Alle Toten fliegen hoch (eBook)
320 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30225-7 (ISBN)
Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.
Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.
2. Kapitel
»Bist du überhaupt schon mal geflogen?«, rief mir der beste Freund meines mittleren Bruders vom Beifahrersitz aus zu. »Ja, klar«, rief ich sehr laut von der Rückbank, da ich mein Fenster aufhatte und der Fahrtwind so stark war, dass meine Drahtlocken im Wind tanzten. »Ist aber schon voll lange her!« Wir waren auf der Autobahn Richtung Frankfurt unterwegs. Hamburg hatten wir schon hinter uns gelassen. Der Elbtunnel war länger, als ich es erwartet hatte. Mein Bruder fuhr. Schnell. Hundertsechzig bis hundertachtzig Stundenkilometer. Das Auto gehörte unserem Vater. Automatik mit Kickdown. Wenn wir überholten und mein Bruder das Gaspedal kräftig durchtrat, ging ein Ruck durch den Wagen und er zog gewaltig an, sodass wir in unsere Sitze gedrückt wurden. Davon konnten mein Bruder und sein Freund nicht genug bekommen. Andauernd riefen sie gemeinsam: »Uuuund: Kickdown!« Und schon jagte unser Auto am nächsten Laster vorbei und mir wurde flau im Magen. Der Freund meines Bruders hatte die Schuhe ausgezogen und seine bestrumpften Füße von innen gegen die Windschutzscheibe gestemmt. Mein mittlerer Bruder tat nur so, als wäre er ein rabiater Autobahnraser, das sah ich genau. Mich konnte er nicht täuschen, dafür kannte ich ihn viel zu gut. Ich sah es an seinem Nacken, seinen flackernden Augen, die mir ab und zu im Rückspiegel begegneten, an seinen blutleeren Fingern, die sich am Lenkrad festkrallten. Er hatte Angst. Blickte bei jedem Überholmanöver zigmal zwischen Rück- und Außenspiegel hin und her. Jahrelang hatte mein Bruder eine dicke Brille getragen und zur Korrektur seiner auffällig großen Vorderzähne eine Zahnspange. Wenn ich ihn ärgern wollte, nannte ich ihn Ratte. Seit ein paar Wochen trug er nun Kontaktlinsen und sah dadurch vollkommen verwandelt aus. Die Zahnspangenfolter der letzten Jahre hatte Erfolg gehabt, die drahtlosen Vorderzähne waren makellos, symmetrisch eingereiht. Sein Gesicht kam mir fremd vor, ohne die Brille schutzlos, irgendwie nackt. Die Augen kleiner. Ich hatte sie immer nur vergrößert durch die gewölbten Brillengläser gesehen. Ein gut aussehender junger Mann mit feinen, ja, empfindlichen Gesichtszügen war aus ihm geworden.
Erst vor einem halben Jahr hatte er seinen Führerschein gemacht, nachdem er zuvor zweimal durch die praktische Prüfung gefallen war. Bei der ersten Prüfung war er überheblich aus dem Haus gegangen, hatte mir auf den Hintern gehauen und gesagt: »Wenn du nett zu mir bist, Bruderherz, bring ich dich vielleicht morgen mit dem Auto zum Training.