Endlich Berliner! (eBook)
169 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-75880-8 (ISBN)
<p>Hans-Ulrich Treichel, am 12.8.1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Er war Lektor für deutsche Sprache an der Universität Salerno und an der Scuola Normale Superiore Pisa. Von 1985-1991 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und habilitierte sich 1993. Von1995 bis 2018 warHans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt.<br /> </p>
Cover 1
Informationen zum Buch oder Autor 3
Titel 6
Impressum 7
Vorwort 8
Endlich Berliner 16
Endlich Berliner 18
Berlin - Terra incognita 25
Kleine Berlinkunde - Drei Glossen 38
1. Was die Kenner nicht wissen können 38
2. Schöne Zeit 40
3. Am Grunewaldsee 41
Grenzübergang 44
Halbes Liebeslied für Berlin 46
Halbes Liebeslied für Berlin 48
Berliner Arbeiten 49
Der Hypochonder 65
Kultphalli und alte Filme 76
Ein Besuch im Berliner Erotik-Museum 76
Berliner Perspektiven 82
Einen schönen Tag noch! 84
Der Lieblingsberliner 86
Im Schwimmbad 100
Sommertag in Friedenau 101
Am Bullenwinkel 102
Westberlin-Neuruppin und zurück 111
Kreuzberg renoviert 114
Türkische Musik 116
Kreuzberg renoviert 124
Prenzlauer Bergbesteigung 125
Kurz vor der Oberbaumbrücke 126
Wo der rauhe, böse Lebenskampf regiert 128
Leben und lauschen 130
Wo der rauhe, böse Lebenskampf regiert 133
Robert Walser in Berlin 133
Ernst Jünger 138
oder Kannibalismus in Steglitz 138
Am Grossen Wannsee 144
Die Mauer steht noch ein paar hundert Jahre 152
Mythos Berlin 1987 154
Mauergedicht 155
Am Brandenburger Tor 156
Interregio Berlin-Leipzig 157
Zu spät 158
Zum Schluss 164
Platz in Wilmersdorf 166
Nachweis der Erstdrucke 167
Inhalt 169
Bildteil 172
Vorwort
Kürzlich entdeckte ich zu Hause beim Büchersortieren ein Buch mit dem Titel: Kreuzberger Wanderbuch. Wege ins widerborstige Berlin. Wandern in Kreuzberg? Widerborstiges Berlin? Das Buch muß ich irgendwann in den achtziger Jahren gekauft haben, denn damals blühte hier das alternative Leben. Ich wollte gerne wissen, wann das Buch erschienen ist, konnte aber im Impressum keine Jahreszahl finden. Also schaute ich im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek nach und fand: 1984.
1984 – das war die Zeit, in der auch ich in Kreuzberg gelebt habe. In der Lausitzer Straße. SO 36 nannte man die Gegend damals, was die Abkürzung von Berlin Südost 36 war, so hieß der entsprechende Postzustellbezirk. Vorher hatte ich in »61« gelebt, am Tempelhofer Ufer, direkt gegenüber der Schaubühne am Halleschen Ufer. Diesseits vom Landwehrkanal war das Tempelhofer und jenseits das Hallesche Ufer. Der Bezirk 61 war einst das bessere Kreuzberg. Einigen Häusern am Mehringdamm sieht man das noch an. Meine Wohngemeinschaft war allerdings sozial eher schwach und bestand aus Leuten, die alles mögliche machten: in der Gastronomie arbeiten, Autos nach Spanien überführen, fotografieren, musizieren, eine Konzertagentur gründen (und diese wieder aufgeben), eine Firma für die Beleuchtung von Freiluftkonzerten gründen (und diese ebenfalls wieder aufgeben), an der Schaubühne als Bühnenarbeiter arbeiten. Wie ich auch. In den Semesterferien. Wir bauten Kulissen auf und ab, trugen Möbel hin und her und gelegentlich, wenn bei den Malern Not am Mann war, bemalten wir auch die Bühnenwände. Für Kleists Prinz Friedrich von Homburg beispielsweise oder Die Hypochonder von Botho Strauß.
Das waren noch Zeiten. Berliner Zeiten. Ich könnte jetzt zu schwärmen beginnen und Anekdoten erzählen von meinen Begegnungen mit den bedeutendsten Theaterleuten dieser Jahre in der Kantine der Schaubühne am Halleschen Ufer. Aber in Wahrheit bin ich ihnen gar nicht begegnet, sondern habe sie nur gesehen. Sowohl in der Kantine als auch bei den Proben. Bruno Ganz, Michael König, Jutta Lampe, Edith Clever, Otto Sander und viele andere. Von Peter Stein ganz zu schweigen. Ob sie auch mich gesehen haben, möchte ich allerdings bezweifeln. Wir Bühnenarbeiter und Bühnenhilfsarbeiter sahen alle irgendwie gleich aus. Aber schön war es doch, so mitten im Zentrum der Theaterkunst zu sein. Die Arbeit war meistens Nachtarbeit und so erschöpfend, daß man keine Lust mehr hatte, auch noch in eine der Vorstellungen zu gehen. Trotz der Möglichkeit, günstig an Karten zu kommen. Ich bin in meinem Leben noch nie so wenig ins Theater gegangen wie zu der Zeit, als ich als Bühnenarbeiter an der Schaubühne arbeitete.
