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Das dreizehnte Kapitel (eBook)

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2012 | 1. Auflage
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01941-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das dreizehnte Kapitel -  Martin Walser
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Die meisten leiden ohne Gewinn - so steht es im Roman «Das dreizehnte Kapitel», der ebendiesen Satz widerlegen will. Mit einem Festessen im Schloss Bellevue fängt er an: Ein Mann sitzt am Tisch einer ihm unbekannten Frau und kann den Blick nicht von ihr lösen. Wenig später schreibt er ihr, und zwar so, dass sie antworten muss. Es kommt zu einem Briefwechsel, der von Mal zu Mal dringlicher, intensiver wird. Beide, der Schriftsteller und die Theologin, beteuern immer wieder, dass sie glücklich verheiratet sind. Aber sie gestehen auch, dass sie in dem, was sie einander schreiben, aus sich herausgehen können wie nirgends sonst und dass sie ihre Ehepartner verraten. Nur weil ihr Briefabenteuer so aussichtslos ist, darf es sein. An ein persönliches Treffen ist nicht zu denken. Die Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit. Eines Tages teilt die Theologin mit, ihr Mann sei schwer erkrankt. Während sie auf einer Fahrradtour durch Kanadas Wildnis mit ihm noch einmal das Leben feiert, wartet der Schriftsteller auf Nachrichten. Als wieder eine eintrifft, wirft sie alles um. Martin Walsers Roman über eine Liebe, die als Unmöglichkeit so tiefgründig und lebendig ist wie kaum etwas, kreist auf schwindelerregende Weise um das Wesen der menschlichen Existenz. Und führt dabei vor Augen, dass eine Liebe ohne Hoffnung auf Hoffnung das eigene Leben erst empfindbar macht. Ein bewegender, lebenskluger, ja aufregender Roman über eine Frau und einen Mann, die gerade durch die Unmöglichkeit ihrer Liebe zu einer noch nie erfahrenen Gefühlsheftigkeit gesteigert werden. «Kaum einer vermag die Verwerfungen und Abgründe in den menschlichen Verhältnissen besser auszuloten als Martin Walser.» Volker Hage, Der Spiegel «Seit einem halben Jahrhundert ist Martin Walser unser Gewährsmann für Liebe, Ehe, Glaube und deutsche Befindlichkeiten. Die Vermessung der Ausdruckswelt, des Daseins als Abfolge schwankender Empfindungen - das ist seine große Stärke.» Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung «Martin Walser schreibt nicht nur die schönsten Sätze, er stellt sie auch in anregende Horizonte.» Andreas Isenschmid, Neue Zürcher Zeitung «Martin Walser ist einer der wichtigsten Schriftsteller, die wir haben. Sein Gedächtnis, seine Genauigkeit in der Betrachtung von menschlichen Verhältnissen und Unverhältnissen ist unerreicht, seine sprachliche Risikobereitschaft ist beispielhaft. Er geht in jeder Hinsicht aufs Ganze. Kurz, Martin Walser ist ein Dichter.» Frank Hertweck, SWR

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

2


Sehr verehrte Frau Professor,

Ihre Anschrift verdanke ich dem Persönlichen Referenten. Gleich am nächsten Tag wählte ich mich zu ihm durch und log, der Gefeierte beschäftige mich so, ich müsse ihm schreiben, ihm schildern, was er in einem Schriftsteller angerichtet habe. Zu Ihnen, der Theologin, gesagt: Lügen ist für mich eher ein linguistisches als ein moralisches Problem. Schon seit zwei Wochen also habe ich Ihre Anschrift, und jeden Tag schrieb ich Ihnen, und nie schickte ich Ihnen, was ich Ihnen schreiben musste. Ich bekomme zu viele Briefe, in denen mir Geständnisse aufgeladen werden, an denen ich nicht schuldig bin. Öfter von Frauen. Ich kann diese Briefe nicht wegwerfen. Sie füllen Schubladen und Schachteln seit Jahren. Vor allem seit jenem Strandhafer-Buch, das mich (auch Ihnen) bekannt gemacht hat. Ich fühle mich schuldig, zumindest verantwortlich. Alle diese Briefe zusammen kann ich empfinden als ein Kapital, dessen Wert sich, wenn ich es realisieren wollte, als geringfügig herausstellen könnte. Und trotzdem: Ich horte die Gefühlsausführlichkeiten von Frauen und Männern nicht ohne Empfindung. Bitte, glauben Sie nicht, ich wolle Ihnen gegenüber die hohen und oft schönen Töne dieser von Zuneigung oder Zustimmung belebten Briefe auch nur im Geringsten abwerten. Ich hoffe sogar, dass ich immer in müheloser Herzenshöflichkeit geantwortet habe. Mehr als einmal kam es zu regelrechten Briefwechseln. Allerdings war das, was Frauen schrieben, heftiger ausgestattet als meine immer ein bisschen vage spekulativen Antworten. Schon dass ich immer nur antwortete!

Warum schreib ich Ihnen das?

