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Der Turm (eBook)

Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2010 | 1. Auflage
976 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74060-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Turm -  Uwe Tellkamp
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Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden Sozialismus längst mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Anne und Richard Hoffmann stehen im Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren: Kann man sich vor den Zumutungen des Systems in die Dresdner Nostalgie flüchten? Oder ist der Zeitpunkt gekommen, die Ausreise zu wählen? Christian, ihr ältester Sohn, bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren. Sein Onkel Meno Rohde steht zwischen den Welten: Er hat Zugang zum Bezirk »Ostrom«, wo die Nomenklatura residiert, die Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches demokratisches Recht gesprochen wird. In epischer Sprache, in eingehend-liebevollen wie dramatischen Szenen beschreibt Uwe Tellkamp den Untergang eines Gesellschaftssystems. Ein monumentales Panorama der untergehenden DDR, in der Angehörige dreier Generationen teils gestaltend, teils ohnmächtig auf den Mahlstrom der Revolution von 1989 zutreiben. Kein anderes Buch hat in den letzten Jahren gleichermaßen Kritiker und Publikum derart begeistert.

Uwe Tellkamp, geboren 1968 in Dresden, Romancier, Erz&auml;hler und Essayist, legte 2008 nach Erscheinen seines zweiten Romans, <em>Der Eisvogel</em> (2005), mit dem Roman <em>Der Turm</em> sein bislang umfangreichstes Prosawerk vor, in dem er die Vorwende- und Wende-Zeit der DDR zum Thema macht. Mit einem Ausschnitt aus dem Roman <em>Der Schlaf in den Uhren</em> gewann er 2004 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Neben anderen Auszeichnungen wurde ihm 2008 der Uwe-Johnson-Preis, im selben Jahr der Deutsche Buchpreis und 2009 der Deutsche Nationalpreis zuerkannt. Eine Verfilmung des <em>Turms</em> erfolgte 2012.

Ouvertüre


Suchend, der Strom schien sich zu straffen in der beginnenden Nacht, seine Haut knitterte und knisterte; es schien, als wollte er dem Wind vorgreifen, der sich in der Stadt erhob, wenn der Verkehr auf den Brücken schon bis auf wenige Autos und vereinzelte Straßenbahnen ausgedünnt war, dem Wind vom Meer, das die Sozialistische Union umschloß, das Rote Reich, den Archipel, durchädert durchwachsen durchwuchert von den Arterien Venen Kapillaren des Stroms, aus dem Meer gespeist, in der Nacht der Strom, der die Geräusche und Gedanken mit sich nahm auf schimmernder Oberfläche, das Lachen und den Ernst und die Heiterkeit ins sammelnde Dunkel; Schwebstoffe hinab in die Tiefe, wo die Rinnsale der Stadt sich mischten; im Tiefseedunkel kroch das Spülicht der Kanalisation, tropfender Absud der Häuser und VEB, in der Tiefe, wo die Lemuren gruben, stauten sich die ölig-schwere, metallische Brühe der Galvanikbäder, Wasser aus Restaurants und Braunkohlekraftwerken und Kombinaten, die Schaumbäche der Reinigungsmittelfabriken, Abwässer der Stahlwerke, der Krankenhäuser, der Eisenhütten und der Industriezonen, die verstrahlte Beize der Uranbergwerke, Giftsuppen der Chemieanlagen Leuna Buna Halle und der Kaliwerke, von Magnitogorsk und von den Plattenbaugebieten, die Toxine der Düngemittelanlagen, der Schwefelsäurefabriken; in der Nacht der Strom, weitverzweigt die Schlamm-, die Schlacke-, Erdöl-, Zellstoff-Flüsse, Wasser verschmolzen zu einem großen pechträgen Band, darauf die Schiffe fuhren, unter den rostigen Spinnweben der Brücken hindurch, in die Erzhäfen Getreidehäfen Südfrüchtehäfen die Häfen der 1000 Kleinen Dinge

