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Weit übers Meer (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2011 | 1. Auflage
336 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-41099-1 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
7,99 inkl. MwSt
(CHF 7,80)
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Zeit für Gefühle Antwerpen, am Abend des 23. Juli 1904. Eine Frau von nicht einmal dreißig Jahren geht - nur mit einem langen weißen Abendkleid und ein paar Diamant-Ohrringen bekleidet - an Bord eines Überseedampfers. Sie hat kein Gepäck, keinen Pass, kein Geld und keine Papiere. Am nächten Morgen meldet sie sich als Blinde Passagierin beim Kapitän. Wer ist diese Frau? Welches Geheimnis verbirgt sie? Neun Tage ist das Schiff unterwegs nach New York, und in dieser Zeit entfaltet sich unter den Passagieren der Ersten Klasse ein subtiles Drama, vom dem am Ende keiner ganz unberührt bleibt ... 

Dörthe Binkert, geboren in Hagen/Westfalen, wuchs in Frankfurt am Main auf und studierte dort Germanistik, Kunstgeschichte und Politik. Nach ihrer Promotion hat sie viele Jahre für große deutsche Publikumsverlage gearbeitet. Seit 2007 ist sie freie Autorin und lebt in Zürich. 

Dörthe Binkert, geboren in Hagen/Westfalen, wuchs in Frankfurt am Main auf und studierte dort Germanistik, Kunstgeschichte und Politik. Nach ihrer Promotion hat sie viele Jahre für große deutsche Publikumsverlage gearbeitet. Seit 2007 ist sie freie Autorin und lebt in Zürich. 

Eine Nacht an Deck


Henri Sauvignac hatte seine Kabine auf der ›Kroonland‹ schon vor Stunden bezogen. Jetzt lehnte er an der oberen Reling und schaute aus ungewohnter Perspektive dem Treiben im Hafen zu. Er mochte den fettigen, metallischen Geruch des Maschinenöls, den bitteren Geschmack der Kohle, der sich, mit winzigen Rußpartikeln durch die Nase geschleust, auf die Zunge legte, das Quietschen der Ladekräne, die über die Schienen holperten, den Anblick der schweren Pferdeleiber, die die Lastkarren zogen, das Gedränge der Menschen.

Seit seiner Kindheit liebte Henri den Hafen, dieses nie ermüdende Herz Antwerpens, versorgt und angetrieben vom Fluss, der Schelde, die Menschen und Waren aus fernen Ländern heranbrachte und auf Segelschiffen – und neuerdings Dampfschiffen – wieder davontrug. Als junger Mann war er oft nachts zum Fluss gegangen, zum Steen, zum Jordaens- und zum Rheinkai. Nachts entzündeten die Hafenarbeiter in Fässern Petroleumfeuer. Ihr Schein erleuchtete flackernd den Kai, ein Höllenfeuer, das Licht und Schatten über seine Sklaven warf und erst mit dem Tageslicht verlöschte, wenn die Nachtschicht endete. Am Morgen saßen die Matrosen, wenn sie aus den Bordellen kamen, in den Hafenkneipen, und diejenigen Arbeiter, die Schichtwechsel hatten und es sich leisten konnten, setzten sich dazu und ließen sich Kaffee, Bier und Schnaps bringen.

Die Ozeandampfer der Red Star Line kamen montags an und legten samstags wieder ab, pünktlich wie die Eisenbahn. Es wurde rund um die Uhr, Tag und Nacht, gearbeitet, um die Ladung zu löschen, Kohle, die mit der Eisenbahn bis zum Hafen geschafft wurde, in die Schiffsbäuche zu verfrachten, neue Ladung und all die Lebensmittel an Bord zu bringen, die das Küchenpersonal für die knapp neuntägige Überfahrt von Antwerpen nach New York oder Philadelphia brauchte.

Am frühen Morgen erklang das Geschrei der Fischweiber auf dem Markt, und der gutbürgerliche Gasthof »Zum Schweizerhof« der Witwe Goerg am Zand Nr. 22 servierte den bessergestellten Reisenden das Frühstück. Auch Henri war ab und zu hier eingekehrt. Die meisten Auswanderer allerdings, die, den Schienenwegen der Eisenbahn folgend, schon in Russland oder Polen ihre Reise angetreten hatten, stiegen nicht hier oder in Francis de Meyers »Boarding House« oder gar im Hotel »Skandinavia« ab, sondern in den düsteren Pensionen, die keine aufwändige Werbung für ihre Zimmer und ihr Essen, sondern höchstens für den Besitz von Desinfektionsapparaten machten.

