Die Erfindung des Jazz im Donbass (eBook)
440 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-79770-9 (ISBN)
Der literarische Feuerwerker Serhij Zhadan verwandelt in seinem Roman das Industrierevier Donbass im Osten der Ukraine in eine fantastische Landschaft. Hier, am Rande Europas, wird der Traum von der Freiheit noch einmal ganz anders geträumt: als Suche nach Heimat inmitten der Grenzenlosigkeit.
Herman, ein junger Werbeunternehmer, wird von einem ominösen Anruf aufgeschreckt: Sein Bruder, der am Rande der Steppe eine Tankstelle betreibt, ist spurlos verschwunden. Am Ort des Geschehens trifft Herman auf die Angestellten seines Bruders, verliebt sich in Olha, die eigenwillige Buchhalterin, und versucht, die Tankstelle vor den Attacken eines einheimischen Oligarchen zu retten. Dabei wird ihm klar, dass weit mehr auf dem Spiel steht: nämlich das Glück und der Sinn des Lebens.
<p>Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für <em>Die Erfindung des Jazz im Donbass</em> wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zhadan lebt in Charkiw und ist seit Mai 2024 Soldat.</p>
ERSTER TEIL
1
Telefone existieren, um unangenehme Dinge mitzuteilen. Telefonstimmen klingen kalt und offiziell, mit offizieller Stimme lassen sich schlechte Nachrichten leichter überbringen. Ich weiß, wovon ich rede. Mein ganzes Leben habe ich gegen Telefonapparate gekämpft, aber ohne Erfolg. Immer noch werden in aller Welt Telefongespräche mitgehört und die wichtigsten Wörter und Ausdrücke auf Karteikärtchen notiert, und in Hotelzimmern liegen Bibeln und Telefonbücher – damit niemand vom Glauben abfällt.
Ich schlief angezogen. In Jeans und ausgeleiertem T-Shirt. Ich wachte auf, ging durchs Zimmer, stolperte über leere Limonadenflaschen, Gläser, Dosen und Aschenbecher, ketchupverschmierte Teller, Schuhe, zertrat mit bloßen Füßen Äpfel, Pistazien und fette Feigen, die Kakerlaken glichen. Wer möbliert mietet und in fremden Sachen wohnt, lernt mit Dingen achtsam umzugehen. In meiner Bude gab es allen möglichen Plunder, wie auf dem Flohmarkt, unter dem Sofa steckten Grammophonplatten und Hockey-Schläger, von irgendwem vergessene Frauenkleider und irgendwo aufgefundene große Verkehrsschilder aus Blech. Wegschmeißen konnte ich nichts, weil ich nicht wusste, was mir gehörte und was fremdes Eigentum war. Vom ersten Tag an, seit ich hier eingezogen war, lag der Telefonapparat mitten im Zimmer auf dem Boden, und sein Läuten und sein Schweigen schürten meinen Hass. Vorm Schlafengehen stülpte ich einen großen Pappkarton darüber, den ich morgens wieder zurück auf den Balkon brachte. Jetzt lag der teuflische Apparat mitten im Zimmer und ließ aufgeregt vibrierend wissen, dass mich jemand sprechen wollte. Donnerstag, fünf Uhr morgens.
Ich schälte mich aus der Decke, nahm den Pappkarton ab und ging mit dem Telefon auf den Balkon. Im Hof war es still und leer. Durch die Seitentür der Bank trat der Wachmann zu einer morgendlichen Zigarettenpause. Um fünf Uhr morgens angerufen zu werden bedeutet nichts Gutes. Ich unterdrückte meinen Ärger und hob ab. So hat alles angefangen.
– Kumpel. – Ich erkannte Kotscha sofort. Seine Stimme klang verraucht, als hätte man ihm alte gerissene Boxen implantiert.
– Harry, Freund, schläfst du? – Die Boxen ächzten und spuckten Konsonanten aus. – Harry, hallo.
– Hallo, – sagte ich.
– Freund, – fügte Kotscha mit mehr Bass hinzu. – Harry.
– Kotscha, es ist fünf Uhr früh. Was willst du?
– Harry, hör zu. – Kotscha verfiel in zutrauliches Fiepen. – Ich hätte dich nicht geweckt. Aber hier ist so ein Schlamassel, ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Gestern hat dein Bruder angerufen.
– Und?
