Mr. Vertigo (eBook)
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01991-1 (ISBN)
Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik. Am 30. April 2024 ist Paul Auster im Alter von 77 Jahren gestorben.
Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik. Am 30. April 2024 ist Paul Auster im Alter von 77 Jahren gestorben. Werner Schmitz ist seit 1981 als Übersetzer tätig, u. a. von Malcolm Lowry, John le Carré, Ernest Hemingway, Philip Roth und Paul Auster. 2011 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis. Er lebt in der Lüneburger Heide.
Sie gaben mir Essen, Kleidung und ein eigenes Zimmer. Ich bekam weder Schläge noch Prügel, weder Fußtritte noch Ohrfeigen, doch so erträglich meine Lage sein mochte, ich hatte mich noch nie so niedergeschlagen gefühlt, so voller Bitterkeit und aufgestauter Wut. In den ersten sechs Monaten dachte ich bloß an Flucht. Ich war ein Stadtkind, mit Jazz im Blut aufgewachsen, ein Straßenjunge, der immer nur an sich selbst gedacht hatte; das Gewühl der Menge, das Quietschen der Straßenbahnen, der Puls der Neonlichter, der Gestank von geschmuggeltem Whiskey in den Rinnsteinen – das war mein Lebenselixier. Ich war ein Schlingel, dem der Boogie in den Beinen steckte, ein kleiner Scatsänger mit flinker Zunge und hundert Ideen, und da saß ich nun am Ende der Welt und lebte unter einem Himmel, der nichts anderes zu bieten hatte als Wetter – und das war meistens schlecht.
Meister Yehudis Grundbesitz umfasste fünfzehn Hektar unbebautes Land, ein zweigeschossiges Farmhaus, einen Hühnerstall, einen Schweinekoben und eine Scheune. Er hatte ein Dutzend Hühner, zwei Kühe, das graue Pferd und sechs oder sieben Schweine. Es gab weder Strom noch fließend Wasser, weder Telephon noch Radio, weder ein Grammophon noch sonst was. Einzige Quelle der Unterhaltung war ein Klavier im Wohnzimmer, aber bloß Äsop konnte darauf spielen, und der stümperte selbst bei den simpelsten Stücken einen solchen Murks zusammen, dass ich jedes Mal aus dem Zimmer ging, sobald er sich anschickte, in die Tasten zu greifen. Das Haus war einfach grauenhaft, die Welthauptstadt der Langeweile, und schon nach einem Tag hatte ich die Nase gestrichen voll davon. Nicht mal mit Baseball kannten sich diese Leute aus, ich hatte keinen, mit dem ich über meine geliebten Cardinals reden konnte, was damals so ziemlich das einzige Thema war, wofür ich mich interessierte. Ich kam mir vor, als sei ich durch ein Zeitloch in die Steinzeit gestolpert, in ein Land, durch das noch die Saurier streiften. Mutter Sue erzählte, Meister Yehudi habe die Farm ungefähr sieben Jahre zuvor bei einer Wette von irgendeinem Kerl in Chicago gewonnen. Muss ja ’ne tolle Wette gewesen sein, sagte ich. Der Verlierer entpuppt sich als Gewinner, und der Trottel von Gewinner vermodert für den Rest seines Lebens im hintersten Kaff von Amerika.
Ich war ein dummer kleiner Hitzkopf damals, das will ich gern zugeben, aber ich denke nicht dran, mich zu rechtfertigen. Ich war eben, wie ich war, ein Produkt der Menschen und Orte, von denen ich herkam, und es hat keinen Sinn, jetzt darüber zu lamentieren. Am meisten beeindruckt mich an diesen ersten Monaten, wie geduldig die Leute waren, wie gut sie mich zu verstehen und sich mit meinen Mätzchen abzufinden schienen. Viermal bin ich in diesem ersten Winter weggelaufen, einmal bis nach Wichita; und jedes Mal haben sie mich zurückgeholt, ohne Fragen zu stellen. Ich war kaum mehr als ein Nichts – ein paar Moleküle weniger, und ich wäre überhaupt kein Mensch gewesen, und da der Meister mir allenfalls die Seele eines Tieres zugestand, fing er auch dort mit mir an: bei den Tieren im Stall.
