Nicht schuldig! (eBook)
416 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-41417-0 (ISBN)
Jens Söring, geboren 1966 in Bangkok, war von 1986 bis 2019 wegen eines Doppelmordes in Virginia (USA) inhaftiert. Angeblich soll er die Eltern seiner damaligen Freundin Elizabeth Haysom getötet haben. Während seiner Haft wurde er Schriftsteller und für seine Bücher mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Mehr Informationen unter www.jenssoering.de. 2016 kommt der Dokumentarfilm 'Das Versprechen. Die wahre Geschichte von Jens Söring und Elizabeth Haysom' in die deutschen Kinos. Im November 2019 wurde Jens Söring freigelassen und konnte nach Deutschland zurückkehren.
Jens Söring, geboren 1966 in Bangkok, war von 1986 bis 2019 wegen eines Doppelmordes in Virginia (USA) inhaftiert. Angeblich soll er die Eltern seiner damaligen Freundin Elizabeth Haysom getötet haben. Während seiner Haft wurde er Schriftsteller und für seine Bücher mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Mehr Informationen unter www.jenssoering.de. 2016 kommt der Dokumentarfilm "Das Versprechen. Die wahre Geschichte von Jens Söring und Elizabeth Haysom" in die deutschen Kinos. Im November 2019 wurde Jens Söring freigelassen und konnte nach Deutschland zurückkehren. Ulrike Strerath-Bolz übersetzt seit mehr als 30 Jahren Sachbücher und Romane aus dem Englischen, Französischen und den skandinavischen Sprachen. Zu Autor*innen gehören u. a. Richard Rohr, Terry Eagleton und Mike Wiking, aber auch Barbara Erskine und Mary Higgins Clark.
1
Selbst heute, nach so langer Zeit, muss ich immer noch an den Abend denken, an dem ich Elizabeth Roxanne Haysom zum ersten Mal sah. Ich wälze die Erinnerungen hin und her – nach mehr als sechsundzwanzig Jahren im Gefängnis ist mir ja nicht mehr viel geblieben außer ein paar Erinnerungen. Jeden Morgen, wenn ich die Augen aufschlage und die dicken Gitterstäbe vor meinem Fenster sehe, muss ich an jenen Abend Ende August 1984 denken: den Abend, an dem mein Absturz begann.
Komischerweise – traurigerweise – habe ich vor kurzem erfahren, dass dieser letzte Satz gar nicht der Wahrheit entspricht. Denn die Geschichte hat nicht erst an jenem Abend begonnen, als ich Elizabeth zum ersten Mal sah. Nach fast einem Vierteljahrhundert hinter Gittern, nachdem neue DNA-Tests durchgeführt wurden und sogar ein neuer Zeuge aufgetaucht ist – nachdem jetzt alles darauf hindeutet, dass Elizabeth einen Komplizen für den Doppelmord an ihren Eltern hatte –, weiß ich, dass die Geschichte schon früher begonnen haben muss. Seit meinem Prozess vor zweiundzwanzig Jahren hatte ich diesen Verdacht. Aber jetzt weiß ich es sicher; und wahrscheinlich kannte Elizabeth diesen Komplizen schon, bevor wir uns zum ersten Mal trafen.
Diese Geschichte beginnt also ganz und gar nicht an jenem Abend, sondern irgendwann davor, als sie sich mit diesem Komplizen zusammentat. Nach allem, was ich heute weiß, hatten sie den Mord möglicherweise bereits geplant und suchten nur noch nach einem Sündenbock, der einfältig genug war. Und dann tauchte ich auf. Vielleicht war es auch andersherum, und der glückliche Zufall, auf jemanden zu stoßen, der so unglaublich naiv war wie ich, brachte die beiden auf die Idee, den Mord zu planen. Wie es genau abgelaufen ist, werde ich wohl nie erfahren.
Insofern ist der Wendepunkt meines Lebens, der Abend, an dem ich Elizabeth kennenlernte, heute mehr denn je ein Rätsel für mich. Meine eigenen Erinnerungen, die ich immer wieder durchsiebe und nach Hinweisen durchforste, können mir meine dringendste Frage nicht beantworten: Wer hat Elizabeth bei dem Mord an ihren Eltern geholfen?
