein Heißgetränk, und es würde noch eine Weile dauern, bis sie verschwand. Im Moment wurde sie sogar nur noch durchdringender, sobald er nur kurz die Augen schloss. Dann sah er sofort den Blick der jungen Frau, diese durchdringend blauen Augen, die Angst darin. Sie hatte sich vor ihm gefürchtet, so sehr, dass sie sich aus seinem Griff befreit hatte, und Roman verstand einfach nicht, warum.
Es war zwei Stunden her, aber sein rechter Arm...
Erscheint lt. Verlag | 18.2.2013 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Alpen • Berghütte • Das Haus der Mädchen • eBooks • Entführung • Psychopath • Psychothriller • Schneesturm • Spiegel-Besteller-Autor • Spiegel-Bestseller-Autor • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-08154-8 / 3641081548 |
ISBN-13 | 978-3-641-08154-6 / 9783641081546 |
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