« Da die Stadt, aus der ich komme, nur geringe Anforderungen an einen Führerscheinanwärter stellt, musste jeder Fahrschüler immer wieder über die einzige große Kreuzung fahren, ja, im ständigen Überqueren dieser Kreuzung, dem sogenannten Gottorf-Knoten, aus jeder nur möglichen Richtung bestand die ganze Prüfung. Da bekannt war, wann ein Freund seine Prüfung haben würde, verabredete man sich mit selbst gemalten Schildern und Pappen am Gottorf-Knoten, um dem Führerscheinanwärter beizustehen. Das war eine Tradition, und so standen auch, als mein Bruder seine Prüfung hatte, Freunde und Freundinnen am Straßenrand. Winkten und hielten ihre mitgebrachten Plakate hoch. Da stand dann zum Beispiel »Blinker raus, altes Haus!«, »Schalten nicht vergessen!« oder »Vorsicht Kurve, alte Sau!«. Auch ich hatte schon dort gestanden und meinen Freunden, die bereits achtzehn waren, beigestanden. Natürlich war diese Art von Beistand für den sich hoch konzentrierenden Prüfling im Grunde eine weitere Belastung, ja, eigentlich eine Zumutung. Doch genau darum ging es: gelassen zu bleiben, es zu ertragen und nicht etwa kleinlich zu reagieren. Wenn man das Auto kommen sah, fingen alle an zu johlen und zu schreien oder mit geballten Fäusten anfeuernd ein Stück neben dem Auto herzurennen. Wenn es vorbeigefahren war, zog man gemächlich auf die andere Straßenseite um, da man genau wusste, bald würden sie zurückkommen. Bei seiner ersten Prüfung hatte mein Bruder auf dem Gottorf-Knoten meisterhaft alle dekonzentrierenden Animationen dieser Art ausgeblendet und war den Anforderungen dieses kleinstädtischen Verkehrsknotens vollkommen gerecht geworden. Die Gewissheit, das Schwierigste geschafft zu haben, muss ihn auf der Rückfahrt zum Parkplatz in euphorische Unaufmerksamkeit versetzt haben. Beim Einbiegen auf den Platz übersah er ein Schulkind auf einem Fahrrad. Hätte der zu Tode erschrockene Fahrlehrer nicht in letzter Sekunde auf seine zweite Bremse getreten – auch er hatte sich ja schon entspannt und Vertrauen in die Fahrkünste meines Bruders gewonnen –, wäre dem Schulkind vielleicht ernsthaft etwas passiert. Er bremste so scharf, dass der Prüfer auf der Rückbank mit der Stirn gegen die Kopfstütze vor ihm knallte. Mein Bruder hatte das Kind immer noch nicht gesehen, glaubte sogar an einen etwas rustikalen Scherz des Fahrlehrers als Zeichen seiner bestandenen Prüfung. Das Kind rutschte vor Schreck mit der Sandale vom Pedal in die Speichen hinein, quetschte sich die Zehen, stürzte und schlitterte schmerzhaft mit den Handflächen über den Asphalt. Der Fahrlehrer sprang aus dem Wagen und beugte sich auf die Straße hinunter. Das sah mein Bruder und wusste noch immer nicht, was geschehen war. Da tauchte an der rechten Seite des Autos das käsebleiche Gesicht eines Jungen auf. Wie ein Verstorbener, der sich aus seinem Grab erhebt und ungelenk ein paar Schritte macht, sei das Kind auf ihn zugegangen, erzählte mein Bruder später tief erschüttert. Fünfzehn weitere Fahrstunden musste er nehmen. Bei seiner zweiten Prüfung hatte er siebenundzwanzig Fahrstunden. Das war unter seinen Freunden der Minusrekord. Oft, und insbesondere, wenn es Schüler aus dem meine Stadt zur Genüge umgebenden dörflichen Umland waren, die auf Feldwegen übten oder auf dem Bauernhof schon mit acht Jahren Trecker fuhren, brauchten sie kaum mehr als zehn Fahrstunden.
