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Hannas Töchter (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2011 | 1. Auflage
384 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401383-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hannas Töchter -  Marianne Fredriksson
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»Hannas Töchter« - drei Generationen in hundert Jahren schwedischer Geschichte Als Anna ihre fast 90-jährige Mutter Johanna besucht, ist diese nicht mehr ansprechbar. Dabei hat Anna noch so viele Fragen über das Leben ihrer Mutter Johanna und ihrer Großmutter Hanna. Wie ist es gewesen vor fast hundert Jahren auf dem Land, als Hanna mit ihrem unehelichen Sohn Ragnar den Müller Broman heiratete? Wie hat sich ihre Mutter gefühlt, als der Vater starb, und warum hat sie niemals rebelliert gegen ihr tristes Hausfrauendasein? Anna begibt sich allein auf die Reise, das Leben ihrer Vorfahren zu entdecken - und findet dabei zu sich selbst. Ein spannendes Buch über die Liebe, in dem Marianne Fredriksson die Lebenslinien dreier Frauen durch hundert Jahre schwedische Geschichte nachzeichnet. 'Eine der großen schwedischen Erzählerinnen der Gegenwart.' Der Spiegel

Marianne Fredriksson wurde 1927 in Göteborg geboren. Als Journalistin arbeitete sie lange für bekannte schwedische Zeitungen und Zeitschriften. Im Jahre 1980 veröffentlichte sie ihr erstes Buch. Sämtliche Romane der Autorin wurden in Deutschland große Bestsellererfolge. Die Autorin starb am 12. Februar 2007.

Marianne Fredriksson wurde 1927 in Göteborg geboren. Als Journalistin arbeitete sie lange für bekannte schwedische Zeitungen und Zeitschriften. Im Jahre 1980 veröffentlichte sie ihr erstes Buch. Sämtliche Romane der Autorin wurden in Deutschland große Bestsellererfolge. Die Autorin starb am 12. Februar 2007.

Anna verbrachte eine Nacht mit wirren und klärenden Gedanken. Sie begannen mit den Gefühlen, die in ihr erwacht waren, als Schwester Märta sie nach ihren eigenen Kindern gefragt hatte: Zärtlichkeit und Unzulänglichkeit. So war es bei ihr immer gewesen, wenn ihre Gefühle stark waren, verlor sie selbst an Kraft.

Erst gegen drei Uhr war sie eingeschlafen. Sie hatte geträumt. Von Mama. Und der Mühle und dem Wildbach, der sich hinab in den lichten See stürzte. Im Traum war das große Gewässer still und blank gewesen.

Der Traum hatte sie getröstet.

Herrgott, wie konnte Mama erzählen! Von den Elfen, die im Mondlicht über den See tanzten, und von der Hexe, die mit dem Schmied verheiratet war und Mensch und Tier um den Verstand zaubern konnte. Je älter Anna wurde, um so mehr wuchsen die Märchen zu langen Erzählungen über Leben und Tod der Menschen in diesem magischen Grenzland an. Als sie elf und auch immer kritischer wurde, hatte sie gemeint, alles sei erlogen und es gäbe das seltsame Land nur in der Phantasie ihrer Mutter.

Später, als sie schon erwachsen war und einen Führerschein besaß, hatte sie die Mutter ins Auto gesetzt und sie heim an den Wildbach am langen See gebracht. Es waren dorthin nur 240 Kilometer. Sie konnte sich noch erinnern, wie zornig sie auf Papa gewesen war, als sie die Entfernung auf der Landkarte ermittelt hatte. Er besaß schon viele Jahre ein Auto und hätte wirklich die Strecke in wenigen Stunden mit Johanna und seiner Tochter fahren können, die so viel von diesem Land ihrer Kindheit erzählt bekommen hatte. Wenn er nur den Willen gehabt hätte. Und die Einsicht.

Aber als sie und die Mutter das Ziel an diesem sonnigen Sommertag vor dreißig Jahren erreichten, war der Zorn verraucht. In feierlicher Stimmung und voller Staunen stand sie dort und sah: tatsächlich, hier lag es, das Land der Märchen, das Land mit dem langgestreckten See tief unten, mit dem Wildbach und seinem Gefälle von gut zwanzig Metern und den stillen Norwegerseen oben in den Bergen.

Die Mühle war niedergerissen, ein Kraftwerk erbaut und wieder eingestellt worden, als der Atomstrom kam. Aber das schöne rote Holzhaus stand noch, seit langem der Sommersitz eines Unbekannten.

