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Die Klavierspielerin (eBook)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01871-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Klavierspielerin -  Elfriede Jelinek
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Von ihrer Mutter wurde sie unerbittlich zur Pianistin gedrillt. Und nun findet die Klavierlehrerin Erika Kohut nicht mehr aus der Isolation heraus. Unfähig, sich auf das Leben einzulassen, wird sie zur Voyeurin. Als einer ihrer Schüler ein Liebesverhältnis mit ihr anstrebt, erkennt sie, dass sie nur noch im Leiden und in der Bestrafung Lust empfindet. «Die Klavierspielerin» brachte Elfriede Jelinek den endgültigen Durchbruch. Michael Hanekes Verfilmung triumphierte auf dem Filmfestival 2001 in Cannes: Grand Prix der Jury und Darstellerpreise für Isabelle Huppert und Benoît Magimel. Die Autorin wurde für ihr Werk im Jahr 2004 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. «Eine literarische Glanzleistung.» (Süddeutsche Zeitung) «Die Bilder einer geradezu tödlichen Mutter-Tochter-Beziehung im Roman ?Die Klavierspielerin? von Elfriede Jelinek können einen schon weit über den Buchdeckel hinaus verfolgen.» (Der Spiegel) «Mich hat das Buch von der ersten bis zur letzten Seite in einen verführerischen Bann gezogen ... Wichtig ist das Buch nicht, weil es die (auch pornographischen) Phantasien des lesenden Voyeurs stimuliert, sondern weil der Roman ein besseres Verstehen über perverse Formen ?abweichenden? Verhaltens bewirkt.» (Norbert Schachtsiek-Freitag, Frankfurter Rundschau) «Aggressive Lakonismen, bitterer Witz, die Nähe zur Sprache der Bürokratie und zum Kalauer, die kalte, fast denunziatorische Art der Personenzeichnung - all diese Stilzüge fanden sich auch schon früher in den Werken dieser Autorin und machten ihren Ton unverwechselbar. Nie zuvor hat jedoch diese Sprachdeformation das Erzählte derart adäquat und meisterhaft abgebildet.» (Die Weltwoche)

Elfriede Jelinek, geboren 1946 und aufgewachsen in Wien, hat für ihr Werk eine Vielzahl von Auszeichnungen erhalten, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Franz-Kafka-Literaturpreis. 2004 wurde ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen.

Elfriede Jelinek, geboren 1946 und aufgewachsen in Wien, hat für ihr Werk eine Vielzahl von Auszeichnungen erhalten, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Franz-Kafka-Literaturpreis. 2004 wurde ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen.

In Straßenbahnen hineingezerrt wird SIE vom Gewicht von Musikinstrumenten, die ihr vorne und hinten vom Leib baumeln, dazu die prall gefüllten Notentaschen. Ein sperrig behangener Falter. Das Tier fühlt, daß Kräfte in ihm schlummern, denen die Musik allein nicht genügt. Das Tier ballt die Fäustchen um Tragegriffe von Geigen, Bratschen, Flöten. Es lenkt seine Kräfte gern ins Negative, obwohl es die Wahl hätte. Die Auswahl bietet die Mutter an, ein breites Spektrum von Zitzen am Euter der Kuh Musik.

SIE schlägt ihre Streich- und Blasinstrumente und die schweren Notenhefte den Leuten in die Rücken und Vorderfronten hinein. In diese Speckseiten, die ihr die Waffen wie Gummipuffer zurückfedern lassen. Manchmal nimmt sie, je nach Laune, ein Instrument samt Tasche in die eine Hand und setzt die Faust der anderen voll Heimtücke in fremde Wintermäntel, Umhänge und Lodenjoppen hinein. Sie schändet die österreichische Nationaltracht, die sie aus ihren Hirschhornknöpfen anbiedernd angrinst. In Kamikazemanier nimmt sie sich selbst als Waffe zur Hand. Dann wieder prügelt sie mit dem schmalen Ende des Instruments, einmal ist es eben die Geige, dann wieder die schwerere Bratsche, in einen Haufen arbeitsverschmierter Leute hinein. Wenn es sehr voll ist, so um sechs Uhr, kann man schon beim Schwungholen viele Menschen beschädigen. Zum Ausholen ist kein Platz. SIE ist die Ausnahme von der Regel, die sie ringsum so abstoßend vor Augen hat, und ihre Mutter erklärt ihr gerne handgreiflich, daß sie eine Ausnahme ist, denn sie ist der Mutter einziges Kind, das in der Spur bleiben muß. In der Straßenbahn sieht SIE jeden Tag, wie sie nie werden möchte. SIE durchpflügt die graue Flut derer mit und ohne Fahrschein, der Zugestiegenen und der sich zum Aussteigen Anschickenden, die dort, woher sie kommen, nichts bekommen haben und dort, wo sie hingehen, nichts zu erwarten haben. Schick sind sie nicht. Manche sind schon ausgestiegen, bevor sie noch richtig drinnensitzen.

