Sansibar oder der letzte Grund (eBook)
192 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60055-1 (ISBN)
Alfred Andersch, geboren 1914 in München, wurde 1933 wegen seiner politischen Aktivität im Kommunistischen Jugendverband im KZ Dachau interniert. Nach seiner Desertion aus der Wehrmacht 1944 verbrachte er über ein Jahr in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Zurück in Deutschland, arbeitete er als Journalist und Publizist, namentlich beim Radio. Andersch zählt zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur, seine Bücher sind längst Schullektüre. Er starb 1980 in Berzona/Tessin.
[30] Helander · Knudsen
Pfarrer Helander erschrak zuerst, als er den leeren Hafen erblickte. Aber dann sah er den einen Kutter und auf ihm Knudsen. Ein glücklicher Zufall! Es war besser, Knudsen im Freien anzusprechen, als zu ihm ins Haus zu gehen. Es wäre in Rerik sehr aufgefallen, wenn Pfarrer Helander Knudsens Haus betreten hätte. Dagegen ihn, wenn man ihn im Freien traf, mit ein paar Worten festzuhalten, das war ganz in Ordnung.
Knudsen beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, das konnte er sehen. Helander näherte sich ihm langsam, auf seinen Stock gestützt; er hinkte heute stärker als sonst. Der Hafenkai war ziemlich breit, mit runden Kopfsteinen gepflastert. Ein Lastauto rumpelte darüber hin, an den niedrigen roten Treppengiebelhäusern entlang; nur das ›Wappen von Wismar‹ war weiß gestrichen, mit grünen Fensterumrandungen und einem goldenen Messingknauf an der Türe. Endlich stand Helander an der Kaimauer, dort, wo die ›Pauline‹ festgemacht hatte. Durch das Takelwerk des kleinen Küstenkutters hindurch konnte der Pfarrer ein Stück der offenen See erkennen, weit draußen, rechts von dem Leuchtturm auf der Lotseninsel, der von hier aus ganz klein aussah. Knudsen saß neben dem Steuerhaus und putzte Lampen, die kalte Pfeife zwischen den Zähnen. Von drunten, aus dem Motorenraum drang Rumoren, das mußte der Junge sein. Schicken Sie den Jungen weg, Knudsen! sagte der Pfarrer. Ich habe mit Ihnen zu sprechen.
Das war stark, dachte Knudsen. Immer sehr direkt, der Herr Pfarrer. Der Pfaffe. Ein Pfaffe mit einem geraden Maul.
Der Junge wird gleich fertig sein, sagte er. Er füllt nur noch die Tanks auf.
[31] Warum sind Sie nicht mit den anderen draußen? fragte der Pfarrer, während sie warteten.
Die Galle, antwortete Knudsen. Ein Gallenanfall.
Helander hörte, daß Knudsen log. Knudsen war so gesund wie immer.
Die Galle, sagte er. So, die Galle! Haben Sie sich geärgert, Knudsen, oder haben Sie nur fett gegessen?
Knudsen sah ihn an. Geärgert, erwiderte er.
Der Pfarrer nickte. Von der kleinen Werft im Osten des Hafenbeckens her drang der kreischende Klang eines Hammers. Danach die Stimmen der Glocken aller Kirchen der Stadt. Zwei Schläge. Halb vier.
Knudsen erinnerte sich, daß er das letzte Mal mit dem Pfarrer gesprochen hatte, als die Anderen ans Ruder gekommen waren, vor vier Jahren. Sie waren sich auf der Straße begegnet. Der Pfarrer war stehengeblieben und hatte ihn angesprochen.
Sie roter Hund, hatte er gesagt, jetzt geht’s Ihnen an den Kragen! Er hatte gelacht dabei. Damals lachte man noch bei sowas. Nur Knudsen hatte schon damals nicht mehr gelacht, sondern den Pfarrer angesehen und zu ihm gesagt: Auch Ihnen wird Ihr Verdun-Bein eines Tages nichts mehr nützen.
Der Pfarrer hatte sofort aufgehört zu lachen. Ehe er weiterging, damals, vor vier Jahren, hatte er gesagt: Wenn Sie mal meine Hilfe brauchen sollten, Knudsen, Sie wissen, wo ich wohne.