Ich muss befürchten, dass Sie solche nicht bestellten Gefühlsangebote so gut kennen wie ich. Ich bin ja nur auf Papier öffentlich. Sie aber treten andauernd auf, lehrend, diskutierend, Ihren Mann präsentierend. Also weiß ich, mit welcher Empfindung Sie im besten Fall meine zudringliche Post zur Kenntnis nehmen. Vielleicht lesen Sie diese Zudringlichkeiten gar nicht. Das schreiben meine Briefschreiberinnen regelmäßig auch. Regelmäßig kommt, was auch ich jetzt nicht unterlassen kann: Wenn Sie bis hierher gelesen haben, dann …

Gut, darüber wissen Sie Bescheid. Und wenn ich die Bezeugungen, die mir zugedacht sind, nur im mindesten klein oder gar lächerlich machen würde, dann würde ich mich ja, da ich jetzt auch so ein Zudringlichkeitsverfasser bin, selber klein und lächerlich machen. Die besten meiner Zudringlichen fühlen und finden sich selber übrigens gar nicht klein oder lächerlich. Sie finden es aber bedauernswert, dass sie mir schreiben. Sie würden mir lieber nicht schreiben. Dann aber doch.

Jetzt schildere ich schon eher mich als die, die mir schreiben.

Ich habe doch etwas ganz anderes schreiben wollen. Eine Gefühlserfahrung, die mir seit dem Bellevue-Abend jeden Tag noch deutlicher zuteil wird: Sie haben von selbst meine Briefbestände in allen meinen Schubladen entwertet. Ich habe es in den letzten zwei Wochen täglich nachgeprüft. Alles, was mir in vielen Jahren freundlich, liebevoll oder leidenschaftlich geschrieben wurde, ist jetzt nichts mehr wert. Eine eigenartige Erfahrung. Unter den Frauen, die mir geschrieben haben, gibt es deutliche Begabungen. Vielleicht schreiben einem Schriftsteller auch nur Frauen, die selber Schriftstellerinnen sind oder sein könnten oder sein werden. Oft genug sind es ja Gedichte. Und jetzt: entwertet. Das heißt: Ich bleibe jetzt unangerührt. Auch von Briefen, die mich, als sie eingetroffen sind, geradezu gestreichelt haben.

Ich bin nicht mehr der Adressat. Ich bin ein anderer. Und das durch Sie.

Wie das?

Ich weiß es nicht. Die Entwertung ist so krass, dass ich jetzt über diese Briefe urteile wie nie zuvor. Jetzt kommen sie mir sentimental, geschwätzig, aufgedonnert, wichtigtuerisch oder sogar lächerlich vor. Obwohl ich gegen Letzteres, sich lächerlich zu zeigen, nichts haben kann. Viele dieser Briefe sind geradezu Lob-Fontänen, Zustimmungs-Orgien. Sie glauben nicht, was ein Buch aus einer lebensbereiten Frau machen kann. Es schleudert Sätze aus ihr heraus, unter deren Herabregnen ich mich öfter gern gestellt habe. Je nachdem, wie die Welt gerade mit mir umging. Und jetzt: keine Wirkung mehr. Die Lob-Fontänen und Zustimmungs-Orgien nuscheln unerlebbar vor sich hin. Und da das erst seit dem Bellevue-Abend so passiert, muss ich es auf Sie zurückführen. Sie sind daran nicht schuld. So wenig wie ein Orkan schuld ist, wenn er ein Haus in die Luft wirbelt. Dieses Haus war nicht fest genug gegründet. Ich mache mir natürlich Gedanken über das Naturereignis, das mich getroffen hat. Ich zähle auf, was geschehen ist.

Ihre Erscheinung. Ihre Stimme. Ihr Gesicht. Ihr Kopf. Wie Sie Ihren Kopf tragen! So, als müssten Sie ihn andauernd präsentieren. Sie müssen sich dessen, dass Sie Ihren Kopf tragen, andauernd bewusst sein. Sie kennen Ihr Gesicht. Diese Gleichzeitigkeit zweier Zeiten. Eine Vierzehn- und eine Vierundvierzigjährige vollkommen vereint. Ihr Mund, diese Bereitschaft, mehr zu verschweigen als zu sagen. Und Ihre Haare. In Farbe und Form dieses Nein zu jeder Frisur. Und doch eine Haar-Sensation. Und Sie, als wüssten Sie alles. Und ganz genau so: als wüssten Sie nichts. Sie sind die raffinierteste Einfalt, die sich denken lässt. Und die unschuldigste Durchtriebenheit, die vorkommen kann. Und das oft. Und nicht durch mich durch wie eine Wetterfront ohne Folgen.

Ich leerte die Schubladen und trug, was sich in Jahren zärtlich gesammelt hatte, hinaus. In den Container für Papier. Danach war mir einerseits feierlich zumute, andererseits elend. Ich kam mir schrecklich vor.