Zwingt man SIE aufgrund von Volkszorn an der einen Haltestelle hinaus, wo sie noch zu weit von zu Hause entfernt ist, so verläßt sie auch wirklich folgsam den Waggon, weicht der geballten Wut, die ihr in die geballte Faust gelaufen ist, doch nur, um geduldig auf die nächste Elektrische zu warten, die wie das Amen im Gebet sicher einherkommt. Das sind Ketten, die nie abreißen. Dann geht sie erneut zum frisch aufgetankten Angriff über. Sie torkelt mühselig und instrumentenübersät in die Arbeitsheimkehrer hinein und detoniert mitten unter ihnen wie eine Splitterbombe. Sie verstellt sich fallweise absichtlich und sagt bitte ich muß hier aussteigen. Da sind sie dann alle gleich dafür. Sie soll das saubere und öffentliche Verkehrsmittel auf der Stelle verlassen! Für Leute wie sie wurde es nämlich nicht bereitgestellt! Zahlende Fahrgäste lassen so etwas gar nicht erst einreißen.

Sie blicken die Schülerin an und denken, die Musik habe ihr Gemüt schon früh erhoben, dabei erhebt es ihr nur die Faust. Manchmal wird ein grauer junger Mann mit abstoßenden Dingen in einem abgeschabten Seesack ungerecht beschuldigt, denn ihm wird es eher zugetraut. Er soll aussteigen und zu seinen Freunderln verschwinden, bevor er von einem kräftigen Lodenjoppenarm eine fängt.

Der Volkszorn, der schließlich genauestens bezahlt hat, hat immer recht für seine jeweils drei Schilling und kann es bei einer Fahrscheinkontrolle auch beweisen. Stolz reicht er den markierten Schein und hat eine Tramway für sich ganz allein. Er erspart sich damit auch Wochen des unangenehmsten Fegefeuers voller Angst, ob ein Kontrolleur kommt.

Eine Dame, die wie du den Schmerz fühlt, jault hell auf: ihr Schienbein, dieser lebenswichtige Teil, auf dem teilweise ihr Gewicht ruht, ist in Mitleidenschaft gezogen worden. Bei diesem lebensgefährlichen Gedränge ist der Schuldige getreu dem Verursacherprinzip nicht ausforschbar. Die Menge wird mit einem Sperrfeuer aus Beschuldigungen, Flüchen, Injurien, Beschwörungen, Klagen eingedeckt. Die Klagen fließen aus geifernden Mündern über das eigene Los, die Beschuldigungen werden über andere ausgegossen. Sie stehen dicht wie Fische in einer Sardinenbüchse, aber im Öl sind sie deswegen noch lange nicht, das kommt erst nach Feierabend.

SIE tritt wütend gegen einen harten Knochen, der einem Mann gehört. Freundlich fragt an einem Tag eine ihrer Mitschülerinnen, ein Mädchen, unter dem in zwei ewigen Flämmchen wunderbare hohe Absätze lodern, und das einen neuen pelzgefütterten Ledermantel neuester Bauart trägt: Was schleppst du hier und wie nennt es sich? Ich meine diesen Kasten hier und nicht deinen Kopf dort oben. Es ist eine sogenannte Bratsche, erwidert SIE höflich. Was ist das, eine Baatsche? Ich habe dieses seltsame Wort noch nie gehört, spricht ein geschminkter Mund belustigt. Da geht eine hin und trägt etwas spazieren, das sich Baatsche nennt und zu nichts Erkennbarem dient. Jeder muß ausweichen, weil diese Baatsche so viel Platz rundherum benötigt. SIE geht damit öffentlich auf der Straße und keiner verhaftet sie auf frischer Tat.

