Mond über Manhattan (eBook)
416 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01931-7 (ISBN)
Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik. Am 30. April 2024 ist Paul Auster im Alter von 77 Jahren gestorben.
Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik. Am 30. April 2024 ist Paul Auster im Alter von 77 Jahren gestorben. Werner Schmitz ist seit 1981 als Übersetzer tätig, u. a. von Malcolm Lowry, John le Carré, Ernest Hemingway, Philip Roth und Paul Auster. 2011 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis. Er lebt in der Lüneburger Heide.
Zweites Kapitel
Von diesem Punkt an wird die Geschichte komplizierter. Ich kann niederschreiben, was mit mir passiert ist, aber so genau und vollständig ich es auch tun mag, all das ergibt doch nur einen Teil der Geschichte, die ich eigentlich erzählen will. Es wurden andere Leute darin verwickelt, die am Ende mit dem, was mit mir passierte, genau so viel zu tun hatten wie ich selbst. Ich denke an Kitty Wu, an Zimmer, an Leute, die mir damals noch unbekannt waren. Erst viel später zum Beispiel erfuhr ich, dass Kitty es war, die damals an die Tür meiner Wohnung geklopft hatte. Meine Possen bei jenem sonntäglichen Frühstück hatten sie beunruhigt, und anstatt sich einfach weiter Sorgen um mich zu machen, hatte sie beschlossen, mal bei mir vorbeizugehen und nach dem Rechten zu sehen. Allerdings hatte sie Schwierigkeiten, meine Adresse herauszufinden. Am nächsten Tag sah sie im Telefonbuch nach, aber da ich kein Telefon hatte, stand ich auch nicht drin. Das steigerte ihre Besorgnis noch. Sie erinnerte sich, dass ich nach einem Mann namens Zimmer gefragt hatte, und begann jetzt selbst nach diesem Zimmer zu suchen – sie wusste, dass er vermutlich der einzige Mensch in New York war, der ihr sagen konnte, wo ich wohnte. Leider bezog Zimmer seine neue Wohnung erst in der zweiten Augusthälfte, also zehn bis zwölf Tage nach unserer Begegnung. Ungefähr in dem Augenblick, als es ihr gelang, seine Nummer bei der Information zu erfragen, ließ ich in meiner Wohnung die Eier auf den Boden fallen. (Wir ermittelten das fast auf die Minute genau, indem wir die chronologische Abfolge aufbereiteten, bis jedes Detail seinen Platz hatte.) Sie rief sofort bei Zimmer an, aber da war besetzt. Sie brauchte mehrere Minuten, bis sie durchkam, aber inzwischen saß ich bereits im Moon Palace und würgte an meinem Essen. Danach fuhr sie mit der U-Bahn zur Upper West Side. Die Fahrt zog sich jedoch über eine Stunde lang hin, und als sie endlich vor meiner Wohnung stand, war es zu spät. Ich war so gedankenverloren, dass ich auf ihr Klopfen nicht reagierte. Sie erzählte mir, sie habe fünf bis zehn Minuten vor meiner Tür gestanden. Sie hörte mich da drinnen mit mir selbst reden (aber so gedämpft, dass sie nichts verstehen konnte), und dann begann ich anscheinend plötzlich zu singen – ein verrückter, unmelodischer Singsang, sagte sie –, woran ich mich aber überhaupt nicht erinnern kann. Sie klopfte noch einmal, doch ich rührte mich nicht. Da sie mir nicht lästig fallen wollte, gab sie schließlich auf und ging.
So hat Kitty Wu mir die Sache erklärt. Anfangs hörte sich das recht plausibel an, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger überzeugend fand ich ihre Geschichte. «Ich verstehe noch immer nicht, warum du gekommen bist», sagte ich. «Wir haben uns doch nur dieses eine Mal getroffen, und da kann ich nicht gerade Eindruck auf dich gemacht haben. Warum hast du dir wegen jemand, den du gar nicht kennst, solche Mühe gemacht?»
Kitty sah zu Boden. «Weil du mein Bruder warst», sagte sie ganz leise.
«Das war doch nur ein Scherz. Wegen eines Scherzes macht man doch nicht solche Umstände.»