Dass Sie Ihren Namen mit Titeln zugebaut haben, weiß ich zu schätzen. So, wie Sie sind, dürfen Sie doch nicht unter einem noch so schönen anderen Namen verschwinden. Sie sind selbst jemand. Dass Sie in einem anderen Namen verschwinden, passt nicht zu Ihnen! Sie sehen, ich werde kritisch. Sie werden Ihre Gründe haben. Der schönste Grund wäre: Sie sind eine geborene Schneilin. Sie sind überhaupt seine Schwester und leben im schönsten Inzest mit diesem Prachtsbruder. Er könnte sexuelle Probleme haben, sagt die Alltagspsychologie, weil er, statt einer Krawatte, eine Fliege trägt.

Zu welch ordinär-abenteuerlichen Vermutungen reißen Sie mich hin!

Bitte, glauben Sie nicht, ich wolle bei Ihnen die zierlichen Lachexplosionen produzieren, die Ihr Tischherr Hirnforscher bei Ihnen so lässig abrief, als wären Sie seine Versuchsperson, die er auf ihre Lachfähigkeit hin testen wolle. Bei der Frau, mit der ich verheiratet bin, seit drei Jahrzehnten, wäre ihm das nicht gelungen. Daran musste ich denken, als ich Sie ein ums andere Mal so silberhell auflachen sah und hörte. Zum Glück war Ihr Lachen immer sehr kurz. Wenn Sie sich vor Lachenmüssen gebogen hätten – daran will ich nicht denken. Wahrscheinlich wäre ich noch aggressiver geworden, als ich eben durch Ihre Lachbereitschaft schon war.

Ich gestehe, Frau Professor – und ich ahne, dass ich durch dieses Geständnis jede Aussicht, Ihnen näher zu kommen, verwirke –, ich gestehe, dass ich einen Brief von Ihnen erwartet habe! Größenwahnsinnig bin ich nicht, aber eine gewisse Beobachtungs- und Wahrnehmungsfähigkeit ist mir eigen. Ihnen auch. Das sieht man, merkt man, spürt man, auch wenn man Sie nie näher als auf zweimeterfünfzig erlebt hat. Und weil ich Ihre Wahrnehmungsfähigkeit gespürt habe und doch erleben musste, dass Sie mich kein bisschen wahrgenommen haben, musste ich mich wundern. Ihnen muss aufgefallen sein, dass Sie und ich an diesem Tisch und wahrscheinlich im ganzen Saal etwas gemeinsam hatten. Die Bräune. Unter so vielen Bleichgesichtern waren wir die einzigen auffällig Braungebrannten. Und das hat nichts mit Solarium zu tun. Warum Sie so provozierend gesund aussehen, weiß ich nicht. Ihr Mann, bleich und blass wie alle anderen. Ich, gebräunt wie Sie. Bitte, diese Wahrnehmung ist nichts als eine Wahrnehmung. Ich verzichte auf alle Schlüsse daraus. Ein Privatdetektiv im Raum hätte gemeldet: Die zwei fliegen heimlich miteinander auf eine Insel. Sie wissen, sehr verehrte Frau Professor, dass ich diese Fernsehspielsätze nicht ernst meinen darf. Ich wollte ja nur mit meiner beruflich entwickelten Fähigkeit angeben.

Übrigens, meine Frau hat ihren Namen, Iris Tobler, bei allem, was sie draußen oder für draußen tut, behalten. Angeblich hat sie das ihrem Vater versprochen. Vielleicht hat er wie alle Väter sein Kind für ein Genie gehalten und wollte durch seine Tochter berühmt werden. Iris schreibt Fernsehserien für Kinder. Sie hat den Haldenhof erfunden. Damit kann man vielleicht nicht bekannt werden. Sie hat es aber nicht aufgegeben, als Iris Tobler bekannt zu werden.

Seit vielen Jahren schreibt sie an einem Buch, über das ich nichts erfahren darf. Da mir sogar jede Erwähnung dieses Projekts verboten wurde, wundere ich mich darüber, dass ich es Ihnen gegenüber erwähne. Ihre Wirkung!

Ich mache keinen Versuch, mir Ihre Wirkung zu erklären. Dass ich Ihnen Belege für Ihre Wirkung gebe, kann ich nicht vermeiden. Nach so viel Geständnis darf nicht fehlen die Mitteilung, dass Iris und ich nach dem Bellevue-Abend mit einander geschlafen haben. Dass wir eine Liebes-Ehe leben, lehrt mich eine Erfahrung, die einem Schriftsteller vielleicht deutlicher wird als einer Theologin oder einem Molekularbiologen. Solange man jede Woche zweimal mit einander schläft, kann von Liebe nicht die Rede sein. Bitte, es mag Liebe vorkommen bei erfüllungstüchtigen Paaren, nur, man kann es nicht wissen. Oft haut ja dann auch einer ab, dann weiß man, dass es nicht Liebe war, was die Nähe produzierte. Erst wenn das Geschlechtsleben nachlässt, aber das Gefühl nicht, erst dann empfiehlt es sich, das, was jetzt die Nähe produziert,...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2012
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Affäre • Briefe • Ehe • Krankheit • Liebe • Schloss Bellevue • Schriftsteller • Theologin
ISBN-10 3-644-01941-X / 364401941X
ISBN-13 978-3-644-01941-6 / 9783644019416
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