– Er ist weggefahren, Hermann. – Kotscha am anderen Ende hielt den Atem an.
– Weit weg? – An die Dynamik seiner Stimme konnte ich mich nur schwer gewöhnen.
– Weit weg, Hermann. – Wenn Kotscha einen neuen Satz anfing, schepperte es. – Nach Berlin oder nach Amsterdam, ich hab es nicht richtig verstanden.
– Vielleicht über Berlin nach Amsterdam?
– Vielleicht, Harry, vielleicht, – rasselte Kotscha.
– Und wann kommt er wieder? – Ich war erleichtert. Eine Routineangelegenheit, er wollte mir einfach Neuigkeiten aus der Familie mitteilen.
– Wie’s aussieht, nie, Harry. – Wieder schepperte der Hörer.
– Wann?
– Nie, Harry, nie. Er ist für immer weggegangen. Gestern hat er angerufen und mich gebeten, es dir auszurichten.
– Wie – für immer? – Ich verstand nicht. – Alles klar bei euch?
– Alles klar. – Kotscha zerriss es auf den hohen Tönen. – Alles klar. Nur dass dein Bruder mir alles vor die Füße geschmissen hat, kapiert?! Und ich, Harry, ich bin alt, ich pack das nicht allein.
– Wie – hingeschmissen? – Ich verstand immer noch nicht. – Was hat er gesagt?
– Dass er in Amsterdam ist, dass ich dich anrufen soll. Und dass er nicht zurückkommt.
– Und die Tankstelle?
– Und die Tankstelle hat er mir vor die Füße geschmissen, Harry. Nur pack ich das nicht allein. – Kotschas Krächzen wurde zutraulicher. – Ich schlafe schlecht. Siehst du, fünf Uhr morgens, und ich kann nicht schlafen.
– Ist er schon lange fort? – unterbrach ich ihn.
– Schon eine Woche. Ich dachte, du wüsstest Bescheid. Und jetzt so ein Schlamassel.
– Aber warum hat er mir nichts davon erzählt?
– Weiß nicht, Harry, keine Ahnung, Kumpel. Er hat niemandem was erzählt, ist einfach auf und davon. Wollte vielleicht nicht, dass jemand was spitzkriegt.
– Was spitzkriegt?
– Dass er abhaut, – erklärte Kotscha.
– Und wen interessiert das?
– Keine Ahnung, Harry, – wand sich Kotschas Stimme, – keine Ahnung.
– Kotscha, was liegt an?
– Harry, du kennst mich doch, – zischelte Kotscha, – ins Business hab ich mich nie eingemischt. Und er hat mir nichts erzählt. Ist einfach auf und davon. Vielleicht kommst du her und klärst alles an Ort und Stelle? Ich pack das nicht allein.
– Was soll ich denn klären?
– Weiß nicht, vielleicht hat er dir ja was gesagt.
– Kotscha, ich hab ihn seit einem halben Jahr nicht gesehen.
– Also, ich weiß nicht – Kotscha steckte jetzt endgültig in der Sackgasse. – Harry, Kumpel, komm, allein pack ich das hier nicht, versteh mich doch.
– Kotscha, laber nicht rum, – sagte ich schließlich. – Sag einfach, was Sache ist.
– Alles okay, Harry. – Kotscha hustete, – alles okey-dokey. Du weißt Bescheid, schau selbst. Ich muss jetzt, hab Kundschaft. Bis denn, Kumpel, bis denn. – Kotscha legte auf.
Kundschaft, dachte ich. Um fünf Uhr früh.