Die Ströme der Auswanderer, die hochmoderne belgische Eisenbahn und die siebenundzwanzig Schiffahrtsgesellschaften, die es in Antwerpen gab, machten die Stadt reich, die Henri so oft aus ihren nächtlichen Träumen hatte erwachen sehen.

 

Eine Pferdedroschke, die nicht weit von der ›Kroonland‹ entfernt im Gewühl stecken blieb, riss Henri aus seinen Gedanken. Zu seinem Erstaunen entstieg dem Wagen – nicht in einem Reisekostüm und männlicher Begleitung, wie zu erwarten gewesen wäre, sondern allein – eine Dame in einem weißen Abendkleid. Gebannt starrte er auf die sonderbare Erscheinung – ein fremder, weißer Fleck in der Menge. Henri musste an den Tod denken, an das alte Bild vom Tod in Gestalt einer Braut. Er erschrak über seinen Gedanken, und doch war es, als ob sich eine Kühle und Stille um die Gestalt ausbreitete, bis ein junger Mann, fast noch ein Knabe, sich aus der Menge löste und der Frau den Weg zum Schiff bahnte. Bevor sie die Gangway betrat, blieb sie vor dem Jungen stehen. Henri konnte die Gesichter der beiden nicht erkennen, bemerkte aber, dass sie einen Ring von ihrer Hand streifte und ihn dem Jungen gab. Es lag etwas Traumwandlerisches über der Szene, und Henri griff sich an die Stirn, als habe er das Trugbild einer Fata Morgana gesehen. Dann verschwand die Frau am Arm eines Schiffsoffiziers im Innern des Rumpfes. Der Junge hatte sich in der Menge verloren.

Henri schätzte die Frau auf etwa Mitte zwanzig. Sie war schlank und auffallend groß. Die Fremde hatte etwas, was ihn anrührte, ohne dass er ein Wort mit ihr gesprochen hatte. Aber er gab ohnehin nicht viel auf Worte. Er war Bildhauer und verließ sich lieber auf seine Augen und seine Hände und das, was ein Körper ihm instinktiv zu verstehen gab: Der Körper der Frau schien zu schlafen. Sie trug ein enges Korsett, das ihre Taille zerbrechlich und kindlich aussehen ließ. Aber ihr Körper war nicht zerbrechlich, er war nur taub. Eingesperrt.

Henri rief sich zur Ordnung. Mein Gott, hör auf zu spekulieren! Sie wird neun Tage lang mit dir auf diesem Schiff sein 

Ihre Wege würden sich kreuzen. Unweigerlich. Und Henri Sauvignac war ein geduldiger Mensch. Wer mit Stein arbeitet, darf es nicht eilig haben.

 

Die meisten Passagiere harrten geduldig an Deck aus, warteten, dass die Gangway eingezogen wurde, sich die Ketten und Trosse schlitternd, rasselnd von den Pollern lösten.

Das Lotsenboot jedenfalls war bereit.

Nicht weit von Henri entfernt saß ein junges Mädchen in einem Rollstuhl, der so nahe wie möglich an die Reling geschoben worden war. Das Mädchen konnte kaum über die Brüstung sehen und versuchte, sich immer wieder so gerade wie möglich aufzurichten. Sie hatte lange dunkelbraune Haare, die im Nacken mit einer breiten grünen Samtschleife zusammengebunden waren. Die Hände lagen brav in ihrem Schoß, aber man sah, sie hätte sich für ihr Leben gern über die Reling des haushohen Schiffs gebeugt, um hinunterzusehen und zu prüfen, ob ihr wohl schwindlig würde. Ungeduldig zupfte sie an ihrem Pony. Ein Mann im Abendanzug beugte sich über sie, und Henri hörte ihn sagen:

»Lily! Mama möchte nicht länger auf dich warten. Und sie möchte, dass du dich für das Abendessen umziehst.«

»Ach bitte, Papa! Schau, sie ziehen die Gangway ein, hörst du die Maschinen? Wir legen schon ab …«

Tatsächlich erklang das Schiffshorn, ein wehmütig heiserer Ton, der sich in der Luft verlor und die Seelen mitzog wie Sirenengesang.

»Jetzt fahren wir, siehst du, wir fahren!«, rief das Mädchen und ruckelte unruhig in ihrem Rollstuhl hin und her. »Ich muss doch winken. Ich fahre doch nach Amerika!«

Die Kleine gefiel Henri. Wahrscheinlich hatte sie Polio gehabt, ihr langer Rock mit dem grünen und blauen Rautenmuster verdeckte ihre Beine, die dünn wie Stöcke aussahen, weil keine Muskeln da waren.

