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Drei Minuten mit der Wirklichkeit (eBook)

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2012 | 1. Auflage
560 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-41670-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Drei Minuten mit der Wirklichkeit -  Wolfram Fleischhauer
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Eigentlich will die neunzehnjährige Giulietta Battin, Balletttänzerin an der Berliner Staatsoper, nur herausfinden, was an zeitgenössischer Tango-Musik so verstörend ist. So trifft sie Damian Alsina, den rätselhaften und zugleich genialischen Startänzer eines in Berlin gastierenden Tango-Ensembles. Was wie eine traumhafte Liebesgeschichte beginnt, wächst sich für Giulietta jedoch schon bald zu einem Alptraum aus. Ohne ersichtlichen Anlaß sabotiert Damian auf offener Bühne sein eigenes Stück und ruiniert die Aufführung. Wenige Tage später führt er einen absurden Anschlag auf Giuliettas Familie aus und verschwindet nach Argentinien. Tief verletzt, jedoch zugleich entschlossen, eine Erklärung zu finden, folgt ihm Giulietta nach Buenos Aires. Doch Damian ist wie vom Erdboden verschluckt. Für Giulietta beginnt eine Odyssee durch die sichtbare und unsichtbare Tango-Welt von Buenos Aires, in der sich Damians rätselhafter Tanzstil als verborgener Ariadnefaden in ein teuflisches Labyrinth erweist. Je näher sie einer Antwort kommt, desto furchtbarer scheint sie zu sein. Und dann interessiert sich plötzlich noch jemand für ihre Spurensuche - und der hat ganz andere Pläne ...

Wolfram Fleischhauer, geboren 1961 in Karlsruhe, zählt zu den besten und meistgelesenen deutschen Erzählern. Er studierte Literatur in Deutschland, Frankreich, Spanien und den USA und gehört zu den wenigen deutschen Autoren, die auch international sehr erfolgreich sind.  Mit der Satire 'Fikkefuchs' (2017) und der Verfilmung seines preisgekrönten Thrillers 'Schweigend steht der Wald' - ab Oktober 2022 im Kino - erzählt er seine Geschichten inzwischen auch auf der Leinwand.  

Wolfram Fleischhauer, geboren 1961 in Karlsruhe, zählt zu den besten und meistgelesenen deutschen Erzählern. Er studierte Literatur in Deutschland, Frankreich, Spanien und den USA und gehört zu den wenigen deutschen Autoren, die auch international sehr erfolgreich sind.  Mit der Satire "Fikkefuchs" (2017) und der Verfilmung seines preisgekrönten Thrillers "Schweigend steht der Wald" - ab Oktober 2022 im Kino - erzählt er seine Geschichten inzwischen auch auf der Leinwand.  

1


Giulietta versuchte, nicht zu zittern.

Sie blickte nervös um sich und musterte verstohlen die Gesichter der anderen Fluggäste im Terminal B des Züricher Flughafens. Ihr Magen fühlte sich an, als habe sie Säure geschluckt. Ihr Herz klopfte, und wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass sie gestern Mittag in Berlin zumindest äußerlich kerngesund in das Zubringerflugzeug gestiegen war, so hätte sie auf Fieber getippt.

Ihr Magen rumorte. Er wollte Nahrung, aber sie wusste, dass er sie nicht bei sich behalten würde. Es war ihr Tänzerinnenmagen. Sie hatte zehn Jahre lang Ballett studiert. Sie kannte ihren Körper und alle Schmerzen, deren er fähig war. Was sie indessen nicht kannte, war seine Fähigkeit, sich so sehr in einem einzigen Schmerz einzurichten. Es waren zweiundsiebzig Stunden vergangen, seit ihr Leben gegen diese unsichtbare Wand geknallt war, und noch immer litt sie an Brechreiz, Sodbrennen und Schüttelfrost. Und all dies vor allem, wenn sie an einen Namen dachte: Damián.

Aber auch das lange Warten hatte sie zermürbt. Gestern Nachmittag war sie hier in der Hoffnung angekommen, noch am selben Abend über Warteliste einen Platz zu bekommen. Man hatte ihr versichert, wenn es am Freitag nicht klappen würde, käme sie garantiert am Samstag mit. Sie hatte ihre letzten Bargeldreserven für eine weitgehend schlaflose Nacht im Flughafenhotel ausgegeben. Jetzt besaß sie noch ein paar Schweizer Franken und eine Kreditkarte, die ihr nicht gehörte. Aber das war gleichgültig. Sie hatte einen Platz in der Samstagsmaschine nach Buenos Aires. Das allein zählte.

Sie stand auf, ging zur Kaffeebar und verlangte eine Flasche stilles Wasser. Der Kellner musterte sie interessiert. Offenbar sah sie nicht ganz so schlecht aus, wie sie sich fühlte. Sie erwiderte seinen Blick nicht, schaute überhaupt niemandem ins Gesicht. Sie war daran gewöhnt, dass Männer sie anstarrten, und kümmerte sich nicht weiter darum. Aber sie hatte Furcht, erkannt zu werden. Das war natürlich albern. Wer sollte sie hier schon kennen? Und dennoch. Sie war auf der Flucht, auch wenn sie nicht recht wusste, wovor.

