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Tschick (eBook)

Spiegel-Bestseller
eBook Download: EPUB
2011 | 1. Auflage
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10781-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tschick -  Wolfgang Herrndorf
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Zwei Jungs. Ein geknackter Lada. Eine Reise voller Umwege durch ein unbekanntes Deutschland. Mutter in der Entzugsklinik, Vater mit Assistentin auf Geschäftsreise: Maik Klingenberg wird die großen Ferien allein am Pool der elterlichen Villa verbringen. Doch dann kreuzt Tschick auf. Tschick, eigentlich Andrej Tschichatschow, kommt aus einem der Asi-Hochhäuser in Hellersdorf, hat es von der Förderschule irgendwie bis aufs Gymnasium geschafft und wirkt doch nicht gerade wie das Musterbeispiel der Integration. Außerdem hat er einen geklauten Wagen zur Hand. Und damit beginnt eine unvergessliche Reise ohne Karte und Kompass durch die sommerglühende deutsche Provinz. «Auch in fünfzig Jahren wird dies noch ein Roman sein, den wir lesen wollen. Aber besser, man fängt gleich damit an.» (Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung).

Wolfgang Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren und 2013 in Berlin gestorben, hat ursprünglich Malerei studiert. 2002 erschien sein Debütroman «In Plüschgewittern», 2007 der Erzählband «Diesseits des Van-Allen-Gürtels». Es folgten die Romane «Tschick» (2010), «Sand» (2011), ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, sowie posthum das Tagebuch «Arbeit und Struktur» (2013) und der unvollendete Roman «Bilder deiner großen Liebe» (2014). 2023 wurde die Biographie «Herrndorf» von Tobias Rüther veröffentlicht.
Spiegel-Bestseller

Wolfgang Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren und 2013 in Berlin gestorben, hat ursprünglich Malerei studiert. 2002 erschien sein Debütroman «In Plüschgewittern», 2007 der Erzählband «Diesseits des Van-Allen-Gürtels». Es folgten die Romane «Tschick» (2010), «Sand» (2011), ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, sowie posthum das Tagebuch «Arbeit und Struktur» (2013) und der unvollendete Roman «Bilder deiner großen Liebe» (2014). 2023 wurde die Biographie «Herrndorf» von Tobias Rüther veröffentlicht.

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Und jetzt hab ich immer noch nicht erklärt, warum sie mich Psycho genannt haben. Denn, wie gesagt, für kurze Zeit hieß ich auch Psycho. Keine Ahnung, was das sollte. Also schon klar: Das sollte bedeuten, dass ich sie nicht alle beisammenhab. Aber da hätten meiner Meinung nach ein paar andere viel eher so heißen können. Frank hätte so heißen können, oder Stöbcke mit seinem Feuerzeug, die sind auf jeden Fall gestörter als ich. Oder der Nazi. Aber der Nazi hieß schon Nazi, der brauchte keinen Namen mehr. Und natürlich hatte das auch einen speziellen Grund, warum ausgerechnet ich so hieß. Dieser Grund war ein Deutschaufsatz bei Schürmann, sechste Klasse. Thema Reizwortgeschichte. Falls jemand nicht weiß, was das ist, Reizwortgeschichte geht so: Man bekommt vier Wörter, zum Beispiel «Zoo», «Affe», «Wärter» und «Mütze», und dann muss man eine Geschichte schreiben, in der ein Zoo, ein Affe, ein Wärter und eine Mütze vorkommen. Wahnsinnig originell. Der reine Schwachsinn. Die Wörter, die Schürmann sich ausgedacht hatte, waren «Urlaub», «Wasser», «Rettung» und «Gott». Was schon mal deutlich schwieriger war als mit dem Zoo und dem Affen, und die Hauptschwierigkeit war natürlich Gott. Bei uns gab es nur Ethik, und in der Klasse waren sechzehn Atheisten inklusive mir, und auch die, die Protestanten waren, die haben nicht wirklich an Gott geglaubt. Glaube ich. Jedenfalls nicht so, wie Leute daran glauben, die wirklich an Gott glauben, die keiner Ameise was zuleide tun können oder sich riesig freuen, wenn einer stirbt, weil er dann in den Himmel kommt. Oder die mit einem Flugzeug ins World Trade Center krachen. Die glauben wirklich an Gott. Und deshalb war dieser Aufsatz ziemlich schwierig. Die meisten haben sich erst mal an dem Wort Urlaub festgehalten. Da rudert die Kleinfamilie an der Côte d’Azur rum, und dann geraten sie vollkommen überraschend in einen höllischen Sturm und rufen «o Gott» und werden gerettet und so. Und so was hätte ich natürlich auch schreiben können. Aber als ich über diesem Aufsatz saß, fiel mir als Erstes ein, dass wir die letzten drei Jahre schon nicht mehr in den Urlaub gefahren waren, weil mein Vater die ganze Zeit seinen Bankrott vorbereitete. Was mich nie gestört hatte, so gern bin ich mit meinen Eltern auch wieder nicht in Urlaub gefahren.