Und trotz seiner rufschädigenden siebenundzwanzig Fahrstunden – »Ich kann diesen scheiß Gottorf-Knoten nicht mehr sehen!« – schaffte mein Bruder auch seine zweite Prüfung nicht. Diesmal beging er keinen Kapitalfehler, sondern eine ganze Reihe von klassischen Unachtsamkeiten, die jedoch in ihrer Summe zu nichts anderem führen konnten als zur neuerlichen Disqualifikation. Aufgrund einer ihn heimtückisch heimsuchenden Nervosität, die seine Fingerspitzen zittern ließ, würgte er mehrmals den Motor ab, vergaß, rechtzeitig zu blinken, schaltete aus Versehen den Scheibenwischer ein und bekam ihn nicht mehr aus. Erst Wochen später konnte mein Bruder über das, was ihm der Prüfer damals gesagt hatte, lachen: »Gibt’s gleich Regen? Da, wo ich herkomme, schaltet man den Scheibenwischer erst an, wenn es regnet, und nicht ’ne halbe Stunde vorher. Blinken allerdings tut man da, wo ich herkomme, schon bevor man abbiegt und nicht erst danach!« Nach diesem erneuten Tief-, ja, Niederschlag kam mein Bruder nach Hause und schloss sich im Badezimmer ein. Meine Mutter und ich standen vor der Tür, drinnen hörte man klägliches Schluchzen, Rotzehochziehen und Seufzen, und der Hund, der ja sein Hund war, leckte emphatisch die Klinke. Vor seiner dritten und, wie er schwor, letzten Prüfung brachte ihm mein Vater einen, wie er sagte, »leichten Betablocker« aus seiner Praxis mit, da mein Bruder, sobald er nur an die Prüfung dachte, zu schlottern begann. Ich sagte zu ihm: »So was bekommen Schweine, damit sie beim Transport vor Panik nicht an Nierenversagen sterben.« »Halts Maul!« Mehr sagte er nicht. Er hatte dunkle Augenringe, war aber guter Dinge. Nach dem Frühstück drückte er den Betablocker aus dem Plastik heraus auf seinen Teller. Die Tablette war groß. Er legte sie sich auf die Zunge, sah mit fatalistischer Heiterkeit von einem zum anderen. Mit viel Wasser und mehreren Schluckversuchen bekam er die Pille hinunter. Meine Mutter, mein Vater und ich sahen ihm dabei zu und wünschten ihm viel Glück. Eine Stunde später ging er aus dem Haus. Immer wieder hatte ich ihn gefragt: »Merkst du schon was?« Alle zehn Minuten: »Merkst du jetzt was?« Mein Bruder gab mir gemeine Antworten wie »Ja, ich merke, dass ich dir gleich eine reinhaue!«, die mich aber beruhigten, da ich dadurch wusste, dass er in guter Verfassung war. Mein Bruder sprang über seinen labilen Schatten und bat alle Freunde nachdrücklich, bei seiner dritten Prüfung dem Gottorf-Knoten fernzubleiben. Diese dritte Prüfung schaffte er fehlerfrei. Er wäre, erzählte er später, auf einer goldenen Wolke durch den Verkehr geschwebt. Butterweich hätte er geschaltet und geblinkt und es dem Gottorf-Knoten so richtig besorgt. Einzig, dass er mehrmals nur einhändig gefahren war, hätte der Prüfer moniert.
Auf dem Weg zum Frankfurter Flughafen beschlossen mein Bruder und sein Freund bei jeder sich bietenden Gelegenheit, von der Autobahn abzufahren und auf einem Parkplatz oder an einer Raststätte ein, wie sie sagten oder im Duett riefen, »Zigarettenpäuschen« einzulegen. Rauchend lehnten sie am Wagen, und als die Sonne rauskam, zogen sie sich ihre T-Shirts aus und legten sich auf die Motorhaube. Während dieser Rauchpausen sah ich die Lastwagen, Busse und Autos, an denen wir kurz zuvor vorbeigeschossen waren, hübsch der Reihe nach am Parkplatz vorbeifahren. Zwanzig Minuten »Kickdown!« und zwanzig Minuten »Zigarettenpäuschen!«, so näherten wir uns dem Frankfurter Flughafen. Ich stieg schon gar nicht mehr mit aus, und da ich nicht rauchte, noch nie auch nur an einer Zigarette gezogen hatte, langweilten mich die ständigen Unterbrechungen gewaltig. Bei einer dieser Pausen holte ich meinen Brustbeutel unter dem T-Shirt hervor und nahm das Geldbündel heraus. Ich zählte die Scheine....
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2011 |
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Reihe/Serie | Alle Toten fliegen hoch |
Alle Toten fliegen hoch | Alle Toten fliegen hoch |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Ach diese Lücke diese entsetzliche Lücke • Adoleszenz • Alle Toten fliegen hoch • Alle Toten fliegen hoch Teil 1 • Aufbruch • Auslandsjahr • Autobiografisch • Die Zweisamkeit der Einzelgänger • Familie • Hamster im hinteren Stromgebiet • Joachim Meyerhoff • Norddeutschland • Nord-Deutschland • Teil 1 • Trilogie • Triologie • Wann wird es endlich wieder so wie es nie war? |
ISBN-10 | 3-462-30225-6 / 3462302256 |
ISBN-13 | 978-3-462-30225-7 / 9783462302257 |
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