Die Brüder Grimm (eBook)
608 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10561-4 (ISBN)
Steffen Martus, geboren 1968, lehrt als Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er schreibt regelmäßig für die «Süddeutsche Zeitung», die «Berliner Zeitung» und «Die Zeit». Seine Biographie der Brüder Grimm war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, sein Epochenporträt der Aufklärung feierte die «Süddeutsche Zeitung» als «grandiose Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts». 2015 wurde Steffen Martus für sein wissenschaftliches Werk mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet.
Steffen Martus, geboren 1968, lehrt als Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er schreibt regelmäßig für die «Süddeutsche Zeitung», die «Berliner Zeitung» und «Die Zeit». Seine Biographie der Brüder Grimm war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, sein Epochenporträt der Aufklärung feierte die «Süddeutsche Zeitung» als «grandiose Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts». 2015 wurde Steffen Martus für sein wissenschaftliches Werk mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet.
Einleitung
Wir kennen Jacob und Wilhelm Grimm gut: die beiden freundlichen Herren, die unsere Kinder- und Hausmärchen aufgezeichnet haben; die emsigen Erforscher von Grammatik, Recht, Mythologie und Poesie; die Bewahrer unseres Sprachschatzes im Deutschen Wörterbuch. Auf dem 1000-D-Mark-Schein war ihr Porträt abgebildet, und so nostalgisch wie manch einer der alten Währung nachtrauert und sie zum Sinnbild einer Zeit erhebt, «wo das Wünschen noch geholfen hat», so anheimelnd klingt dieser Markenname: ‹Die Brüder Grimm›.
Ein wenig märchenhaft wirken die beiden. Und tatsächlich haben sie sich selbst oft genug so dargestellt. Wilhelm Grimm phantasierte sich bisweilen in die Rolle desjenigen, der aus der Zeit gefallen ist und nach Jahrzehnten wieder nach Hause zurückkehrt. Und Jacob Grimm, der einmal als seinen sehnlichsten Wunsch nannte, «ein ganz enges schmales Arbeitsstübchen» nur für sich allein zu haben, verwandelte den Märchenforscher in eine Märchenfigur, wenn er meinte, den verborgenen «Schatz» der Überlieferung könne allein «unschuldige Einfalt», «strenge Treue» und «milde Freundlichkeit» bergen.1 In ihren Märchen aber geht es nicht immer und manchmal gar nicht so glücklich zu, dass Einfalt, Treue und Freundlichkeit siegen. Wünsche werden erfüllt, die man nie hatte, Hoffnungen enttäuscht, denen man lange nachhing. Rohe Gewalt, Skrupellosigkeit, Dummheit und Heimtücke wirken als mächtige Triebe.
Am Anfang dieser Biographie stand die Überraschung darüber, wie sehr die Brüder Grimm um das Bild eines märchenhaften Lebens, das sehr wenig mit den ruppigen Verhältnissen in den Kinder- und Hausmärchen zu tun hat, gerungen und wie sehr sie dabei gegen ihre Zeit gearbeitet haben. Das gilt nicht zuletzt für jene Vorstellung einer idyllischen Kindheit, von der sie an vielen Stellen schwärmten. So erließ etwa am 14. August 1799 Wilhelm IX. als regierender Landgraf von Hessen-Kassel eine Verordnung zur «Bestrafung des unanständigen Betragens der Kinder gegen ihre Eltern» – Jacob und Wilhelm Grimm lebten zu diesem Zeitpunkt seit noch nicht ganz einem Jahr in Kassel, um dort das Gymnasium zu besuchen. Der Staat forderte dazu auf, den renitenten Nachwuchs anzuzeigen: Er benötige «ruhige und glückliche Einwohner», die aber entwickelten sich nicht aus Kindern, «welche von früher Jugend an sich gewöhnen, die schuldige Achtung und den Gehorsam gegen ihre nächsten und natürlichen Vorgesetzten […] zu vergessen». Gegen solchen Ungehorsam werde man «mit aller Strenge» vorgehen: Prügel, Ausstellung auf dem Pranger «nebst einem angehängten Schilde mit einer zweckmäßigen Aufschrift» oder Zuchthaus – so sieht der Maßnahmenkatalog einer souveränen Macht aus, die mit körperlicher Gewalt, Demütigung und Beschämung «Gehorsam» erzwingen will.2