Sosehr ich es verabscheute, mich um Hühner und Schweine zu kümmern, ihre Gesellschaft war mir doch lieber als die der Leute. Ich konnte mich kaum entscheiden, was mir mehr zuwider war, und brachte meine Abneigungen täglich in eine andere Reihenfolge. An Mutter Sue und Äsop ärgerten mich ihre ständigen Sticheleien, aber meinen größten Zorn und Unwillen erregte schließlich doch der Meister. Er war der Schuft, der mich dort hingelockt hatte, er trug die Hauptschuld an meiner beschissenen Lage. Am meisten fuchste mich sein Sarkasmus, die Seitenhiebe und Beleidigungen, mit denen er mich ständig überschüttete, die ewigen Schikanen und Piesackereien, die nur dazu dienten, mir meine Nichtsnutzigkeit zu beweisen. Während er zu den beiden anderen stets höflich war, ein Muster von Anstand, ließ er mir gegenüber selten die Gelegenheit aus, irgendeine Gemeinheit von sich zu geben. Das fing am allerersten Morgen an und ging so weiter. Ich merkte bald, dass er keinen Deut besser war als Onkel Slim. Sicher, er hat mich nicht verprügelt wie Slim, aber seine Worte glichen Fausthieben und taten nicht weniger weh als jede Kopfnuss.
«Nun erzähl mir mal, du zartbesaiteter Schlingel», sagte er an diesem ersten Morgen zu mir, «was du so alles draufhast.»
«Hä?», gab ich zurück. «Wie meinen?»
«Ich rede von der Schule, Dummkopf. Hast du je deinen Fuß in ein Klassenzimmer gesetzt – und falls ja, was hast du da gelernt?»
«Ich brauch doch zum Lernen die Schule nicht. Da kann ich was Besseres mit meiner Zeit anfangen.»
«Ausgezeichnet. Du sprichst wie ein echter Gelehrter. Aber drück dich etwas genauer aus. Was ist mit dem Alphabet? Kannst du die Buchstaben des Alphabets schreiben oder nicht?»
«Ein paar. Die, die mir nützlich sind. Die anderen interessieren mich nicht. Die sind mir nur lästig, also kümmere ich mich nicht drum.»
«Und welche sind dir nützlich?»
«Also, mal sehen. Das A, das gefällt mir, und das W. Dann, wie heißt das Ding noch mal, das L, und das E, und das R, und dann dieser eine, der aussieht wie ein Kreuz. Das T. Wie in T-Bone-Steak. Das sind meine Freunde, und der Rest kann von mir aus in der Hölle braten.»
«Du kannst also deinen Namen schreiben.»
«Sie haben’s erfasst, Chef. Ich kann meinen Namen schreiben, ich kann zählen, so weit Sie wollen, und ich weiß, dass die Sonne ein Stern am Himmel ist. Außerdem weiß ich, dass Bücher was für Weiber und Waschlappen sind, und falls Sie vorhaben, mir irgendwas aus Büchern beizubringen, können wir die ganze Sache gleich abblasen.»
«Keine Bange, Kleiner. Was du mir da eben gesagt hast, ist Musik in meinen Ohren. Je dümmer du bist, desto besser für uns beide. Denn so habe ich weniger rückgängig zu machen, und das spart uns eine Menge Zeit.»
«Und was ist mit dem Flugunterricht? Wann fangen wir damit an?»
«Wir haben schon damit angefangen. Von jetzt an ist alles, was wir tun, Teil deiner Ausbildung. Das wird dir nicht immer einleuchten, also schreib’s dir hinter die Ohren. Vergiss es nicht, dann wirst du auch durchhalten können, wenn’s mal schwierig wird. Wir haben einen weiten Weg vor uns, Junge, und als Erstes werde ich deinen Willen brechen müssen. Ich wünschte, es ginge auch anders, aber da ist nichts zu machen. Freilich dürfte die Aufgabe nicht allzu schwierig sein, wenn man bedenkt, aus was für einem Sumpf ich dich gezogen habe.»