Sie kehrte zu ihrem Platz zurück, schaute auf die Anzeigetafel, um das Signal zum Einsteigen im Blick zu haben, setzte die Wasserflasche an die Lippen und trank ein wenig. Der Gedanke an die vor ihr liegenden zwölf Stunden Flug erfüllte sie mit Unruhe, doch die größte Angst hatte sie davor, dass ihr Vater hier auftauchen würde. Es war natürlich völlig unwahrscheinlich. Nein, es war unmöglich. Er konnte nicht wissen, auf welchem europäischen Flughafen sie saß, um einen Anschlussflug nach Buenos Aires zu nehmen. Sie könnte überall sein, in London, Madrid oder Amsterdam. Er konnte nicht weg aus Berlin. Es war das Hauptstadtjahr. Er arbeitete seit Monaten täglich zwölf bis vierzehn Stunden, um dieses Sicherheitskonzept fertig zu stellen. Er konnte jetzt nicht ausfallen. Das ging nicht. Jedenfalls nicht gleich.

Konnte man feststellen, wer wann wo welches Flugzeug nahm? Die Polizei vermochte das sicher. Aber dazu müsste man sie zur Fahndung ausschreiben. Und das durfte die Polizei wohl nur, wenn sie etwas verbrochen hätte. Aber sie hatte nichts verbrochen. Sie war ein erwachsener Mensch von neunzehn Jahren. Niemand hatte das Recht, sie polizeilich suchen zu lassen. Auch ihre Eltern nicht. Oder vielleicht doch?

Sie hielt nervös nach allem Ausschau, was irgendwie einer Uniform ähnelte. Aber niemand behelligte sie. Die Menschen um sie herum kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, blätterten gelangweilt in Zeitschriften oder vertrieben sich die Zeit mit Duty-free-Einkäufen. Hier und da tippte ein Geschäftsreisender auf seinem Laptop herum oder spielte mit seinem Mobiltelefon. Giulietta schloss die Augen und atmete tief und langsam. Das Wasser tat ihr gut. Sie würde schon ein wenig Ruhe finden, wenn sie nur erst in diesem Flugzeug säße. Jeder Kilometer, der sie mehr in Damiáns Nähe brachte, würde sie ruhiger werden lassen. Es gab nur dieses eine Ziel. Sie würde ihn finden, und alles würde sich klären. Es war undenkbar, dass es für sein Verhalten keine Erklärung gab. Und unabhängig von jeder Erklärung war ihre Liebe, die über alles erhaben war.

Ein vorübergehendes älteres Paar unterhielt sich auf Spanisch. Giulietta verstand die Sprache nicht, aber allein der Tonfall, der Singsang schob einen Eiskeil durch ihre Eingeweide. Vor allem die Stimme der Frau traf sie hart und heimtückisch. Sie sprach genauso wie Nieves, Damiáns Tanzpartnerin. In dem ganzen Durcheinander der letzten Tage nach der Vorstellung hatte Giulietta überhaupt nicht mehr an sie gedacht. Nieves. Schnee. Ein solch schöner Name für die gehasste Frau. Ob sie noch in Berlin geblieben war? Gab es hier vielleicht einen Zusammenhang? Steckte sie hinter diesem Rätsel?

Vierzig Minuten bis zum Einstieg. Morgen früh um 11 Uhr Ortszeit würde sie in Buenos Aires landen. Sie hatte weder eine konkrete Vorstellung davon, wo das war, noch die leiseste Ahnung, was für ein Land sie betreten würde. Aber das war völlig gleichgültig. Sie wäre auch nach Tokio oder Dakar geflogen. Damián war in Buenos Aires. Alles andere war unwichtig.

Sie würde vom Flughafen in die Stadt fahren und den Taxifahrer bitten, sie in der Stadtmitte in der nächstbesten Tangobar abzusetzen. Dann würde sie alle dort auftauchenden Tanzgäste fragen, wo sie Damián finden könnte. Er war einer der bekanntesten Tänzer der Stadt. Er war ein Star. Mit Sicherheit wusste jemand, wo er wohnte. Im Ballett war das ja auch so. Jeder kannte jeden. Ballett war eine kleine Welt. Mit dem Tango wäre es nicht anders.