Der Augenblick war zu groß für Worte, also hatten sie nicht viel gesprochen. Mama hatte geweint und sich dafür entschuldigt: »Ich bin so dumm.« Erst als sie den Eßkorb aus dem Wagen geholt und sich mit Kaffee und belegten Broten auf einem flachen Felsen am See niedergelassen hatten, waren die Worte gekommen und genauso wie damals, als Anna klein gewesen war. Ihre Mutter hatte die Geschichte vom Krieg gewählt, der nie zustandegekommen war:

»Ich war ja erst drei, als die Unionskrise begann und wir in die Höhle übergesiedelt sind. Dort drüben, hinter der Landzunge. Vielleicht glaub ich mich daran zu erinnern, weil ich die Geschichte, während ich heranwuchs, viele Male hab erzählen hören. Aber ich hab die Bilder so deutlich vor mir. Ragnar ist heimgekommen, stand so prächtig dort in seiner blauen Uniform mit den glänzenden Knöpfen und verkündete, daß es Krieg geben werde. Zwischen uns und den Norwegern!«

Das Staunen war ihrer Stimme immer noch anzuhören, das Erstaunen des Kindes vor dem Unbegreiflichen. Die Dreijährige hatte wie alle Grenzbewohner Verwandte jenseits der Norwegerseen, wo Mutters Schwester mit einem Fischhändler in Fredrikshald verheiratet war. Die Kusinen hatten viele Sommer im Müllerhaus verbracht, und selbst war sie einen knappen Monat zuvor mit der Mutter zu Besuch in die Stadt mit der großen Festung gefahren. Sie konnte sich erinnern, wie der Fischhändler roch und was er gesagt hatte, als er die Festungsmauern betrachtete.

»Dort haben wir ihn erschossen, den Sauschwed.«

»Wen?«

»Den Schwedenkönig.«

Das kleine Mädchen hatte Angst bekommen, aber die Tante war von sanfterer Art als die Mutter und hatte sie hochgehoben und getröstet: »Ist schon ganz lang her. Und die Leute früher hatten so wenig Verstand.«

Aber vielleicht gab es etwas in der Stimme des Onkels, das sich im Kopf festgesetzt hatte, denn eine Zeit nach dem Norwegenbesuch befragte das Kind seinen Vater. Er lachte und sagte im wesentlichen wie die Tante, daß das alles lange her war und die Leute sich damals noch von Königen und verrückten Offizieren herumkommandieren ließen.

»Aber es hat ja kein Norweger geschossen. Es war ein Schwede, ein unbekannter Held der Geschichte.«

Sie hatte das nicht verstanden, erinnerte sich aber der Worte. Und weit später, als sie in Göteborg zur Schule ging, hatte sie gedacht, er hat recht gehabt. Es war ein gesegneter Schuß gewesen, der Karl XII. ein Ende bereitet hatte.

Sie waren damals lange auf dem Felsen sitzen geblieben, Mama und Anna. Dann waren sie langsam auf dem Weg um die Bucht durch den Wald zur Schule gewandert, die noch stand, aber viel kleiner war, als Johanna sie in Erinnerung hatte. Mitten im Wald gab es einen Felsblock, den Riesenwurf, dachte Anna. Mama war eine ganze Weile vor dem Stein stehengeblieben, erstaunt: »Wie klein der ist.« Anna, die ihre Kindheitsberge selbst auch mit Magie aufgeladen hatte, mußte nicht darüber lachen.

 

Während des ganzen langen Samstags gelang es Anna, eine gute Tochter zu sein. Sie bereitete die Lieblingsspeisen ihres Vaters zu, lauschte ohne sichtbare Ungeduld seinen endlosen Geschichten, und fuhr ihn zum Steg, wo das Boot lag, saß fröstelnd dort, während er Fender und Verdecke überprüfte, den Motor zur Kontrolle laufen ließ und Eiderenten mit Brotbrocken fütterte.

»Wie wär's mit einer Runde?«

»Nein, es ist zu kalt. Und ich muß ja noch zu Mama fahren.«

Er schaute spöttisch. Anna hatte nie ein Segel setzen oder einen Außenbordmotor anlassen gelernt. Wohl weil er … aber es war besser, vorsichtig zu sein.

»Du«, sagte er. »Du hast dein Leben lang nichts anderes getan, als die Nase in Bücher gesteckt.«

Er hatte mit voller Absicht verletzen wollen, und es war ihm gelungen.

»Ich habe mich gut damit durchgebracht«, sagte sie.

»Geld«, sagte er, und jetzt troff ihm der Hohn geradezu aus den Mundwinkeln. »Geld ist hier in dieser Welt nicht alles.«

»Das ist wahr. Aber es bedeutet doch eine ganze Menge für dich, der du dich über die Pension beschwerst und jedes Öre zweimal umdrehst.«

Jetzt hat die gute Tochter die Maske fallen lassen, dachte sie, verdammte ihre Verletzlichkeit und sackte vor dem unausweichlichen Streit in sich zusammen. Aber der Vater war unberechenbar wie immer. Das ist es, was ihn so schwierig macht, dachte sie.

»Du wirst nie verstehen können wie es ist, hungrig und arm zu sein«, sagte er. »Ich habe schon früh lernen müssen, jedes einzelne Öre zu schätzen.«

Es gelang ihr, zu lächeln, zu sagen, ich hab ja nur Spaß gemacht, Väterchen. Und die Wolke zog vorüber, und sie half ihm an Land und ins Auto.

Er hat nur zwei Gefühle, Zorn und Sentimentalität, dachte sie. Ist das eine verpufft, ist Zeit für das andere. Da hielt sie sich wieder für ungerecht. Außerdem stimmte es ja, sie hatte nie gehungert.

Im Krankenhaus ging es heute auch besser. Anna tat, was sie mußte. Sie sprach mit der alten Frau wie mit einem Baby, hielt ihre Hand, fütterte sie zu Mittag: ein Löffel für Papa, ein Löffel für Mama. Mitten in dieser Leier hielt sie inne, schämte sich. Es war menschenunwürdig.

 

Die alte Frau schlief nach dem Essen ein, Anna blieb sitzen und betrachtete das ruhige Gesicht. Wenn sie schlief, sah sie fast aus wie früher, und Anna, hin- und hergerissen zwischen ihrer Zärtlichkeit und ihrem Unvermögen, ging für eine Weile auf die Terrasse, um zu rauchen.

Mit der Zigarette in der Hand versuchte sie über die schwierigen Seiten ihrer Mutter nachzudenken, ihre Selbstaufopferung und ihre Schuldgefühle. Eine Hausfrau mit nur einem Kind und jeder Menge Zeit, es zu verzärteln.

Es war albern, es half ihr nicht. Nichts tut so weh wie Liebe, dachte sie. Mein Fehler ist, daß ich zuviel davon abbekommen habe, darum kriege ich mich nicht in den Griff, weder was Mama noch was Rickard betrifft. Und überhaupt nie, wenn es um die eigenen Kinder geht.

Der Gedanke an ihre beiden Töchter tat ebenfalls weh. Ohne Grund, denn sie hatte keinen Grund, sich ihretwegen Sorgen zu machen. Auch sie hatten eine unzulängliche Mutter gehabt. Und nichts konnte ungeschehen gemacht werden.

Als sie wieder ins Krankenzimmer kam, wachte die Mutter auf, schaute sie an und versuchte zu lächeln. Es war nur ein Augenblick, vielleicht war es gar nicht geschehen. Dennoch war Anna so glücklich, als wäre sie einem Engel begegnet.

»Hallo, kleine Mama«, sagte sie. »Möchtest du wissen, was ich heute nacht geträumt habe? Ich habe vom Norskwasser geträumt, von allem, was du erzählt hast.«

Der Augenblick war schon lange vorbei, aber Anna sprach weiter, ruhig und in langen Sätzen. Wie man zu Erwachsenen spricht.

»Es hat mich daran erinnert, wie wir zum ersten Mal dort waren, du und ich. Du weißt es bestimmt noch, es war ein schöner Sommertag, und ich war ganz erstaunt darüber, daß alles so war, wie du erzählt hattest. Wir saßen auf dem großen Felsen unten am See, weißt du noch? Du hast von der Höhle erzählt, in die ihr geflüchtet wart, weil ihr dachtet, es kommt zum Krieg mit Norwegen, wie ihr dort gehaust habt und wie alle gefroren haben. Außer dir, denn du durftest in Papas Arm schlafen.«

Vielleicht war es ein Wunschdenken, aber Anna meinte zu sehen, daß Leben in das Gesicht der alten Frau kam, es wechselte zwischen Erstaunen und Freude.

Sie lächelte.

Ich war immerzu der Meinung, es ist nicht möglich, aber ich sehe ja, daß es möglich ist, halte es fest, Mama, halte es...

Erscheint lt. Verlag 14.6.2011
Übersetzer Senta Kapoun
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anna • drei Generationen • Frauen • Hanna • Johanna • Lebensgeschichte • Schweden • Valentinstag
ISBN-10 3-10-401383-7 / 3104013837
ISBN-13 978-3-10-401383-1 / 9783104013831
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