«Nein, wahrscheinlich nicht», sagte sie und zuckte leichthin die Achseln. Ich dachte, sie wollte noch etwas sagen, aber nach einigen Sekunden schwieg sie noch immer.
«Nun?», sagte ich. «Warum hast du es getan?»
Sie sah kurz zu mir auf und fixierte dann wieder den Boden. «Weil ich dachte, du seist in Gefahr», sagte sie. «Ich dachte, du seist in Gefahr, und mir hatte noch nie jemand so leid getan wie du.»
Am nächsten Tag kam sie wieder zu meiner Wohnung, aber da war ich schon weg. Die Tür war jedoch nur angelehnt, und als sie sie aufstieß und über die Schwelle trat, sah sie Fernandez, der wütend in meinem Zimmer herumfuhrwerkte und halblaut fluchend meine Sachen in Müllsäcke stopfte. Nach Kittys Schilderung sah er aus wie jemand, der das Zimmer eines eben an der Pest gestorbenen Menschen aufzuräumen versuchte: Er bewegte sich angeekelt und wie in Panik, wagte meine Sachen kaum anzufassen vor Angst, sich anzustecken. Sie fragte Fernandez, ob er wüsste, wohin ich gegangen sei, aber viel konnte er ihr nicht sagen. Ich sei ein verrückter Spinner, sagte er, und er könne sich allenfalls vorstellen, dass ich mich in irgendein Loch verkrochen hätte, um zu sterben. Danach hatte Kitty genug, sie ging wieder auf die Straße, und von der nächsten Telefonzelle aus rief sie Zimmer an. Seine neue Wohnung lag im West Village an der Bank Street, aber als er ihren Bericht hörte, ließ er alles stehen und liegen und jagte los, um sich mit ihr zu treffen. Und so wurde ich dann schließlich gerettet: weil die beiden loszogen und mich suchten. Das wusste ich damals natürlich noch nicht, aber mit meinem heutigen Wissen ist es mir unmöglich, an diese Tage zurückzudenken, ohne dass mich eine heftige Sehnsucht nach meinen Freunden überkommt. Die Realität dessen, was ich erlebt habe, wird dadurch in gewisser Hinsicht verändert. Ich war von der Klippe gesprungen, und kurz bevor ich auf dem Boden aufschlug, geschah etwas ganz Außerordentliches: Ich erfuhr, dass es Leute gab, die mich liebten. Wenn man so geliebt wird, sieht alles gleich ganz anders aus. Der Schrecken des Falls wird dadurch nicht gemindert, aber man sieht diesen Schrecken in einem neuen Licht. Ich war von der Klippe gesprungen, und dann griff etwas nach mir und fing mich im allerletzten Augenblick auf. Dieses Etwas nenne ich Liebe. Sie ist das Einzige, was den Menschen in seinem Fall aufhalten kann, das Einzige, was mächtig genug ist, die Gesetze der Schwerkraft aufzuheben.
Ich hatte keine klare Vorstellung davon, was ich nun tun sollte. Als ich meine Wohnung an jenem Morgen verließ, ging ich einfach los, wohin meine Schritte mich tragen wollten. Falls ich überhaupt etwas gedacht habe, dann nur, dass der Zufall entscheiden sollte, was passierte, dass ich mich von willkürlichen Ereignissen und Eingebungen treiben lassen wollte. Meine ersten Schritte führten nach Süden, und so ging ich weiter in dieser Richtung, zumal mir nach ein paar Blocks klar wurde, dass es ohnehin wohl das Beste wäre, meine Nachbarschaft zu verlassen. Man beachte, wie der Stolz meinen Entschluss schwächte, über mein Elend erhaben zu bleiben; Stolz und Schamgefühl. Ein Teil von mir war entsetzt von dem, was ich mit mir hatte geschehen lassen, und ich wollte nicht Gefahr laufen, irgendeinen Bekannten zu treffen. Richtung Norden wäre ich nach Morningside Heights gekommen, und dort wären die Straßen voller vertrauter Gesichter gewesen. Ich wäre zwar nicht auf Freunde, mit Sicherheit aber auf Leute gestoßen, die mich vom Sehen kannten: die alte Clique aus der West End Bar, Klassenkameraden, ehemalige Professoren. Ich hatte nicht den Mut, ihren Blicken standzuhalten, ihrem Starren, ihrer Verblüffung. Schlimmer noch, die Vorstellung, mit einem von ihnen reden zu müssen, versetzte mich in Panik.