Dann würde sie seine Straße, sein Haus aufsuchen, die Treppe hinaufgehen bis vor seine Tür, sie würde klingeln, und er würde öffnen. Vielleicht würde er nicht öffnen. Vielleicht wäre er nicht da. Wer weiß? Möglicherweise hatte er eine Verabredung oder ein Probe irgendwo. Dann würde sie vor seiner Tür warten, oder eben auf der Treppe. Sie würde dort sitzen und sich nicht von der Stelle rühren, auf jedes Geräusch achten, das durch das Treppenhaus zu ihr hinauf käme. Sie würde sein Lieblingsparfüm aufgelegt haben, und der Duft würde ihr voraus- und ihm entgegeneilen. Noch bevor er sie sehen würde, wüsste er bereits, dass sie gekommen war, dass sie auf ihn wartete, dass sie um die halbe Welt gereist war, damit er sie in seine Arme nahm, ganz egal, was in Berlin geschehen war, denn was zuvor geschehen war, war so viel wichtiger, so viel einmaliger, so viel unerhörter, dass dieser seltsame Vorfall gar keinen wirklichen Einfluss darauf haben konnte.

Tränen schossen ihr in die Augen, und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie durfte jetzt nicht daran denken, wie es wäre, ihn wieder zu sehen. Zwölf Stunden Flug. Dann möglicherweise ein ganzer Tag, bis sie ihn gefunden hatte. Und wenn sie ihn nicht fand? Er war nach Buenos Aires geflogen. Die Polizei hatte dies festgestellt. Aber war er auch dort geblieben? Er war vorgestern dort angekommen, am Donnerstagmorgen. Sie würde erst am Sonntag eintreffen. Drei Tage später. Nein, er wäre sicher noch in der Stadt. Er musste in der Stadt sein. Wo sollte er denn hingehen? Giulietta wusste, dass es Dutzende von Möglichkeiten gab. Aber was auch immer geschah, sie würde bleiben, bis sie ihn gefunden hätte.

Sie erhob sich und ging in den Toilettenraum. Sie schaute ihr Gesicht kaum an, als sie vor den Spiegel trat, wusch es nur mehrmals mit kaltem Wasser ab und ließ die Tropfen einfach herunterrollen. So sah man wenigstens nicht, dass sie noch immer weinte. Erst nach einigen weiteren Minuten war der Anfall plötzlich vorüber. Sie putzte sich die Nase, rieb sich das Gesicht trocken, noch immer bemüht, sich so wenig wie möglich zu betrachten. Denn alles, was sie dort sah, tat ihr weh. Weil er jeder Einzelheit ihres Gesichtes eine eigene Liebeserklärung gemacht hatte. Ihre unteren Augenlider hatten ihn fasziniert, weil sie waagrecht waren. Das sei sehr selten, hatte er gesagt.

Selbst ihr eigenes Gesicht erinnerte sie nur an ihn.

Sie schulterte ihre Reisetasche und begab sich auf einen Rundgang durch die Abfertigungshalle. Bilder der letzten zwei Tage schossen ihr durch den Kopf. Das Gespräch mit Frau Ballestieri, der Ballett-Direktorin der Staatsoper, am Donnerstagabend nach den Proben. Der eisige Blick, als Giulietta ihr Anliegen vorgetragen hatte. Eine Hospitantin, die um Urlaub bat? Nach so kurzer Zeit im Ensemble? Ausgerechnet jetzt, mitten in der Spielzeit? Wo gab es denn so etwas? Sie könnte sich ja gerne wieder abmelden. Es gäbe genügend Tänzerinnen, die von ihrer Stelle träumten. Giulietta hatte erst ein wenig gelogen, etwas von einer Verletzung gestammelt, aber die Frau hatte sofort gemerkt, dass ihre Geschichte nicht stimmte. Dann hatte sie die Wahrheit erzählt. Die Wahrheit? Giulietta wusste nicht, was sich in Wahrheit zwischen Damián und ihrem Vater abgespielt hatte. Und wie sollte sie dieser Frau erklären, was geschehen war? Sie versuchte es, bruchstückhaft. Die Frau hörte ihr zu und stellte ein paar Verständnisfragen, die Giulietta nicht beantworten konnte. Giulietta versuchte, ihr klarzumachen, dass es keine unglücklich verlaufene Liebesgeschichte war, die sie veranlasste, alles stehen und liegen zu lassen, sondern dass sie das Gefühl hatte, von ihren sämtlichen Sinnen betrogen zu werden. Ihre Welt war völlig aus dem Lot. Sie musste das Vertrauen in ihre Sinne zurückgewinnen dürfen. Entweder war die Welt verrückt geworden oder sie.

Frau Ballestieri hatte sie streng zurechtgewiesen. Ein Ballett-Ensemble sei wie ein Körper, den man nicht so einfach verlassen konnte. Ein Corps de Ballet. Was sie zu tun im Begriff sei, könnte ihre Karriere ruinieren, noch bevor sie überhaupt begonnen hatte....

Erscheint lt. Verlag 2.5.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Almagro • Argentinien • Balletttänzerin • Berlin • Berliner Staatsoper • Braunschweig • Buenos Aires • Calle • Damián • Damián Alsina • Damián Nieves • ESMA • Fernando Alsina • Giulietta Battin • Giulietta Nieves • Kannenberg • Markus Battin • Roman • Tango
ISBN-10 3-426-41670-0 / 3426416700
ISBN-13 978-3-426-41670-9 / 9783426416709
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