Das Kalkwerk (eBook)
224 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73455-1 (ISBN)
In der Nacht vom 24. zum 25. Dezember erschießt Konrad seine verkrüppelte, seit Jahren an den Rollstuhl gefesselte Frau. Zwei Tage später findet ihn die Polizei halb erfroren in einer ausgetrockneten Jauchegrube. Er läßt sich widerstandslos abführen. Thomas Bernhard beschreibt in seinem Roman Konrads Gründe für diese Tat.
<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.</p>
Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.
... wie Konrad vor fünfeinhalb Jahren das Kalkwerk gekauft hat, sei das erste die Anschaffung eines Klaviers gewesen, das er in seinem im ersten Stock gelegenen Zimmer habe aufstellen lassen, heißt es im Laska, nicht aus Vorliebe für die Kunst, so Wieser, der Verwalter der mußnerschen Liegenschaft, sondern zur Beruhigung seiner durch jahrzehntelange Geistesarbeit überanstrengten Nerven, so Fro, der Verwalter der trattnerschen Liegenschaft, mit Kunst, die er, Konrad, hasse, habe sein Klavierspiel nicht das geringste zu tun gehabt, er improvisierte, so Fro, und habe, so Wieser, an jedem Tag eine sehr frühe und eine sehr späte Stunde bei geöffneten Fenstern und bei eingeschaltetem Metronom auf dem Instrument dilettiert ...
... das zweite sei, einerseits aus Furcht, aus Leidenschaft für die Handfeuerwaffen andererseits, der Kauf einer größeren Anzahl von älteren, aber doch exakt funktionierenden Gewehren der Marken Wänzl, Vetterli, Gorosabel, Mannlicher etcetera aus dem Besitz des im Vorjahr verstorbenen Forstrates Ulrich gewesen, mit welchen Konrad, ein von vornherein durch und durch scheuer Menschentypus (Wieser), in gesteigertem Maße furcht- und wachsam geworden vor allem im Hinblick auf die noch nicht lange zurückliegenden, noch immer unaufgeklärten Morde an den Landwirten Mußner und Trattner, das Kalkwerk gegen Einbrecher und überhaupt gegen sogenannte Fremdelemente schützen wollte ...
... seine durch jahrzehntelange falsche Medikamentenbehandlung schon beinahe gänzlich verkrüppelte, die Hälfte ihres Lebens in einem speziell für sie konstruierten französischen Krankensessel hockende Frau, eine geborene Zryd, der jetzt, wie Wieser sagt, nichts mehr weh tue, habe Konrad im Umgang mit einem Mannlicher-Karabiner angelernt, den die sonst vollkommen Wehrlose hinter ihrem Krankensessel versteckt immer in entsichertem Zustand griffbereit hatte; mit dieser Waffe hat Konrad sie in der Nacht vom vierundzwanzigsten auf den fünfundzwanzigsten Dezember mit zwei Schüssen in den Hinterkopf (Fro), mit zwei Schüssen in die Schläfe (Wieser), urplötzlich (Fro), am Ende der konradschen Ehehölle (Wieser), erschossen. Auf die geringste Bewegung in Kalkwerksnähe feuerte er, heißt es im Laska, und er habe, wie bekannt, vor viereinhalb Jahren, also schon kurz nach seinem Einzug, dem nach Feierabend mit Rucksack und Rechen am Kalkwerk vorbeigehenden Holzfäller und Wildhüter Koller, den er für einen Einbrecher gehalten hat, in die linke Schulter geschossen und ist in der Folge zu neuneinhalb Monaten schweren Kerkers verurteilt worden. Bei dieser Gelegenheit waren an die fünfzehn Vorstrafen Konrads, größtenteils wegen sogenannter Ehrenbeleidigung und wegen sogenannter leichter und schwerer Körperverletzung, zum Vorschein gekommen, heißt es im Laska. Konrad verbüßte die Strafe im Kreisgericht Wels, in welchem er auch jetzt inhaftiert ist ...