Ich ging nach Süden, und für den Rest meiner Tage auf der Straße setzte ich keinen Fuß mehr auf den Upper Broadway. Ich hatte noch etwa sechzehn bis zwanzig Dollar in der Tasche, außerdem ein Messer und einen Kugelschreiber; mein Rucksack enthielt einen Pullover, eine Lederjacke, eine Zahnbürste, einen Rasierapparat mit drei ungebrauchten Klingen, ein zweites Paar Socken, Unterwäsche und ein kleines grünes Notizbuch mit einem Bleistift in der Spiralbindung. Unmittelbar nördlich des Columbus Circle, kaum eine Stunde nach Antritt meiner Pilgerfahrt, ereignete sich etwas ganz Unwahrscheinliches. Ich stand vor einer Uhrmacherwerkstatt und betrachtete den Mechanismus irgendeines antiken Chronometers im Schaufenster, als ich plötzlich vor mir auf dem Boden eine Zehn-Dollar-Note liegen sah. Ich war so erschüttert, dass ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte. Meine Gedanken waren schon in Aufruhr, und anstatt das einfach für einen Glückstreffer zu halten, redete ich mir ein, dass damit etwas äußerst Bedeutsames eingetreten sei: ein religiöses Ereignis, ein absolutes Wunder. Als ich das Geld aufhob und sah, dass es echt war, begann ich vor Freude zu zittern. Alles wird gut werden, sagte ich zu mir, am Ende wird alles gut ausgehen. Ohne weiter über die Sache nachzudenken, ging ich in einen griechischen Coffeeshop und spendierte mir ein Bauernfrühstück: Grapefruitsaft, Cornflakes, Schinken mit Ei, Kaffee und alles, was dazugehört. Nach dem Essen kaufte ich mir sogar eine Packung Zigaretten und trank an der Theke noch eine zweite Tasse Kaffee. Ein unwiderstehliches Gefühl von Glück und Wohlbehagen hatte mich ergriffen, ich konnte die Welt wieder lieben. Alles in dem Restaurant kam mir wunderbar vor: die dampfenden Kaffeemaschinen, die Drehstühle, die großen Toaster, die silbernen Milchshake-Spender, die in Glasgefäßen gestapelten frischen Muffins. Ich fühlte mich wie kurz vor der Wiedergeburt, wie jemand, der im Begriff ist, einen neuen Kontinent zu entdecken. Während ich noch eine Camel rauchte, beobachtete ich den Mann hinter der Theke bei der Arbeit, dann die schlampige Kellnerin mit den falschen roten Haaren. Beide hatten etwas unaussprechlich Wehmütiges an sich. Ich wollte ihnen sagen, wie viel sie mir in diesem Augenblick bedeuteten, aber ich brachte die Worte nicht heraus. Einige Minuten lang blieb ich so in meinem Hochgefühl sitzen und lauschte nur meinen Gedanken. Sie waren ein einziges Durcheinander, chaotisch und ekstatisch. Dann war meine Zigarette heruntergebrannt, und ich nahm meine Kräfte zusammen und zog weiter.
Am Nachmittag war es drückend heiß geworden. Da ich sonst nichts mit mir anzufangen wusste, ging ich in eins dieser Kinos an der 42nd Street nahe beim Times Square, in denen das Hauptprogramm aus drei Spielfilmen besteht....
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2012 |
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Übersetzer | Werner Schmitz |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | amerikanische Detektivromane • Detective-Fiktion • Detektivgeschichte • Detektivgeschichten • Gegenwartsliteratur • Herkunft • Kriminalromane • Krimis • Manhattan • Moderne Klassiker • Moon Over Manhattan • mysteriöse romane • New York City • noir literatur • Psychologischer Thriller • Romanze • spannende Bücher • Spannung • Weltstadt |
ISBN-10 | 3-644-01931-2 / 3644019312 |
ISBN-13 | 978-3-644-01931-7 / 9783644019317 |
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