*
Wir hatten uns in zwei Zimmern einer alten, verlassenen Komunalka eingemietet, im Zentrum, in einem stillen, mit Linden bewachsenen Hof. Lolik wohnte im Durchgangszimmer, näher am Flur, und ich dahinter, mit Balkon. Die übrigen Zimmer der Komunalka waren fest verschlossen. Niemand wusste, was sich hinter den Türen verbarg. Die Zimmer hatte uns ein alter, störrischer Rentner vermietet, der frühere Inkassobeamte Fjodor Michailowitsch. Ich nannte ihn Dumbolewski. In den Neunzigern wollten er und seine Frau emigrieren, und Fjodor Michailowitsch frisierte seine Dokumente. Doch als er die neuen Papiere in Händen hielt, überlegte er es sich plötzlich anders und beschloss, dies sei der richtige Zeitpunkt, ein neues Leben zu beginnen. Also emigrierte seine Frau allein, und er blieb in Charkiw, angeblich um die Wohnung zu hüten. Infiziert von der Freiheit, vermietete Fjodor Michailowitsch uns die Zimmer und hauste selbst in irgendwelchen konspirativen Wohnungen. Küche, Flur und sogar das Bad dieser baufälligen Unterkunft waren vollgestopft mit Vorkriegsmöbeln, abgegriffenen Büchern und Stößen der Zeitschrift Ogonjok. Auf Tischen, Stühlen und auf dem nackten Fußboden türmten sich Geschirr und verschiedenfarbige Altkleider, an denen Fjodor Michailowitsch sehr hing und die wegzuwerfen er uns nicht erlaubte. Wir warfen nichts weg, und so gesellte sich zu dem fremden Plunder auch noch unser eigener. Schränke, Regale und die Schubladen des Küchentischs standen voll mit dunklen Flaschen und Einweckgläsern, in denen Öl und Honig glänzten, Essig und Rotwein, in dem wir unsere Kippen löschten. Über den Tisch hüpften Walnüsse und Kupfermünzen, Kronkorken und Knöpfe von Armeemänteln, Fjodor Michailowitschs alte Krawatten hingen an der Deckenlampe. Wir hatten Verständnis für unseren Vermieter und seine Piratenschätze, Leninfiguren aus Porzellan, schwere Gabeln aus falschem Silber, schmutzige Vorhänge, durch die buttergelb die Sonne brach und Staub und Luft aufwirbelte. Abends in der Küche lasen wir die Inschriften an den Wänden, die Telefonnummern, Adressen, Busrouten, die Fjodor Michailowitsch mit Filzstift direkt auf die Tapete gemalt hatte, wir betrachteten die an die Wand gepinnten Kalenderblätter und Porträts unbekannter Verwandter. Die Verwandten sahen streng und feierlich aus, im Unterschied zu Fjodor Michailowitsch selbst, der ab und zu in seinem warmen Nest auftauchte, in quietschenden Sandalen und geckenhaftem Käppi, er sammelte unsere leeren Flaschen ein, nahm sein Geld in Empfang und verschwand im Hof zwischen den Linden. Es war Mai, das warme Wetter hielt sich, und im Hof wucherte das Gras. Manchmal stahlen sich nachts Paare von der Straße herein und liebten sich auf der mit alten Flickenteppichen bedeckten Bank. Manchmal traten gegen Morgen die Sicherheitsleute heraus, setzten sich und drehten Joints, lang wie die Maimorgendämmerung. Am Tag kamen die Straßenköter, erschnupperten die Spuren der Liebe und rannten erregt zurück – auf die Hauptstraße der Stadt. Die Sonne ging direkt über unserem Haus auf.
*
Als ich in die Küche kam, drückte sich Lolik schon beim Kühlschrank herum. Er hatte seinen Anzug an – dunkler Blazer, graue Krawatte und unförmige Hosen, die an ihm herunterhingen wie eine Fahne bei Windstille. Ich öffnete den Kühlschrank und musterte die leeren Fächer.
– Hi, – sagte ich und ließ mich auf einen Stuhl fallen. Nervös setzte Lolik sich mir gegenüber, die Milchtüte fest in der Hand. – Weißt du was, lass uns zu meinem Bruder fahren.
– Wozu? – fragte er verständnislos.
– Einfach so. Mal nach dem Rechten sehen.
– Und was ist mit deinem Bruder, irgendwelche Probleme?
– Quatsch, alles okay. Er ist in Amsterdam.
– Du willst ihn in Amsterdam besuchen?
– Nicht in Amsterdam. Daheim. Vielleicht am...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2012 |
---|---|
Übersetzer | Juri Durkot, Sabine Stöhr |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Vorošylovgrad |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Brücke Berlin Literatur- und Übersetzerpreis • Donbass • Erzählung • Erzählungen • Freiheitspreis der Frank-Schirrmacher-Stiftung 2022 • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 • Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken 2022 • Industrierevier • neues Buch • Osteuropa • Romane • Russland • ST 5340 • ST5340 • suhrkamp taschenbuch 5340 • Tankstelle • Ukraine • Vorošylovgrad deutsch |
ISBN-10 | 3-518-79770-0 / 3518797700 |
ISBN-13 | 978-3-518-79770-9 / 9783518797709 |
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