Aber auch wenn meine Erinnerungen mir an diesem Punkt nicht weiterhelfen können, beantworten sie doch die meisten anderen Fragen. Seit mehr als sechsundzwanzig Jahren ringe ich mit meiner Vergangenheit, versuche ich zu verstehen, was damals passiert ist, jedenfalls aus meiner und natürlich auch aus Elizabeths Perspektive. In diesem Buch habe ich alles zu Papier gebracht, was ich in dem jahrzehntelangen Kampf mit mir selbst und meiner Erinnerung gelernt habe. In der Hoffnung, durch das Schreiben endlich den Sinn hinter alldem zu finden. Und wenn es sonst nichts nützen sollte, so sind es die neuen DNA-Tests und der neue Zeuge doch wert, noch einmal einen Blick auf meine Vergangenheit zu werfen. Auf diese Geschichte, die an einem späten Abend im August 1984 beginnt.
Über meinem ersten Tag an der University of Virginia brach der Abend herein. Auf dem ganzen Campus, in den alten und neuen Wohnheimen, schien die Luft von dieser erregenden Mischung aus Freude und Beklommenheit zu vibrieren, die wohl alle Studienanfänger bei ihrer Ankunft im College erfüllt. Ein paar Stunden zuvor hatten unsere Mütter ein paar Tränen vergossen, während sie uns beim Auspacken halfen. Unsere Väter hatten uns lange Listen mit Notfall-Telefonnummern überreicht, und wir hatten unsere Eltern mehr oder weniger sanft zu ihren großen Autos geschoben und ihnen nachgewinkt. Jetzt waren wir frei. Endlich frei! Doch wir fragten uns die ganze Zeit nur, ob wir mit der Verantwortung dieses neuen Lebens als unabhängige Erwachsene tatsächlich zurechtkommen würden. Oder würden wir an kalter Pizza und endlosen Nächten mit den Plattensammlungen unserer Zimmergenossen zugrunde gehen?
Ein seltsamer Gedanke, wenn ich nach so langer Zeit darauf zurückblicke: 1984 hatten wir wirklich nur LPs. Keine CDs, keine MP3-Player, kein Internet, keine Handys. Ronald W. Reagan absolvierte seine erste Amtszeit als Präsident der USA, und in meinem Heimatland Deutschland war Helmut Kohl vor zwei Jahren Bundeskanzler geworden. Tatsächlich handelte es sich noch um zwei Länder: die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik.
Aber auch in jenen längst vergangenen Zeiten brauchten frischgebackene Studenten Anleitung und Bestärkung, und deshalb gab es für alle Studienanfänger an diesem Abend Orientierungsvorträge. Die etwa zweihundert Hochbegabten, auch Echols Scholars genannt, die im Watson-Wohnheim untergebracht waren, wurden in die Webb Lounge geladen, einen Saal im Untergeschoss des neuen Wohnheims gleich neben unserem. Begleitet von Freiwilligen aus dem dritten oder vierten Studienjahr, strömten wir in den langgestreckten Raum mit der niedrigen Decke: eine kompakte, summende Masse aus zerfaserten Nerven und gezwungenem Lächeln. So viele Gesichter, Dutzende und Aberdutzende, und kein einziges bekanntes darunter!
Nein, gar nicht wahr: Das chinesisch-amerikanische Mädchen da drüben in der Ecke kannte ich, das war Karen Wong. Vor fünf Monaten hatte ich sie bei dem Wettbewerb um die Jefferson-Stipendien kennengelernt. Jetzt ging ich zu ihr, stellte mich noch einmal vor und gratulierte ihr, dass sie wie ich eines dieser sechzehn Stipendien ergattert hatte. Karen war allerdings gar nicht so glücklich, mich wiederzusehen, denn im Gegensatz zu mir hatte sie das Stipendium eben nicht bekommen, sondern sich als ganz normale Hochbegabte an der University of Virginia eingeschrieben.
Da ihr verständlicherweise der Sinn eher nach einem Gesprächspartner stand, der sie nicht an ihr Scheitern erinnerte, reichte sie mich ziemlich rasch an ihre Zimmergenossin weiter, Liz Haysom. Diese hatte ebenfalls ein Stipendium bekommen, wie mir Karen mit spitzem Mündchen mitteilte, und zwar eines für die Universität Cambridge – in England. Wir wussten alle drei, dass der Ruf von Cambridge dem der University of Virginia haushoch überlegen war. Snobs erkennen sich überall auf der Welt.