Das Schiff lag jetzt in Fahrtrichtung draußen im Strom und nahm rasch Geschwindigkeit auf. Die Menschen, die am Kai zurückgeblieben waren, verwandelten sich in dunkle und helle Flecke wie auf den Bildern der modernen impressionistischen Maler und verschwammen im Abendlicht. Die Wellenbewegung der winkenden Hände verebbte.

Das Mädchen, das Lily hieß, bemerkte, dass Henri sie betrachtete. Sie schien verunsichert, ein bisschen verärgert darüber, dass sie beobachtet wurde, und errötete leicht. Sie war offensichtlich kein Kind mehr.

Henri lächelte zu ihr hinüber. Sie reagierte nicht, sondern sagte nur zu dem Mann, der neben ihrem Rollstuhl stand: »Gut, Papa. Fahr mich zur Kabine. Das Schiffszimmermädchen soll mir beim Umziehen helfen.« Ihr Vater löste die Blockierung des Rollstuhls und schob sie weg. Zwei Schiffsjungen eilten herbei – natürlich: die Treppen!

Lily sah zu dem lächelnden Fremden herüber, als sie weggerollt wurde. Ihr Blick hatte durchaus etwas Herausforderndes. Lily gefiel Henri. Sie gefiel ihm wirklich.

 

Für Henri Sauvignac war New York nur eine Zwischenstation; er wollte weiter zur Weltausstellung in St. Louis, wo einige seiner Skulpturen im belgischen Pavillon ausgestellt werden sollten. Die belgische Regierung bezahlte ihm die Reise, und da das Land stolz auf sich war, bezahlte man ihm eine Überfahrt Erster Klasse, obwohl sich Henri nicht für einen Menschen hielt, der dort am richtigen Platz war. Dafür erwartete man von ihm, dass er sich selbst als belgischer Botschafter in Angelegenheiten der Kunst verstand – auch dies eine Rolle, die Henri unbehaglich war. Die passende Garderobe hatte er sich ausleihen müssen, denn er besaß nicht genügend Anzüge und vor allem nicht die, die man hier an Bord in der Ersten Klasse brauchte. Immerhin hatte es ihm Spaß gemacht, seine Englischkenntnisse aufzufrischen, wenn er schon nach Amerika reiste.

»Zum Abendessen werde ich mich wohl umziehen müssen. Nicht anders als die kleine Lily«, seufzte er und wandte sich zum Gehen.

 

Die Dame im weißen Abendkleid musste schon eine Weile hinter ihm gestanden haben. Henri war sich aber nicht sicher, ob sie ihn wahrnahm, als sie sich nun gegenüberstanden. Ihr Ausdruck hatte etwas Abwesendes, als sehe sie durch ihr Gegenüber hindurch. Aber sie wendete sich auch nicht ab. Bernstein, dachte er, ihre Augen haben eine Farbe wie Bernstein.

 

Die Kabinen der Ersten Klasse lagen – über mehrere Stockwerke verteilt – im Zentrum des Schiffes, weil die Schlingerbewegungen hier am wenigsten zu spüren waren. Henri hatte nur einen großen Kabinenkoffer dabei und eine Reisetasche, die er bereits ausgepackt hatte. Trotzdem stieß er bei jeder Bewegung mit den Ellbogen an. Eigentlich waren die Kabinen komfortabel ausgestattet, mit Waschbecken und elektrischem Licht, aber Henri war daran gewöhnt, sich in einem großen, kühlen Atelier zu bewegen. Er fühlte sich beengt an diesem Ort, der ihm wie eine Puppenstube für kleine Mädchen vorkam. Er rasierte sich, kleidete sich um und fand, dass die schwarzen Abendschuhe aus Lack lächerlich an ihm aussahen.

 

Von verschiedenen Seiten trafen die Passagiere im weitläufigen holzgetäfelten Vestibül...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2011
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Atlantik • Atlantiküberfahrt • Auswanderer • Blinder Passagier • eBook • Ellis Island • Familiendrama • Frauenschicksal • Frauenunterhaltung • Gesellschaftsroman • historischer Frauenroman • Historischer Liebesroman • Historischer Roman • Kroonland • Liebe • Liebesroman • Ozeandampfer • Passagierschiff • Schicksalsroman • Überseedampfer • Unterhaltung
ISBN-10 3-423-41099-X / 342341099X
ISBN-13 978-3-423-41099-1 / 9783423410991
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