Ich bin allerdings auch nicht in Kreuzberg wandern gegangen. Weder damals noch später. Trotzdem habe ich mir das Kreuzberger Wanderbuch gekauft. Warum nur? Ich wohnte doch dort. Wohin sollte ich da noch wandern? Nach »Klein-Istanbul« etwa, wie eines der Kapitel in dem Wanderbuch heißt? Oder zu Riehmers Hofgarten. Der kommt auch in dem Buch vor. Da kam ich doch ohnehin vorbei, denn unweit davon hat meine Zahnärztin ihre Praxis, der ich nun auch schon dreißig Jahre die Treue halte. Und sie mir. Noch immer in der gleichen Praxis. Auch das Paul-Lincke-Ufer wird als Wanderziel gewürdigt. In einem Kapitel mit dem Titel »Ein Dorf wächst aus den Hinterhöfen«. Ich weiß im Moment nicht, wie das gemeint ist. Was für ein Dorf? Und wie wächst es aus den Hinterhöfen heraus? Ich müßte das Kapitel noch einmal lesen. Und mir ein weiteres Mal mein Kreuzberg von damals erklären lassen. Denn das war wohl der Grund, warum ich mir ein solches Buch über meinen eigenen Stadtteil gekauft habe. Ich wollte wissen, wo ich war.
Ich habe mir auch später immer wieder Bücher über Berlin gekauft. Oder in einer Stadtteilbibliothek ausgeliehen. Ich wollte auch später offenbar immer wieder wissen, wo ich war. Und das seit nunmehr fast vierzig Jahren. Erst kürzlich habe ich mir ein Buch über Südende gekauft. In einem Zeitungsladen in der Nähe des S-Bahnhofs Südende. Mir war gar nicht klar, daß man auch über diese Gegend ein Buch schreiben kann. Denn hier ist nun wirklich gar nichts los. Wenn hier einer eine Geschäftsidee hat, dann macht er einen Laden für Hörgeräte auf. Oder, noch besser, einen Notfall-Eil-Reparaturservice für Rollstühle, wie ich kürzlich gesehen habe. Darauf muß man erst einmal kommen. Hier, rund um den S-Bahnhof Südende herum, kommt man darauf. Aber ich will meine eigene Gegend nicht allzu schlecht machen, schließlich handelt es sich um eine sogenannte Landhauskolonie. Außerdem gibt es in dem Buch einen Abschnitt, der überschrieben ist mit der Feststellung »Südende findet mehr und mehr Beachtung«. Das klingt vielversprechend, ist aber leider nicht auf die Gegenwart, sondern auf die Jahre 1884 bis 1903 gemünzt. Beachtenswert aber erscheint mir, daß Otto Lilienthal in Südende einige Flugversuche unternahm: vom Dach eines Holzschuppens, den er an einem Abhang auf der sogenannten Steglitzer Maihöhe errichtet hatte. Aber das ist Geschichte. Doch etwas wirklich Einzigartiges gibt es hier auch heute noch: Ich meine nicht das 1. KFZ-Pfandleihhaus in Berlin, das bei seiner Gründung in der Tat einzigartig war und wo man sein Auto verpfänden kann. Sechstausend zufriedene Kunden, heißt es in der Eigenwerbung des Pfandleihhauses. Ich meine den Natur-Park Schöneberger Südgelände, der nur eine S-Bahn-Station von Südende entfernt ist und sich auf dem Gelände des ehemaligen Tempelhofer Rangierbahnhofs befindet. Man kann noch immer eine alte Lokomotive bewundern, die aber nicht weiter stört und friedlich auf der Stelle steht.
Hinzugekommen sind Pflanzen und Tiere, die es hier vormals nicht gegeben hat. So hat sich im Südgelände die Gottesanbeterin angesiedelt, auch Mantis religiosa genannt. Ein wahrhaft mythisches Tier, dem der französische Kulturphilosoph Roger Caillois eine eigene Studie gewidmet hat und dem man normalerweise im Mittelmeerraum begegnet. Allein schon deshalb lohnt es sich, den einen Euro Eintrittsgeld zu investieren und das Südgelände zu besuchen. Wegen des Mittelmeergefühls, das einen hier ergreift. Die Gottesanbeterin selbst bekommt man wahrscheinlich nicht zu Gesicht. Ich jedenfalls habe sie dort noch nie gesehen. Nur darüber gelesen. In einer Informationsbroschüre über das Schöneberger Südgelände. Seit ich die Broschüre gelesen habe, höre ich im Südgelände die Zikaden singen.