Stattdessen hatte ich den ganzen letzten Sommer in unserem Keller gehockt und Bumerangs geschnitzt. Ein Lehrer von mir, einer aus der Grundschule, hat mir das beigebracht. Das war der totale Fachmann im Bumerangbereich. Bretfeld hieß der, Wilhelm Bretfeld. Der hat sogar ein Buch darüber geschrieben. Sogar zwei Bücher. Das habe ich aber erst mitgekriegt, als ich schon aus der Grundschule raus war. Da hab ich den alten Bretfeld noch mal auf einer Wiese getroffen. Der stand praktisch direkt hinter unserem Haus auf der Kuhwiese und hat seine Bumerangs geworfen, selbstgeschnitzte Bumerangs – und das war auch wieder so eine Sache, wo ich nicht wusste, dass das funktioniert. Wo ich dachte, das gibt’s nur im Film, dass die wirklich zu einem zurückkommen. Aber Bretfeld war der Vollprofi, und der hat es mir dann gezeigt. Ich fand das wahnsinnig beeindruckend. Auch dass er seine Bumerangs alle selbst geschnitzt und bemalt hat. «Alles, was vorne rund und hinten spitz ist, fliegt», hat Bretfeld gesagt, und dann hat er mich über seine Brille hinweg angeguckt und gefragt: «Wie heißt du noch mal? Ich kann mich nicht an dich erinnern.» Was mich aber am meisten umgehauen hat, war dieser Langzeitflugbumerang. Das war ein von ihm selbst entwickelter Bumerang, der konnte minutenlang fliegen, und den hat er erfunden. Überall auf der Welt, wenn heute jemand einen Langzeitflugbumerang wirft und der bleibt fünf Minuten in der Luft, dann wird ein Foto gemacht, und dann steht da: basierend auf einem Design von Wilhelm Bretfeld. Der ist also praktisch weltbekannt, dieser Bretfeld. Und der steht da letzten Sommer auf der Kuhwiese hinter unserem Haus und zeigt mir das. Wirklich ein guter Lehrer. Das hatte ich auf der Grundschule gar nicht bemerkt.

Jedenfalls hab ich die ganzen Sommerferien im Keller gesessen und geschnitzt. Und das waren tolle Sommerferien, viel besser als Urlaub. Meine Eltern waren fast nie zu Hause. Mein Vater fuhr von Gläubiger zu Gläubiger, und meine Mutter war auf der Beautyfarm. Und da hab ich dann eben auch den Aufsatz drüber geschrieben: Mutter und die Beautyfarm. Reizwortgeschichte von Maik Klingenberg.

In der nächsten Stunde durfte ich sie vorlesen. Oder musste. Ich wollte ja nicht. Svenja war zuerst dran, und die hat diesen Quatsch mit der Côte d’Azur vorgelesen, den Schürmann wahnsinnig toll fand, und dann hat Kevin noch mal das Gleiche vorgelesen, nur dass die Côte d’Azur jetzt die Nordsee war, und dann kam ich. Mutter auf der Schönheitsfarm. Die ja nicht wirklich eine Schönheitsfarm war. Obwohl meine Mutter tatsächlich immer etwas besser aussah, wenn sie von dort zurückkam. Aber eigentlich ist es eine Klinik. Sie ist ja Alkoholikerin. Sie hat Alkohol getrunken, solange ich denken kann, aber der Unterschied ist, dass es früher lustiger war. Normal wird vom Alkohol jeder lustig, aber wenn das eine bestimmte Grenze überschreitet, werden die Leute müde oder aggressiv, und als meine Mutter dann wieder mit dem Küchenmesser durch die Wohnung lief, stand ich mit meinem Vater oben auf der Treppe, und mein Vater hat gefragt: «Wie wär’s mal wieder mit der Beautyfarm?» Und so fing der Sommer an, als ich in der Sechsten war.

Ich mag meine Mutter. Ich muss das dazusagen, weil das, was jetzt kommt, vielleicht kein supergutes Licht auf sie wirft. Aber ich hab sie immer gemocht, und ich mag sie noch. Sie ist nicht so wie andere Mütter. Das mochte ich immer am meisten. Sie kann zum Beispiel sehr witzig sein, das kann man ja von vielen Müttern nicht gerade behaupten. Und dass das Schönheitsfarm hieß, das war eben auch nur so ein Witz von meiner Mutter.