Die schwer in den Haltegriffen der Straßenbahn Hängenden und jene wenigen beneideten Glückspilze, die sitzen können, recken sich hoch droben vergebens aus ihren abgenutzten Rümpfen heraus. Sie erspähen keinen in weitem Rund, an dem sie es auslassen können, wie man ihre Beine mit etwas Hartem malträtiert. Jetzt ist mir jemand auf die Zehen getreten, weht ein Schwall schlechter Literatur aus einem Mund hervor. Wer ist der Täter? Zusammentritt das in aller Welt berüchtigte Erste Wiener Straßenbahngericht, um eine Abmahnung und eine Verurteilung auszusprechen. In jedem Kriegsfilm meldet sich wenigstens einer freiwillig, und sei es für ein Himmelfahrtskommando. Doch dieser feige Hund verbirgt sich hinter unseren geduldigen Rücken. Ein ganzer Schub rattenartiger Handwerker dicht vor der Pensionierung, mit Werkzeugtaschen über den Schultern, drängt sich unter Schubsen und Treten aus dem Wagen. Jetzt gehen diese Leute zu Fleiß eine ganze Station zu Fuß! Wenn ein Widder unter all den Schafen im Wagen die Ruhe stört, benötigt man dringend frische Luft, und draußen findet man sie. Das Gebläse des Zorns, mit dem man dann zu Hause die Gattin traktieren wird, benötigt frischen Sauerstoff, sonst funktioniert es vielleicht nicht. Etwas von unbestimmter Farbe und Form gerät ins Schwanken, rutscht, etwas anderes schreit wie abgestochen auf. Ein dichter Sprühnebel von Wienerischem Gift dunstet über diese Volkswiese hin. Einer ruft gar nach einem Henker, weil sein Feierabend vorzeitig verdorben worden ist. So sehr ärgern sie sich. Ihre abendliche Ruhe, die schon vor zwanzig Minuten hätte beginnen sollen, ist heute nicht eingetreten. Oder die Ruhe ist jäh abgebrochen worden, abgebrochen wie die bunt bedruckte Lebenspackung des Opfers – mit Gebrauchsanweisung –, die es jetzt nicht mehr ins Regal zurückstellen kann. Das Opfer kann sich jetzt nicht einfach unauffällig eine neue und unversehrte Packung greifen, es würde von der Verkäuferin als Ladendieb arretiert. Folgen Sie mir unauffällig! Doch die Tür, welche ins Büro des Filialleiters führt, zu führen schien, ist eine Scheintür, und außerhalb des nagelneuen Supermarkts gibt es keine Sonderangebote der Woche mehr, sondern dort ist nichts, absolut gar nichts, nur Dunkel, und ein Kunde, der nie geizig war, stürzt ins Bodenlose ab. Jemand sagt in der hier üblichen Schriftsprache: Verlassen Sie auf der Stelle den Wagen! Aus seiner Schädeldecke wuchert ein Gamsbart heraus, denn der Mann ist als Jäger verkleidet.

SIE bückt sich jedoch rechtzeitig, um einen neuen üblen Trick anzuwenden. Vorher muß SIE den Sperrmüll ihrer Musikgeräte erst abstellen. Er bildet eine Art Zaun rings um sie her. Es geht um das scheinbare Zubinden des Schuhbands, aus dem sie dem Nachbarn in der Tramway einen Strick dreht. Sie zwickt wie nebenbei die eine oder die andere Frau, die genauso aussieht wie die eine, kräftig in die Wade. Dieser Witwe sind blaue Flecke so gut wie sicher. Die derart Verunstaltete schießt empor, ein strahlend heller, erleuchteter Hochstrahlbrunnen bei Nacht, der endlich im Brennpunkt der Aufmerksamkeit stehen darf, umreißt kurz und präzise ihre Familienverhältnisse und droht, daß sich diese Verhältnisse (vor allem ihr toter Ehemann) noch schrecklich für ihre Peinigerin auswirken werden. Sie fordert sodann Polizei! Die Polizei kommt nicht, weil sie sich nicht um alles kümmern kann.

Ein harmloser Musikerinnenblick wird über ein Gesicht gestülpt. SIE tut als gebe sie sich soeben jenen geheimnisvoll wirkenden, immer auf Steigerung bedachten gefühlsbetonten Kräften der musikalischen Romantik hin und habe für nichts sonst einen Gedanken übrig. Das Volk spricht daraufhin wie mit einer Stimme: das Mädchen mit dem Maschinengewehr ist es sicher nicht gewesen. Wie so oft irrt das Volk auch diesmal.

Manchmal denkt einer etwas genauer nach, und das Ergebnis ist, daß er auf die wahre Täterin deutet: du bist es gewesen! SIE wird gefragt, was sie unter der grellen Sonne erwachsenen Verständnisses dazu zu sagen habe. SIE spricht nicht. Die Plombe, die ihre Konditionierer hinter ihrem Gaumensegel hineinoperiert haben, verhindert jetzt wirksam, daß sie sich unbewußt selbst bezichtigt. Sie verteidigt sich nicht. Einige fallen übereinander her, weil eine Taubstumme beschuldigt wurde. Die Stimme der Vernunft behauptet, jemand, der Violine spiele, könne auf keinen Fall taubstumm sein. Vielleicht ist sie nur stumm oder trägt die Violine zu jemand anderem hin. Sie werden sich nicht einig und lassen von ihrem Vorhaben ab. Ein Heuriger am Wochenende spukt...

Erscheint lt. Verlag 1.10.2012
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Buchempfehlungen • Isolation • Junge Klassiker • Klavier • Liebesverhältnis • Literaturnobelpreis • Moderne Klassiker • Must-read Bücher • Mutter-Tochter Beziehung • Nobelpreis für Literatur • Romane über Musik • tiefgründige Romane • Voyeurismus • Weltliteratur • ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur • Zeitgenössische Romane
ISBN-10 3-644-01871-5 / 3644018715
ISBN-13 978-3-644-01871-6 / 9783644018716
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