... von Ausnahmen, Interessenten an seiner zweifellos exzentrischen, gleichzeitig aber auch unauffälligen Person abgesehen, hätten ihn nach und nach alle geschnitten; einerseits wollten die Leute sein Geld, andererseits nichts mit ihm zu tun haben. Ich selbst bin Konrad mehrere Male auf der Straße nach Lambach, mehrere Male auch auf der Straße nach Kirchham begegnet, zweimal im Hochwald und von ihm jedesmal augenblicklich in ein mehr oder weniger rücksichtsloses medizinisches oder politisches oder ganz einfach naturwissenschaftliches oder medizinischpolitisches oder naturwissenschaftlich-politisches oder medizinisch-politisch-naturwissenschaftliches Gespräch verwickelt worden, darüber später ...
... im Lanner heißt es, Konrad habe seine Frau mit zwei Schüssen, im Stiegler mit einem einzigen Schuß, im Gmachl mit drei und im Laska mit mehreren Schüssen getötet. Klar ist, daß bis jetzt außer den Gerichtssachverständigen, wie man annehmen muß, kein Mensch weiß, mit wie vielen Schüssen Konrad seine Frau umgebracht hat ...
... die für den fünfzehnten angesetzte Verhandlung aber wird in die sich mit der Zeit merkwürdigerweise immer mehr verfinsternde Finsternis in Zusammenhang mit der Erschießung der Konrad durch ihren Mann Licht hineinbringen, wenn auch, wie Wieser meint, nur ein juristisches Licht ...
... entgegen der noch im Jänner verbreiteten Annahme, Konrad habe sich nach der sogenannten Bluttat selbst gestellt, weiß man heute, daß er sich überhaupt nicht gestellt hat, im Laska, wo ich gestern gleich drei der neuen Lebensversicherungen habe abschließen können, heißt es, die Gendarmen hätten ihn erst nach zweitägiger Suche schließlich in der ausgetrockneten und ausgefrorenen Jauchengrube hinter dem Kalkwerk entdeckt. Gesagt wird folgendes: die Gendarmen seien, nachdem sie von dem sogenannten Hausknecht Höller von der unheimlichen Stille im Kalkwerk verständigt worden waren, gewaltsam ins Kalkwerk eingedrungen und hätten die in ihrem Krankensessel Ermordete entdeckt, von ihrem Mann aber, den sie unschwer sofort als den Mörder der Konrad hatten identifizieren können, keine Spur. Das ganze Kalkwerk von oben bis unten hätten sie mehrere Male mit der größten Sorgfältigkeit durchsucht, schließlich auch das vom Höller bewohnte Zuhaus und schließlich die anderen umliegenden Gebäude, auch die unmittelbar an das Kalkwerk angrenzenden Waldstücke, vergeblich. Erst am zweiten Tag habe der Hilfsgendarm Moritz die morschen Bretter der Jauchengrube aufgehoben und darunter den halb erfrorenen Konrad entdeckt, der sich im Zustand der vollkommenen Kraftlosigkeit, wie sich denken läßt, anstandslos festnehmen und ins Kalkwerk, sofort in das Mordzimmer habe führen lassen, in welchem inzwischen die tote Konrad durch einen vom Dachboden heruntergeschleiften alten Strohsack ersetzt worden war. Konrad durfte, noch bevor er Angaben über den Hergang der Tat machen mußte, frische Kleider anziehen, die Gendarmen drängten ihn aber während des Aus- und Anziehens zur Eile, heißt es, weil sie möglichst rasch mit ihm nach Wels wollten. Erst als Konrad sie auf mehrere volle Schnapsflaschen, die im Mordzimmer herumstanden, aufmerksam machte und sie ermunterte, sie möchten doch die Schnapsflaschen austrinken, ließen sie sich plötzlich Zeit, heißt es. Die Schnapsflaschen waren ihnen jetzt, nachdem sie mit Konrad so viel Mühe gehabt hatten, gerade recht und angeblich haben die Gendarmen die vier oder fünf oder gar sechs Schnapsflaschen im Arrestantenwagen auch zur Gänze ausgetrunken, um sie aber tatsächlich bis zum Kreisgericht Wels bis zur Gänze austrinken zu können, hätten sie schon gleich hinter Sicking einen sechzig oder siebzig