– Und ich erinnere mich an die Stadt, das Land, die Inseln, von Brücken zur Sozialistischen Union verbunden, ein Kontinent Laurasia, in dem die Zeit eingekapselt war in eine Druse, zur Anderzeit geschlossen, und die Musik erklang von den Plattenspielern, knisternd unter den Abtastarmen im dünenden Vinylschwarz, Lichtspindeln hin zum Gelbetikett der Deutschen Grammophon, zum Eterna- und Melodia-Schriftzug pulsend, während draußen der Winter das Land einfror, Schraubstöcke aus Eis an den Ufern auftürmte, die den Strom in ihren Zangen preßten und, wie den Lauf der Zeiger auf den Uhren, an den Stillstand bremsten. … aber die Uhren schlugen, ich höre, als wäre es heute, den Westminster-Gong in der Karavelle, wenn das Wohnzimmerfenster geöffnet war und ich die Straße hinunterging, ich höre den Schlag der Flügeluhr aus der Wohnung im Erdgeschoß des Glyzinienhauses; das feine Klingen der Wiener Uhr aus Tietzes Musikzimmer, das melodisch aufsteigende, dann, mit dem letzten Ton, abknickende Ta-ta-ta-taa nach dem durchdringenden Sägton der Zeitanzeige des Deutschlandfunks, der Anfang der achtziger Jahre von den Türmern auf der Insel Dresden nicht mehr unter dem Tuch gehört wurde; jetzt die stimmlose Nadel einer japanischen Quarzuhr, die vom Handgelenk eines Staatskapell-Kontrabassisten in das Gongen und Plingen, Scheppern und die Kuckucksrufe beim Uhrmacher Simmchen, genannt Ticketack-Simmchen, sticht, in die tiefen Stundenschläge der Standuhren, das vollstimmige Repetieren der großen und kleinen Regulatoren bei Uhren-Pieper, Turmstraße 8; der Koloratursopran einer Schnörkel-Porzellanuhr bei Witwe Fiebig im Haus Zu den Meerkatzen, die heisere Rebellion einer Fliegeruhr, in der zweiten Etage der Pension Steiner, beim ehemaligen Generalstäbler in Rommels Afrikakorps; das Pekinesenkeckern im Appartement am Ende des Flurs, wo ein Mann namens Hermann Schreiber wohnte, einst Meisterspion der zaristischen Ochrana und der Roten Truppen; eine Uhr mit dem Zarenwappen, aus der Erstürmung des Winterpalais’ in St. Petersburg gerettet, 1917; ich höre, als säße ich in seiner Sprechstunde oder stünde im Röntgenwagen einer der jährlichen Tbc-Reihenuntersuchungen und blickte auf das Schwarzweiß des Durchleuchtungsschirms, über das der grauhaarige Arzt sich beugt, das Krächzen von Dr. Fernaus Taschenuhr; die Porzellanglocken am Zwinger fallen ein, die Uhren im Gebäude der Staatlichen Plankommission, ehemals Reichsluftfahrtministerium, höre ich unbeirrt von Schritten, Hast auf den Gängen, Telefonklingeln, Zeitläuften, dem Geräusch der Paternosteraufzüge weiterrücken

– Auf dem Meer, dem dunklen Ozean in immerwährender Nacht, suchend, suchend, der sich zweigte in Strom und Flüsse, kriechend um die Bewohnten Inseln

– Und hörte die Uhren der Papierrepublik über die Meeresarme klingen tönen schlagen, Gelehrteninsel: Schneckenkegel, der zum Himmel wuchs, Helix, auf den Tisch gezeichnet in Auerbachs Keller, Wohnungen verbunden durch Stiegen, Häuser verschraubt mit Treppen, Gehörgänge auf Reißbrettern entworfen, Spinnweben, die Brücken

– In der Nacht, die rostigen, die vom Mehltau des Schlafs befallenen, die von Säuren zerfressenen, die bewachten, die brombeerumrankten, die im Grünspan gefangenen, festgeschmiedet der Preußische Adler, die Schlag Mitternacht ihre Lauschtiere freilassenden, die hundertäugigen Periskope reckenden, Okulare scharfstellenden, bannertragenden, die von den Schornsteinen geschwefelten, Musiklinien vortäuschenden, mit Bitumen bewalzten, von Tropfnässe Sickernässe Schwitznässe faulenden, die durch schimmelnde Akten kriechenden, mit Stacheldraht betreßten, mit Ziffernblättern verbleiten Brücken; was war ATLANTIS, das wir nachts betraten, wenn das Mutabor gesprochen war, das unsichtbare Reich hinter dem sichtbaren, das erst nach langen Aufenthalten, den Touristen nicht und nicht den Traumlosen, aus den Konturen des Tages brach und Risse hinterließ, einen Schatten unter den Diagrammen dessen, was wir Die erste Wirklichkeit nannten, ATLANTIS: Die zweite Wirklichkeit, Insel Dresden/die Kohleninsel/die Kupferinsel der Regierung/Insel mit dem roten Stern/die Askanische Insel, wo Justitias Jünger arbeiteten, zu ATLANTIS verknüpft versponnen verkrustet