Früher hat meine Mutter viel Tennis gespielt. Mein Vater auch, aber nicht so gut. Der eigentliche Crack in der Familie war meine Mutter. Als sie noch fit war, hat sie jedes Jahr die Vereinsmeisterschaften gewonnen. Und auch mit einer Flasche Wodka intus hat sie die noch gewonnen, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls war ich schon als Kind immer mit ihr auf dem Platz. Meine Mutter hat auf der Vereinsterrasse gesessen und Cocktails getrunken mit Frau Weber und Frau Osterthun und Herrn Schuback und dem ganzen Rest. Und ich hab unterm Tisch gesessen und mit Autos gespielt, und die Sonne hat geschienen. In meiner Erinnerung scheint im Tennisclub immer die Sonne. Ich schaue mir den roten Staub auf fünf Paar weißen Tennisschuhen an, ich sehe die Unterwäsche unter den knappen Tennisröcken, und ich sammle die Kronkorken ein, die von oben runterfallen und in die man mit Kugelschreiber reinmalen kann. Ich darf fünf Eis essen am Tag und zehn Cola trinken und alles beim Wirt anschreiben lassen. Und dann sagt Frau Weber oben: «Nächste Woche wieder um sieben, Frau Klingenberg?»

Und meine Mutter: «Sicher.»

Und Frau Weber: «Da bring ich dann diesmal die Bälle.»

Und meine Mutter: «Sicher.»

Und so weiter und so weiter. Immer genau das gleiche Gespräch. Wobei der Witz war, dass Frau Weber nie Bälle mitbrachte, da war sie zu geizig für.

Ab und zu gab es aber auch eine andere Unterhaltung. Die ging so:

«Nächste Woche wieder Samstag, Frau Klingenberg?»

«Kann ich nicht, da fahr ich weg.»

«Aber hat Ihr Mann nicht Medenspiele?»

«Ja, er fährt ja auch nicht weg. Ich fahr weg.»

«Ach, wo fahren Sie denn hin?»

«Auf die Beautyfarm.»

Und dann kam immer, immer, immer von irgendwem am Tisch, der das noch nicht kannte, die wahnsinnig geistreiche Bemerkung: «Das haben Sie doch gar nicht nötig, Frau Klingenberg!»

Und meine Mutter hat ihren Brandy Alexander runtergekippt und gesagt: «War ein Witz, Herr Schuback. Ist ’ne Entzugsklinik.»

Dann sind wir Hand in Hand vom Tennisplatz nach Hause, weil meine Mutter nicht mehr Auto fahren konnte. Ich hab ihre schwere Sporttasche getragen, und sie hat zu mir gesagt: «Du kannst nicht viel von deiner Mutter lernen. Aber das kannst du von deiner Mutter lernen. Erstens, man kann über alles reden. Und zweitens, was die Leute denken, ist scheißegal.» Das hat mir sofort eingeleuchtet. Über alles reden. Und scheiß auf die Leute.

Zweifel sind mir erst später gekommen. Keine Zweifel am Prinzip. Aber Zweifel, ob es meiner Mutter wirklich so scheißegal war.

Jedenfalls – diese Beautyfarm. Wie genau das da ablief, weiß ich nicht. Weil ich meine Mutter nie besuchen durfte, das wollte sie nicht. Aber wenn sie von da zurückkam, hat sie immer verrückte Sachen erzählt. Die Therapie bestand offenbar hauptsächlich aus keinem Alkohol und reden. Und Wasser treten. Manchmal auch turnen. Aber turnen konnten nicht mehr viele. Meistens haben sie nur geredet und dabei ein Wollknäuel im Kreis rumgeworfen. Weil, immer nur wer das Wollknäuel hatte, durfte reden. Ich musste fünfmal nachfragen, ob ich richtig gehört hatte oder ob das ein Witz war mit dem Wollknäuel. Aber das war kein Witz. Meine Mutter fand das auch gar nicht so witzig oder spannend, aber ich fand das, ehrlich gesagt, wahnsinnig spannend. Das muss man sich mal vorstellen: Zehn erwachsene Menschen sitzen im Kreis und werfen ein Wollknäuel rum. Hinterher war der ganze Raum voll Wolle, aber das war gar nicht der Sinn der Sache, auch wenn man das jetzt erst mal denken könnte. Der Sinn war, dass ein Gesprächsgeflecht entsteht. Woran man schon erkennen kann, dass meine Mutter nicht die Verrückteste in dieser Anstalt war. Da müssen noch deutlich Verrücktere gewesen sein.

Und wenn jetzt einer glaubt, das...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2011
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Außenseiter • Berlin • Coming of Age • Erste Liebe • Erwachsenwerden • Freundschaft • Jugendslang • Kriminalität • Provinz • Road Trip • Schullektüre • spiegel bestseller • Spiegel Bestsellerliste aktuell
ISBN-10 3-644-10781-5 / 3644107815
ISBN-13 978-3-644-10781-6 / 9783644107816
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