Drum durfte ich nun täglich im Stall Scheiße schippen und mir die Ohren abfrieren, während die anderen warm und gemütlich im Haus hockten. Mutter Sue kümmerte sich ums Kochen und sonstige Hausarbeiten, Äsop lümmelte sich lesend auf dem Sofa, und Meister Yehudi tat gar nichts. Seine Hauptbeschäftigung schien es zu sein, von morgens bis abends auf einem unbequemen Holzstuhl zu hocken und aus dem Fenster zu schauen. Von seinen Gesprächen mit Äsop abgesehen, war das das Einzige, was ich ihn bis zum Frühjahr habe tun sehen. Manchmal hörte ich den beiden bei ihren Unterhaltungen zu, wurde aber nicht schlau daraus. Sie benutzten so viele schwierige Wörter, dass es sich wie eine Geheimsprache anhörte. Später, als ich mich ein bisschen besser eingelebt hatte, erfuhr ich, dass sie studierten. Meister Yehudi hatte es auf sich genommen, Äsop eine gründliche Allgemeinbildung zu verschaffen, und die Bücher, die sie lasen, behandelten alle möglichen Themen: Geschichte, Naturwissenschaften, Literatur, Mathematik, Latein, Französisch und so weiter. Mir wollte er das Fliegen beibringen, aber aus Äsop wollte er einen Gelehrten machen, und soviel ich sehen konnte, lag ihm Letzteres weit mehr am Herzen. Wie der Meister selbst einmal eines Morgens kurz nach meiner Ankunft sagte: «Er war noch viel schlimmer dran als du, Rotznase. Als ich ihn vor zwölf Jahren aufgelesen habe, ist er in Lumpen auf einem Baumwollfeld in Georgia herumgekrochen. Er hatte seit zwei Tagen nichts gegessen, und seine Mama, selbst noch ein Kind, lag tot, an Tbc gestorben, in ihrer Hütte, vierzehn Meilen die Straße runter. So weit war der Junge von zu Hause weg. Er phantasierte schon vor Hunger, und wenn ich ihn nicht zufällig gefunden hätte, wäre sein Schicksal besiegelt gewesen. Sein Körper mag verunstaltet sein, aber dafür funktioniert sein Hirn umso prächtiger, und auf den meisten Gebieten hat er mich längst überholt. In drei Jahren will ich ihn aufs College schicken. Dort kann er seine Studien fortsetzen, und wenn er seinen Abschluss hat und in die Welt hinausgeht, wird er ein Führer seines Volkes werden, ein leuchtendes Beispiel für alle unterdrückten Schwarzen in diesem brutalen Land der Heuchler.» Ich verstand kein Wort von dem, was der Meister da sagte, aber die Liebe, mit der er sprach, brannte sich mir unauslöschlich ein. Bei all meiner Beschränktheit, so viel verstand ich nun doch: Er liebte Äsop wie seinen eigenen Sohn, und ich war ein Depp, ein räudiges Stück Vieh, das man anspuckte und im Regen stehen ließ.
Dass Mutter Sue ebenso unwissend, ungebildet und arbeitsscheu war wie ich, hätte uns einander näherbringen können, tat es aber nicht. Zwar begegnete sie mir nicht mit offener Feindschaft, doch war mir ihre Gegenwart unheimlich, und ich brauchte fast noch länger, mich auf sie und ihre Schrullen einzustellen, als mich an die beiden anderen zu gewöhnen – die ebenfalls kaum als normal bezeichnet werden konnten. Auch wenn sie nicht in Decken gehüllt war und keinen Hut auf dem Kopf trug, fiel es mir schwer, sie einem bestimmten Geschlecht zuzuordnen. Das beunruhigte mich irgendwie, und selbst, nachdem ich sie durchs Schlüsselloch ihrer Tür mal nackt gesehen und mich mit eigenen Augen davon...
Erscheint lt. Verlag | 2.1.2013 |
---|---|
Übersetzer | Werner Schmitz |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1920er • 20er Jahre • Amerikanische Kultur • Amerikanische Literatur • Coming-of-age • Cowboys • Fantastische Literatur • goldene Zwanziger Jahre • historische Fiktion • humorvolle Bücher • Jahrmarkt • Kansas • Karriere • Magischer Realismus • Mittlerer Westen • Moralischer Verfall • topeka • USA • US-Literatur • Zeitgenössische Literatur |
ISBN-10 | 3-644-01991-6 / 3644019916 |
ISBN-13 | 978-3-644-01991-1 / 9783644019911 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 584 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich