Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Mitte der Welt (eBook)

Erkundungen in Istanbul

(Autor)

eBook Download: EPUB
2011
224 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-05561-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mitte der Welt - Ursula Priess
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
(CHF 8,75)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Eine sehr persönliche Annäherung an die Stadt der Städte
Eine Frau ist in Istanbul auf der Suche nach der Mitte der Welt. Was sie findet, sind Geschichten von Menschen, die dort leben: von Alteingesessenen und Neuzugezogenen, von Pionieren, die vergangenen Zeiten nachtrauern, und Glückssuchern, die sich eine Zukunft erhoffen in der Stadt, wo das Gold angeblich auf der Straße liegt. Geschichten von Künstlern und Schriftstellern, von Gemüsehändlern und Antiquitätenverkäufern, von einem Gefängnisarzt, der Ulysses liest, von einem Professor, der gleichzeitig Vermieter ist, von einem Taxifahrer, der die falsche Partei wählt, von einer Fee, die einstmals vom Schwarzen Meer kam. Und vom Geliebten, der die Geliebte Granatapfelblüte nennt - und zum Ende hin fragt: Wirst du später einmal, wenn du über Istanbul schreibst, auch über uns und unsere Liebe schreiben? Und auch von jener Übersetzerin, die weiß: Wer über andere schreibt, sagt am meisten über sich selbst! Ein Buch über Istanbul, über das Schreiben und über die Liebe, »die eben doch sterblich ist; nur in der Erinnerung ewig - oder in Geschichten, falls sie gelingen«.

Ursula Priess, geboren 1943 in Zürich, Studium der Literaturwissenschaft. 1966 Wegzug aus der Schweiz, Ausbildung und Arbeit als Heilpädagogin in Schweden, Schottland, Süd- und Norddeutschland. Mitgründerin verschiedener Initiativen (u.a. heilpädagogische Schule in Kiel, sozial-therapeutische Lebens- & Werkgemeinschaft in Lahore/Pakistan). Mutter von vier Kindern. Mehrere Reisen in Europa, Indien und Pakistan, und in die Türkei, wo sie sich längere Zeit niederließ. Heute lebt sie in Norddeutschland und in Berlin.

DIE FEE VOM SCHWARZEN MEER


Warum erzählst du so etwas?, fragt Hatice empört.

Du meinst vom Taxifahrer?

Ja, damit schmierst du doch Butter aufs Brot von Erdoğans Partei!

Butter aufs Brot, der Ausdruck gefällt mir, sage ich, sehe aber, Hatice versucht, die ihr übers Gesicht flammende Empörung zu verbergen, indem sie das Kopftuch abnimmt, sich die Haare aus dem Gesicht streicht und es neu bindet unter ihrem dicken, braunen Zopf.

Jede Woche, wenn Hatice bei mir ist, um meine Wohnung zu putzen, sage ich gegen elf: Hatice meine Fee, jetzt trinken wir Tee!

Und jedes Mal sagt sie, zum Putzen sei sie gekommen, nicht zum Teetrinken.

Pause muss sein, Hatice, deine Arbeit ist schwer, und erst recht heute, bei der Hitze!

Aber, sagt sie dann, dass du, meine Patronin, mit mir sitzt und Tee trinkst – keine der Damen, bei denen ich geputzt habe, schon gar nicht die türkischen, hätte das je getan.

Komm, sage ich und lache ihr zu und mache jedes Mal wieder denselben Scherz: Sogar in deiner Pause benutze ich dich noch zum Türkischsprechen mit mir!

Dann lacht auch sie.

Ich verstehe nicht, dass wir dieses Ritual immer wieder durchspielen müssen. Und sie versteht nicht, obwohl sie oft über ihr Ehefrauen- und Mutterjoch stöhnt, dass ich allein hier lebe, ohne Mann und Kinder. Dass ich auch in Deutschland von dem Mann, der Vater meiner Kinder ist, getrennt bin, sage ich ihr nicht. Später vielleicht werde ich es ihr sagen, wenn ich sicher bin, dass sie mich nicht mehr nur als Europäerin sieht.

Einmal erzählte Hatice, dass sie bei einer Französin geputzt habe, von der sie nicht wisse, was die in Istanbul mache. Dabei schaute sie mich an, nahm einen mit zuckersüßem Mandelmus gefüllten Blätterteigkringel, trank einen Schluck Tee hinterher und sagte dann: Aber Männerbesuch hatte sie! Als ich auf dieses Stichwort nicht reagierte, schüttelte Hatice den Kopf, schnalzte mit der Zunge: Eine schlechte Frau! Zu der gehe sie nicht mehr hin. Ömer, ihr Mann, habe es verboten. Und als ich dazu weiter schwieg, sagte sie entschieden: Aber du, du bist ganz anders!

Nun wusste ich Bescheid, was sie sehen will und was nicht. Und so sprechen wir jede Woche, wenn wir zusammensitzen und Tee trinken, über die Freuden und Leiden mit Kindern, Küche und kocam, dem Ehemann. Und jedes Mal, wenn ich ihr zum dritten Mal Tee und Gebäck anbiete, sagt sie, dass sie nicht so viel essen dürfe, sie werde dick und dicker. Wenn du wüsstest, wie hübsch und schlank ich früher war!

Du gefällst mir, so wie du bist!, sage ich dann und finde immer wieder erstaunlich, mit welcher Entschiedenheit sie abwehrt, unverführbar, trotz meines an Nötigung grenzenden Aufdrängens, was, wie ich weiß, zum Ritual gehört; aber später dann, wenn sie gegangen ist, sehe ich, dass sie in der Küche, während sie das Geschirr wusch, offenbar doch weitergenascht hat. Insistiere ich nicht genug? Oder vielleicht packt sie es ein für ihre Kinder, Marzipan und Schokolade aus Deutschland.

Seit neun Jahren lebt Hatice in Istanbul. Zusammen mit ihrem Mann kam sie, jungverheiratet damals, vom Schwarzen Meer, um hier Arbeit zu finden.

Aber, sagt sie, Arbeit finden hier ist sehr, sehr schwer, besonders für uns, die wir vom Dorf kommen. Im Dorf ist das Leben viel besser, die Luft ist gut und das Wasser auch, und im Garten wächst alles, was du willst – fast alle türkischen Gemüse- und Obstnamen habe ich von Hatice während unserer Teepausen gelernt –; in der Stadt gibt es nur Lärm und Gestank, die Kinder können zum Spielen nicht raus, viel zu gefährlich auf der Straße, und in die Wohnung scheint nie die Sonne herein, das ganze Jahr nicht.

Ihr Unverständnis dann, dass ich nach Istanbul gekommen bin, in diese schmutzige, stinkende Stadt; Deutschland sei doch viel schöner, und erst die Schweiz! Ihrem Bruder, der in Wettingen bei Zürich lebe, verheiratet mit einer Schweizerin, dem gehe es gut, sagt sie dann und schaut mich an mit ihren Augen so blau und rein. Die haben dort wirklich alles!

Manchmal, wenn mir die Glorifizierung des verlorenen Paradieses zu weit geht, frage ich, warum sie von dort, wo alles besser sei, wegging.

Um der Kinder willen, weil es im Dorf keine Zukunft gibt, und Arbeit schon gar nicht, und auch die Schule ist schlecht dort, sagt sie dann und seufzt.

Ihr Seufzen immer mal zwischendurch, wenn sie erzählt oder wenn sie die Treppe hochkommt und zur Tür herein und sich ihre Schuhe von den Füßen schüttelt und sagt, wie heiß es doch heute wieder sei oder wie kühl oder regnerisch oder nass oder schwül, ein Seufzen, mit dem sie hinnimmt, wie’s nun mal ist, das Leben. Sie nimmt es an; mit ihrem Seufzen kann sie es.

Einmal sagte sie und seufzte: Ömer ist ein guter Mann, er schlägt mich nicht und geht nicht ins Männercafé spielen.

Ob sie ihren Ömer liebt? Nein, Liebe ist kein Thema zwischen Hatice und mir; über die Liebe zu Männern sprechen wir nie, nur über die zu den Kindern.

Aber von der Technik des Umgangs mit dem Ehemann erzählt sie. Wie sie’s hält mit ihrem, wie sie ihn hinhält und herholt, wie sie ihm schmeichelt und wie ihn kommandiert. Auch dass und wie sie verhütet. Zwei Kinder in der Stadt sind genug, Allah hin oder her, mehr kann er von uns nicht verlangen! Ömers Lohn als Hauswart und Pförtner in einer Schule ist so schlecht, dass eine Familie davon nicht leben kann. Immer hinkt der Ausgleich ein Jahr hinter der Inflation her, und wie die rennt, weißt du ja!

Wenn Hatice über die ständig steigenden Preise klagt – allein was die Kinder brauchen! – und mir vorrechnet, was alles sie noch besorgen muss – ohne anständige Schuhe können die Kinder doch nicht zur Schule gehen! –, und mich dabei anschaut mit ihren blauen Augen – auch sie müsse doch ihren Kindern manchmal etwas kaufen können, etwas Hübsches oder auch nur etwas Süßes, was andere Kinder doch täglich hätten –, dann verstehe ich, dass sie mich in ihrer Art darauf hinweist, dass auch ich wieder der galoppierenden Inflation hinterher soll.

Du musst von dir aus erhöhen, sagte mir eine Freundin, die mich mütterlich besorgt einführt in die Gepflogenheiten hierzulande. Hatice wird niemals von sich aus darum bitten. Wenn sie es aber doch tut, ist es zu spät, und sie wird dich nicht mehr achten, weil du sie nicht zu achten scheinst in ihrem berechtigten Anspruch. Du musst heraushören, wann es an der Zeit ist. Andererseits, wenn du zu viel erhöhst, machst du die hiesigen Preise kaputt und bedienst unnötig das Bild von den reichen Ausländischen.

Hatices verschämter Blick und ihr honigsüßer Dank, wenn ich erhöhe. Sie habe es doch immer gesagt – wem eigentlich, ihrem Ömer vielleicht? –, dass ich anders sei und dass sie mich nie vergessen werde.

Und ich werde dich nie vergessen, weil du so gut über mich denkst!, sage ich lachend; obwohl ich nicht weiß, ob sie nicht doch weiß, was ich ihr verberge.

Und jedes Mal, wenn ich ihr sage, dass ich wieder für ein paar Tage nach Deutschland muss, sie also nächste Woche nicht zu kommen brauche, sagt sie: Vergiss nicht, deine Verwandten und Freunde nach Arbeit zu fragen für Ömer!

Und jedes Mal verspreche ich, Augen und Ohren offen zu halten. Denn meine Einwände, das sei heutzutage gar nicht mehr so leicht und überhaupt, und erst recht nicht mit türkischem Pass, übergeht sie, das wisse sie alles, aber wer weiß.

Einmal fragte ich, warum denn nicht ihr Bruder in der Schweiz Arbeit suche für Ömer.

Mein Bruder, sagte sie, ist ein türkischer Arbeiter, der kennt doch nur seine Kollegen in der Fabrik, aber du bist eine hanım efendi, eine Dame, und deine Bekannten sind bestimmt Deutsche, die Geschäfte oder Fabriken besitzen. Auf dich hören sie. Bitte sag ihnen, dass Ömer fleißig ist und zuverlässig und dass er jede Arbeit macht, jede! Und auch ich kann in der Fabrik arbeiten. Oder wenn für mich dort keine Arbeit ist, kann ich auch putzen gehen, so wie hier.

Und heute wieder verspreche ich, dass ich in Deutschland von ihr und Ömer erzählen werde; und sage wie immer auch: Aber mach dir nicht zu viel Hoffnung!

Hatice schlüpft in ihre Schuhe und sagt: Allah wird’s geben, wenn es ihm gefällt, dass wir dort Arbeit finden.

Hatice, ich hab eine andere Idee: Ich werde nicht von dir und Ömer erzählen, sondern etwas über euch schreiben, vielleicht ja erfahren dann mehr Leute, dass ihr Arbeit sucht – was hältst du davon?

Hatice schaut mich unsicher an, bindet sich das Kopftuch noch einmal neu; dann plötzlich lacht sie: Wenn Allah es will, warum nicht, wenn’s hilft – so wie du von dem, der schlecht gewählt hat, gut sprichst –

Du meinst den Taxifahrer?

Ja, du denkst von allen nur Gutes.

Was weißt du denn, wie ich von dir denke!

Nun lacht auch sie, herzlich und schön.

Ich könnte berichten, was alles du mir geschenkt hast, die Häkeldecke, die Nüsse aus deinem Dorf, eine ganze Tüte voll, oder wie wunderbar du mir alle paar Wochen den Kopf mit Henna bepackst, wie angenehm deine Hände sind, fein und zart und doch so sicher.

Sie wehrt ab. Das kann doch jede!

Nicht in Deutschland.

Wieder schaut sie unsicher, sagt aber doch: Ich weiß, du wirst mit Allahs Hilfe schon das Richtige erzählen. Und als sie bereits in der Tür steht, noch einmal: Sag ihnen, Ömer ist ein guter Mann und ehrlich, er macht wirklich jede Arbeit!

Ja, ich versprech es dir!

Sie zwinkert mir zu: Pass gut auf dich auf!

Du auch, pass gut auf dich auf!, sage ich und höre, als...

Erscheint lt. Verlag 21.3.2011
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alltag • eBooks • Erzählungen • Geschichten • Istanbul • Künstler • Liebe • Menschen • Reisen • Schriftsteller • Türkei
ISBN-10 3-641-05561-X / 364105561X
ISBN-13 978-3-641-05561-5 / 9783641055615
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 20,50