Aber es schien so, dachte Knudsen, als ob der Pfarrer jetzt seine Hilfe brauchte.
Nach einer Weile kam der Junge mit den leeren Treibölkannen auf Deck. Er blickte scheu zu Pfarrer Helander hin, bei dem er konfirmiert worden war, und grüßte.
Geh nach Hause, sagte Knudsen zu ihm, und mach dein Zeug fertig. Wir fahren um fünf.
[32] Der Junge verdrückte sich. Wollen Sie nicht auf Deck kommen und sich setzen? fragte Knudsen.
Nein, das wäre zu auffällig, erwiderte Helander.
Aha, dachte Knudsen, offenbar war die Stunde gekommen, in der dem stolzen Pfarrer Helander sein Verdun-Bein nichts mehr nützte. Das Bein, das man ihm bei Verdun abgeschossen hatte.
Knudsen, sagte der Pfarrer, Sie werden heute erst in der Nacht fahren. Er setzte hinzu: Ich bitte Sie darum.
Knudsen sah fragend zu dem Pfarrer hoch, der ein wenig über ihm auf dem Kai stand, ein großer schlanker Mann mit einem heftigen, geröteten Gesicht, mit einem schmalen schwarzen Bart über dem Mund, einem schwarzen Bart, in den sich graue Fäden mischten, mit den blitzenden Gläsern einer randlosen Brille vor den Augen, kristallisch blitzend in dem leidenschaftlichen, eine Neigung zum Jähzorn verratenden Gesicht über einem schwarz gekleideten Körper, der sich ein wenig über den Stock krümmte.
Ich muß Sie bitten, für mich nach Skillinge zu fahren und etwas mitzunehmen, sagte Helander.
Nach Schweden? Knudsen nahm die Pfeife aus dem Mund. Ich soll für Sie etwas nach Schweden bringen?
Ja, sagte Helander. Zum Propst von Skillinge. Er ist mein Freund.
Von der Werft her sang ein Flaschenzug gellend auf. Vor dem ›Wappen von Wismar‹ standen zwei Frauen mit Einkaufstaschen im Gespräch. Knudsen stellte die Lampe weg, an der er gerade gearbeitet hatte. Er war auf der Hut. Jetzt nicht einmal mehr fragen, dachte er. Wenn ich auch nur frage, bin ich schon drin. Er blickte an dem Pfarrer vorbei, auf den leeren Kai.
Nur eine kleine Figur, hörte er Helander sagen. Eine kleine Holzfigur aus der Kirche.
[33] Knudsen wunderte sich so, daß es ihn zum Sprechen hinriß. Eine kleine Holzfigur? fragte er.
Ja. Nur einen halben Meter groß. Ich soll sie den Anderen abliefern. Sie wollen sie mir aus der Kirche nehmen. Sie muß nach Schweden in Sicherheit gebracht werden. Helander unterbrach sich und fügte hinzu: Ich bezahle natürlich die Fahrt. Und auch, wenn Sie dadurch Verluste beim Fischfang haben, Knudsen.
Der Pfaffe, dachte Knudsen. Der verrückte Pfaffe. Ich soll ihm seinen Götzen retten.