Mit angemessener Zerknirschung, nachdem ich Karen unabsichtlich beleidigt hatte, wandte ich mich ihrer Zimmergenossin zu. Elizabeth sah nicht besonders attraktiv aus; sie war blass und mager und trug eine violette Jeans und ein T-Shirt, das wohl weiß gewesen wäre, wenn sie es häufiger gewaschen hätte. Aber der zweifelhafte Eindruck, den ihre äußere Erscheinung hinterließ, wurde von ihrem Benehmen bald in den Hintergrund gedrängt. Sie stand im rechten Winkel zu Karen und mir und warf mir einen scharfen Seitenblick zu. Zu jemandem, der ein so minderwertiges Stipendium sein Eigen nannte, wollte sie offenbar nicht aufblicken. Dann wandten sich ihre graublaugrünen Augen unter den kurzen, ungekämmten, schmutzig blonden Ponyfransen wieder der Menge zu, so dass sie jeden Einzelnen kühl mustern konnte. Liz hatte ein Bein ein wenig weggestreckt; die eine Hand auf der Hüfte, und mit der anderen Hand führte sie langsam eine Zigarette zum Mund und nahm einen langen Zug, der die Sucht verriet.
»Ja«, brummelte sie in ihrem sauberen britischen Englisch. Ja, sie hatte ein Stipendium für Cambridge bekommen. Aber sie hatte es sausen lassen. Es waren da ein paar Sachen passiert …
Nur wenige hätten aus diesem Auftritt einen Erfolg machen können, aber Elizabeth schaffte es. Ihr Geheimnis bestand wohl in der seltsamen Mischung aus Unschuld und Wissen. Der gelangweilte Blick, den sie aufsetzte, als sie den Rauch durch die Nasenlöcher blies, sollte uns daran erinnern, dass sie Erfahrung hatte, während wir einfach nur unwissende Milchgesichter waren, vollkommen austauschbar in unserer eifrigen Naivität.
Und doch hatte Liz’ Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der Stupsnase sich eine ganz eigene kindliche Weichheit bewahrt. Das hartgesottene Gehabe war nicht nur vorgetäuscht, aber sie musste sich Mühe geben, es aufrechtzuerhalten, und manchmal, wenn wir abgelenkt waren, warf sie uns schnelle Blicke zu, um unsere Reaktionen abzulesen. Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen, denn sie besaß wie eine große Schauspielerin die Gabe, ihr Publikum so sehr zu fesseln, dass es sie anfeuerte und ihren Erfolg ebenso sehr ersehnte wie sie selbst.
Aber bevor sie uns weiter beeindrucken und unterhalten konnte, trat der erste aus einer ganzen Schar von Professoren ans Mikrofon am anderen Ende des Saals. Er hustete und räusperte sich so lange, bis wir endlich zur Ruhe kamen, und machte sich dann gemeinsam mit seinen Kollegen daran, uns in jene vertraute Trance zu versetzen, die alle Teenager überkommt, wenn man sie dazu zwingt, sich einen Vortrag über »die Verantwortung als Vorbilder für alle Studenten und die Herausforderungen und Risiken der Unabhängigkeit« anzuhören. Ich erinnere mich eigentlich nur noch an die heiligste Regel, die auf diesem Campus galt: Erstsemester werden niemals als Erstsemester bezeichnet, sondern immer als »Studenten im ersten Studienjahr«. Durchaus möglich, dass auch erwähnt wurde, dass sich eine künftige Doppelmörderin und ihr Komplize in diesem Saal befanden und dass wir bei der Wahl unserer Freunde entsprechende Vorsicht walten lassen sollten. Aber wenn eine solche Warnung tatsächlich ausgesprochen wurde, habe ich sie leider verpasst.
Nachdem die Professoren ihre Reden gehalten hatten, strömten wir zurück zum Watson-Wohnheim und versuchten, die Schläfrigkeit abzuschütteln. Ich glaube, es war Elizabeth, die vorschlug, wir könnten doch in einer kleinen Gruppe auf den Observatoriumshügel hinter dem Wohnheim steigen. Obwohl diese Nacht mein Leben vollkommen verändern sollte, kann ich mich nur an eine...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2012 |
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Übersetzer | Dr. Ulrike Strerath-Bolz |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Amnestie • Doppelmord • Erfahrungen und Schicksale • Erfahrungen und wahre Geschichten • Erfahrungsbericht • falsches Geständnis • Freiheitsstrafe • Gefängnis • Gericht • Justizirrtum • Manipulation • Memoir • Todesstrafe • Todesurteil • Todeszelle • Unschuldig • unschuldig verurteilt • Urteil • USA • USA Gefängnis • Verbrechen • Wahre GEschichte |
ISBN-10 | 3-426-41417-1 / 3426414171 |
ISBN-13 | 978-3-426-41417-0 / 9783426414170 |
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