– Die Bahnhofsuhren in den verästelten Trakten des Anatomischen Instituts ließen die Sekundenzeiger schleichen und auf der Zwölf zögern, bis der Minutenzeiger aus seiner Erstarrung ins nächste Fach fiel, wo er Haftanker auszuschießen schien, in denen er wie betäubt, gestaucht von den Puffern der vergangenen und der bevorstehenden Minute, hängenblieb; Omnia vincit labor, behauptete die Glocke auf dem Kroch-Hochhaus, von zwei Riesen mit Hämmern geschlagen, und die Gelehrten, die sozialistischen Glasperlenspieler, die ludi magistri an der Universität, die als geöffnetes steinernes Buch mit dem Karl-Marx-Kopf als Galions-Totem im Meer schwamm, beugten sich über den Geist der Goethezeit, luden die Revolution in den Zeugenstand, verkündeten das Prinzip Hoffnung, dozierten über das Klassische Erbe im Hörsaal 40, sezierten den menschlichen Körper in den Sälen unter der Liebigstraße: Hier steht der Tod im Dienst des Lebens, Anatomie: Schlüssel und Steuerruder der Medizin

– Suchend, in der Nacht der Strom, ein ermüdetes krankes Tier, träumend in einem Schlafgehäuse, um das die Kälte steigt, und Straßenadern auf den Inseln, schütter beleuchtet, eingezwängt in den Frost und das Schweigen, Menschen mit biegsamen Schatten hasten über die Magistralen, wo am 1. Mai die Banner wehen, Marschmusik aus den Lautsprechermembranen spiralt wie Metallspäne von einem Werkstück in einer Drehbank, Sprengladungen, Meißel, Preßlufthämmer treiben Stollen in den Berg, schälen die Fingerspitzen des Flusses voran, die Stachanow-, die Hennekke-Bewegung, die Tunnelbohrer schürfen unter den Inseln, Zimmerleute fügen die Stützhölzer, der Fluß öffnet Hörrohre

– Die Große Uhr schlug, und das Meer stieg vor den Fenstern, den Zimmern mit den Farntapeten und den Eisblumen an den Leuchtern, den Stuckdecken und schönen Möbeln, ererbt aus verschollener Bürgerlichkeit, worauf die Baskenmützen der Denkmalpfleger anspielten, die gemessenen Gesten törtchenessender Damen in den italienischen Cafés, die blumigen und chevaleresken Grußzeremonien der Dresdner Kunstausübung, die versteckten Zitate, die mandarinhaften, pädagogischen, anspielungsreichen Rituale des Freundeskreises Musik, die gravitätischen Küren schlittschuhlaufender älterer Herren in den Eisparks; übriggeblieben im sanfthügeligen Elbtal in Häusern unterm Sowjetstern, übriggeblieben wie die Hermann-Hesse-Ausgaben der Vorkriegszeit, die zigarrenbraunen Thomas-Mann-Bände des Aufbau-Verlags aus den fünfziger Jahren, eifersüchtig bewacht in Antiquariaten, deren unterseeisches Licht dem Eintretenden Andacht verordnete, Papierschiffe, in denen sich langsam an Erinnerungen vergiftende Fossile hausten, Topfpflanzen hegten und den Kompaß über den knarrenden Parketten unbeirrbar auf Weimar gerichtet hielten, übriggeblieben in den Rosen, die um die Insel wuchsen, über die Ziffernblätter der Uhren, die rosteten, und deren Perpendikel zwischen den Polen Stille und Unstille (es war eine, bloßer »Lärm« oder »Geräusch« war es nicht) durch unsere Leben schnitten. Wir hörten Musik, Eterna, Melodia hießen die Schallplatten, bei Herrn Trüpel gab es sie zu kaufen, im Schallplattenladen »Philharmonia« an der Bautzner Straße, oder im »Kunstsalon am Altmarkt« … die Große Uhr schlug

– Dresden … in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern

– Suchend, in der Nacht der Strom, Wald wurde Braunkohle, Braunkohle bildete Flöze unter den Häusern, die Gruben-Maulwürfe wühlten sich vor und schürften die Kohle, Förderbänder ließen sie zu den Heizern wandern, in die Kraftwerke mit ihren Feuerschloten, in...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2010
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adaption • Alltag • Alltagskultur • Belletristische Darstellung • Buch zum Film • DDR • Deutscher Buchpreis 2008 • Deutscher Nationalpreis 2009 • Deutschland • Dresden • Familie • Film • Geschichte 1980-1989 • Gesellschaft • Ingeborg-Bachmann-Preis 2004 • Kinofilm • Kulturpreis der deutschen Freimaurer 2017 • Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2009 • Literaturverfilmung • Mitteleuropa • Niedergang • Oberschicht • Ostdeutschland • Ostdeutschland DDR • Sachsen • ST 4160 • ST4160 • suhrkamp taschenbuch 4160
ISBN-10 3-518-74060-1 / 3518740601
ISBN-13 978-3-518-74060-6 / 9783518740606
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