Sie können sich darauf verlassen, Herr Pfarrer, daß die Figur bei uns sorgfältig magaziniert wird, hatte der junge Mann aus Rostock gesagt. Helander geriet in Zorn, wenn er an den Besuch des jungen Herrn Doktor gestern abend dachte. Keiner von den Anderen, sondern ein Geschickter, Wendiger, ein Karrierist, der sich durchschlängelte, einer, für den es nur Taktik gab und der im übrigen ›das Beste wollte‹. – Sie wollen denKlosterschüler wohl konservieren, Herr Konservator, hatte Helander höhnisch geantwortet, es ist aber unnötig, ihn einzuwecken, er bleibt auch so frisch. – Wir wollen ihn schützen, Herr Pfarrer. – Sie wollen ihn einsperren, Herr Doktor. – Er steht nun einmal auf der Liste, und wir haben den Auftrag … – Auf welcher Liste? – Auf der Liste der Kunstwerke, die nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt werden sollen. Und da ist es besser … – Der Klosterschüler ist kein Kunstwerk, Herr Doktor, er ist ein Gebrauchsgegenstand. Er wird gebraucht, verstehen Sie, gebraucht! Und zwar in meiner Kirche. – Aber begreifen Sie doch, hatte der alte junge Mann, der geduldig war wie ein Greis, erklärt, wenn Sie ihn nicht uns geben, holen ihn die Anderen übermorgen früh einfach aus der Kirche heraus. Und was dann mit ihm geschieht? – Vielleicht müßte man ihn vernichten? Vielleicht ist es besser, der Klosterschüler stirbt, als daß er – wie sagten Sie vorhin? – [34] ach ja, als daß er magaziniert wird. Glauben Sie an das ewige Leben, Herr Doktor? Auch an das ewige Leben einer Figur, die gestorben ist, weil sie nicht ausgeliefert wurde? – Aber es war hoffnungslos gewesen. – Es wird sehr unangenehme Folgen für Sie haben, Herr Pfarrer, Folgen, vor denen wir Sie dann nicht mehr schützen können. – Der junge Mann, der Taktiker, war unfähig, an etwas anderes zu denken als an das, was er ›die Folgen‹ nannte. – Sagen Sie in Rostock, ich würde dafür sorgen, daß der Klosterschüler in der Kirche bleibt! Der junge Mann hatte die Achseln gehoben.
Während der Pfarrer mit Knudsen sprach, in der kalten klaren Luft, die von der See herkam, wurde er sich endgültig darüber klar, daß der Lesende Klosterschüler, der jetzt noch unberührt, einen halben Meter hoch und aus Holz geschnitzt am Fuß des nordöstlichen Pfeilers der Vierung saß, das innerste Heiligtum seiner Kirche war. Er hatte ihn vor ein paar Jahren von einem Bildhauer erworben, dem kurz darauf die Anderen verboten hatten, sein Handwerk auszuüben. Weil die Anderen denKlosterschüler angreifen, dachte Helander, ist er das große Heiligtum. Den mächtigen Christus auf dem Altar lassen sie in Ruhe, sein kleiner Schüler ist es, der sie stört. Das Mönchlein, das liest. Der ganze Riesenbau der Kirche wird um dieses stillen Mönchleins willen auf die Probe gestellt, dachte Helander. Und: die Kirche, das bin leider nur ich. Was hatte der Amtsbruder von der Nikolai-Kirche gesagt? Diese modernen Dinge gehören sowieso nicht in die Kirche, hatte er abgewehrt. Der Klosterschüler ist nicht modern, er ist uralt, hatte Helander eingewendet. Aber es war vergeblich gewesen. Und zu dem von der Marienkirche war Helander gar nicht erst gegangen; der gehörte zu den Anderen. So ist es gekommen, daß ich einen, der nicht an Gott glaubt, anbetteln muß, den kleinen Mönch für die Kirche zu retten, dachte der Pfarrer. Ich muß den Mönch zum Propst [35] von Skillinge schicken. Oder ihn zerstören. Ausgeliefert darf er nicht werden.
Tut mir leid, sagte Knudsen, das kommt für mich nicht in Frage.
Der Pfarrer schrak aus seinen Gedanken hoch. Was haben Sie gesagt? fragte er.
Daß ich es nicht machen kann, erwiderte Knudsen. Er zog seinen Tabaksbeutel hervor und begann sich umständlich seine Pfeife zu stopfen.
Und warum nicht? fragte Helander. Fürchten Sie sich?
Klar! sagte Knudsen.
Das ist nicht der einzige Grund.
Knudsen zündete sich seine Pfeife an. Er sah dem Pfarrer direkt in die Augen, als er sagte: Glauben Sie, ich riskiere mein Leben für...
Erscheint lt. Verlag | 22.5.2012 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Andersch • Deutschland • Fischer • Flucht • Jüdin • Klassiker • Knudsen • KPD • Nationalsozialismus • Nationalsozialist • Nazis • Ostsee • Pastor • Pfarrer • Rerik • Roman • Schullektüre • Schweden • Terror • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-257-60055-0 / 3257600550 |
ISBN-13 | 978-3-257-60055-1 / 9783257600551 |
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