Daran sieht man, wie wichtig das Lesen ist. Das Lesen generell. Aber auch das Lesen über Berlin. Ich habe schon in vielen Berliner Stadtteilen gewohnt und immer auch über diese Stadtteile gelesen. Und dies eben nicht, weil ich so ein fleißiger und bildungshungriger Mensch bin, sondern weil ich wissen wollte, wo ich war. Weil mir die Orientierung manchmal schwerfällt. Und auch das genaue Hinschauen. Weil ich aus Ostwestfalen stamme und mir gelegentlich und besonders in melancholischen Momenten alles zu Ostwestfalen wird. Beziehungsweise zu Bielefeld. Auch Berlin. Moabit, Charlottenburg, Steglitz, Friedrichshain, Oberschöneweide, Pankow – alles Bielefeld. Aber das muß ja nicht sein. Dann könnte ich ja gleich in Bielefeld leben. Wenn ich schon in Berlin lebe, dann will ich mich auch wie in Berlin fühlen. Großstädtisch. Geschichtsbewußt. Geschichtsbetroffen. Weltoffen. Gebildet. Berlin-gebildet. Dann soll sich alles, was zur Metropole Berlin gehört, auch in mir versammeln.
Das funktioniert natürlich nicht immer, weil auch Berlin selbst nicht immer in sich versammelt ist. Sondern manchmal so öde und leer, kleinkariert und provinzlerisch, verregnet und traurig, daß man weinen möchte. Und zuweilen auch eklig, weil voller Hundekot. Der seit einiger Zeit von einigen Hundehaltern zwar in Plastiktüten gesammelt, dann aber an Zäune und in die Büsche gehängt wird. Im Grunewald beispielsweise und rund um den Grunewaldsee. Das habe ich selbst schon oft genug gesehen, daß im Grunewald die Hundekacke in Plastiktüten an Zäunen und Büschen hängt. Auf Augenhöhe sozusagen. Da sehnt man sich dann nach Bielefeld. Packt aber trotzdem nicht seine Koffer. Einmal Berlin, immer Berlin. Es sei denn, man findet hier keine vernünftige Arbeit. Dann geht man auch gerne woandershin. Zum Beispiel nach Leipzig, wo ich schon seit vielen Jahren einen ersten Arbeitsplatz und einen zweiten Wohnsitz habe.
Von Leipzig aus gesehen ist Berlin sehr schön. Noch schöner vielleicht, als wenn man immer mittendrin hockt. Distanz schärft die Wahrnehmung. Wobei natürlich auch die Geschichte dafür gesorgt hat, daß es für die Berliner in Berlin nie so richtig gemütlich geworden ist. Am gemütlichsten war es vielleicht noch im berühmten Soziotop beziehungsweise Archipel Westberlin der siebziger und achtziger Jahre. Wenn man mal von der Wohnungsproblematik absieht. Keine Moabiter oder Weddinger Wohnung mit Außenklo war schlecht genug, um sie am Ende nicht doch noch zu mieten. Aus Mangel an bezahlbaren Alternativen. Und die Mauer? Die galt ja nur für die anderen. Die Ostberliner. Von Westen aus gesehen. Die diente der Verkehrsberuhigung. So mancher Pfad in Mauernähe war zudem eine prima Joggingstrecke. Man kann schließlich nicht ununterbrochen politisch denken.
Mit dem Westberliner Soziotop war es 1989 vorbei. Falls es so etwas wie ein Ostberliner Soziotop gegeben haben sollte, dann endete dieses ebenfalls. Nun machte sich Berlin auf den Weg zur internationalen Metropole und folgt inzwischen, was die Besucherzahlen angeht, direkt auf Paris und London. Und liegt noch vor Rom. Das stellt natürlich eine Herausforderung für das eigene Berlin-Gefühl...
Erscheint lt. Verlag | 14.12.2011 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 50plus • Anthologie • Berlin • Best Ager • Deutschland • Eichendorff-Literaturpreis 2006 • Erzählung • Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 1993 • Generation Gold • Golden Ager • insel taschenbuch 4097 • IT 4097 • IT4097 • Kritikerpreis des Verbands der deutschen Kritiker 2006 • Mitteleuropa • Nordostdeutschland • Preis der Frankfurter Anthologie 2007 • Rentner • Rentnerdasein • Ruhestand • Senioren |
ISBN-10 | 3-458-75880-1 / 3458758801 |
ISBN-13 | 978-3-458-75880-8 / 9783458758808 |
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