Kilometer langen Umweg über die Krems gemacht, von Sicking bis Wels hätten sie zweieinhalb Stunden gebraucht, für eine Strecke also, die sie in einer knappen halben Stunde hätten zurücklegen können, zweieinhalb Stunden und in Wels sei ihnen Konrad, weil er sich durch die Handschellenfesselung nicht selbst am Arrestantenwagen habe anhalten können, wahrscheinlich, weil ihm einer der Gendarmen einen Stoß versetzt hat, kopfüber aus dem Arrestantenwagen herausgefallen, er sei nur mit grauen Walksocken bekleidet gewesen, weil sie ihm aus Zeitmangel, wie sie angegeben haben sollen, keine Möglichkeit gelassen haben, Schuhe anzuziehen, die Schuhe, die Konrad angehabt hatte, wie sie ihn aus der Jauchengrube herausgezogen hatten, seien von der Jauche derartig vollgesoffen gewesen, daß er sie zwar aus- aber nicht mehr anziehen habe können; andere Schuhe anzuziehen und das heißt, aus seinem Zimmer zu holen, war ihm durch die Hast und, so Wieser, durch die Unmenschlichkeit der Gendarmen nicht gestattet gewesen, bei der großen Kälte hätte Konrad keinesfalls ohne Kopfbedeckung abtransportiert werden dürfen, sagt Fro, Konrad sei in einem Alter, in welchem schon die geringste Verkühlung verheerende Folgen haben, ja unter Umständen ein kurzer Luftzug gegen den Hinterkopf zum Tode führen könne, aber tatsächlich sei es auch lächerlich, in Anbetracht der Ungeheuerlichkeit des Vorgefallenen und vor allem im Hinblick auf die Tatsache, daß Konrad über zwei Tage lang bei großer Kälte, vor allem in der beißenden Nachtkälte in der Jauchengrube zugebracht und offensichtlich davon keinen größeren Schaden davongetragen hat, jetzt, wo er ja schon wieder trockene und verhältnismäßig warme Kleider anhabe, sich an der Tatsache zu stoßen, daß er nur in Walksocken und nicht in Schuhen sei, zuerst hätte Konrad von den Gendarmen verlangt, sie sollten ihm aus seinem Zimmer seine bis zu den Knöcheln hinunterreichende Lederhose herbringen, die er anziehen wolle, weil ihn die Lederhose auf das verläßlichste gegen Erkältung schütze, aber der Hilfsgendarm Moritz, der in Konrads Zimmer hinunter ist, habe sich nicht nach dem Verlangen des Konrad gerichtet und sei anstatt mit der Lederhose mit einer gewöhnlichen schwarzgrauen Lodenhose erschienen, mit Lodenhose und Lodenrock, hätte die Kleidungsstücke, Unterwäsche, Hemd, Walksocken, auch ein Schneuztuch, vor Konrad auf den Boden geworfen und ihm anbefohlen, er möge sich raschest umkleiden. Der Gendarm Halbeis, der in der Zwischenzeit den Konrad mit dem Gewehrkolben in die Schreibtischecke gedrückt hatte, offensichtlich traute Halbeis dem völlig wehrlosen und, wie sich Fro ausdrückt, vollkommen gleichgültigen Konrad Widerstand zu, soll zu Konrad mehrere Male Mörder gesagt haben, was den Bezirksrichter, den das Wort Mörder aus dem Munde von Halbeis gleich bei seinem Eintreffen im Mordzimmer zu der Bemerkung veranlaßt haben soll, den Gendarmen stehe es nicht zu, Konrad schon jetzt als Mörder zu bezeichnen. Die Gendarmen hielten sich aber nicht an diese, wie Wieser meint, korrekte Belehrung, sondern sagten immer wieder zu Konrad Mörder, auch...
Erscheint lt. Verlag | 10.12.2012 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Abhängigkeit • Adolf-Grimme-Preis 1972 • Ehefrau • Eheleben • Franz Theodor Csokor-Preis 1972 • Gehör • Geisteswerk • Georg-Büchner-Preis 1970 • Grillparzer-Preis 1972 • Kalkwerk • Mord • Obsession • Österreich • Paar • Peinigung • Prix Medicis 1988 • Qual • Roman • ST 128 • ST128 • suhrkamp taschenbuch 128 • Thomas Bernhard |
ISBN-10 | 3-518-73455-5 / 3518734555 |
ISBN-13 | 978-3-518-73455-1 / 9783518734551 |
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