In ein Grimm’sches Märchen würde das gut passen. Doch wenn Jacob und Wilhelm sich an ihre Kindheit zurückerinnerten, dann fiel ihnen dazu gerade nicht jener pädagogische Terror ein, wie ihn die Fürstlich Hessische Landes-Ordnung zumindest auf dem Papier entworfen hatte. Im Gegenteil blieben ihnen besonders lebhaft ‹Kinderspiele› im Gedächtnis: eine Puppenküche und farbige Bleisoldaten, «bunte Papierbogen mit goldnen Thieren», ein Theaterbesuch, wo «buntgekleidete Damen auf der Bühne» zu sehen waren, oder das Bad in einer Wanne und wie man «nackend im Garten herumgesprungen» sei. Eingeprägt haben sich der glänzende Weihnachtsbaum und die festliche Christtagsstimmung, der Besuch des Jahrmarkts oder wie sie in «den Wiesenthälern und auf den Anhöhen» umhergingen und dabei ihren «Sinn für die Natur» bildeten.3
Mit solchen Bildern einer «unschuldige[n] Lust der Kindheit»4 stifteten die Grimms jene Sehnsuchtsorte, denen sie dann nachspürten. Mehr noch: Die «unschuldige Lust der Kindheit» selbst wurde zum Spiegelbild ihrer wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. In seinem Essay über Kinderwesen und Kindersitten schrieb Wilhelm Grimm 1819: «Das Kind blickt mit reinen Augen umher, ein Vogel fliegt vorbei, ein Käferchen setzt sich auf seine Hand, ein Blümchen liegt neben ihm im Gras, ein armes Mädchen sitzt unter einem Baum und weint, das wird ganz unschuldig und kindlich vorgestellt, und darin liegt der eigene Reiz dieser Lieder.»5 In dieser Einstellung entdeckte er den Ursprung seiner Forschungshaltung. Er und sein Bruder gaben sich mit kindlicher Neigung dem Unscheinbaren in der Natur hin, so wie sie sich später nicht weniger behutsam, vorsichtig und aufmerksam auf die Suche nach den verstreuten Spuren der Vergangenheit begaben.6 Dabei machte die Grimms ihr Sinn für die Vergänglichkeit und für die Andersartigkeit historischer Epochen, sosehr sie sich auch der Vergangenheit zuwenden mochten, zu den modernsten Traditionalisten ihrer Zeit.
Die zweite Überraschung war, mit welcher Konsequenz die beiden Brüder ein Lebensprojekt aus dem Geist der kindlichen Aufmerksamkeit entworfen haben, und dies nicht zuletzt gegen die politische Realität ihrer Epoche. Die Grimms – beide bekennende Monarchisten und zeitlebens den «Democraten» gegenüber skeptisch eingestellt – schätzten durchaus die «Achtung» gegenüber den «natürlichen Vorgesetzten». «Gewöhnen» wollten sie an diese Achtung jedoch auf eine revolutionäre Weise. Sie empfahlen dafür den Blick in Märchen, Mythen und Sagen, in Gedichte und Epen, in die Sprach- und Rechtsgeschichte, in jenes «seltsame Fortleben einer Trümmerwelt» (Richard Wagner), die sie wie niemand sonst vor ihnen durchwühlt haben.7
Die hessischen Fürsten zeigten wenig Sinn für die paradoxe Anlage dieses gleichermaßen revolutionären wie konservativen Konzepts und insgesamt wenig Verständnis für die Arbeit der Grimms: Als Jacob Grimm den ersten Band der Deutschen Grammatik, jenes Monumentalwerks, das Heinrich Heine vermuten ließ, der Autor stehe mit dem Teufel im Bund, seinem Arbeitgeber Wilhelm I. übergab, ließ der Kurfürst lediglich ausrichten, er hoffe, Jacob vernachlässige «über solchen Nebengeschäften» nicht seinen Dienst.8 Und als die Brüder Grimm Ende der 1820er Jahre bei einer lang erwarteten Beförderung übergangen wurden und ein Angebot des Königreichs Hannover zum Wechsel an die Göttinger Universität annahmen, da hielt der Nachfolger Wilhelms I. den Weggang der größten Gelehrten seines Landes für keinen Verlust: «sie haben nie etwas für mich gethan!»9
Dies war die dritte Überraschung: Die Einsicht, wie provozierend das Wissenschaftsprogramm der beiden Brüder auf viele Zeitgenossen wirkte. Mit der Radikalität und Kompromisslosigkeit ihrer Forschungen stießen sie oft genug die Leser vor den Kopf. Man rechnete sie zur romantischen Schule und damit zu den «tollen Knaben», die «zum Irrenhaus reif wären».10 August Wilhelm Schlegel aber, der Mitbegründer ebendieser Romantik, dessen Bruder Friedrich die Grimms einmal als zwei «sehr rohe Teppen» bezeichnete, echauffierte sich seinerseits darüber, dass Jacob und Wilhelm «für jeden Trödel im Namen der ‹uralten Sage› Ehrerbietung» begehrten – damit werde «gescheiten Leuten allzu viel zugemuthet».11 Das Risiko, dass die «Andacht zum Unbedeutenden» (S. Boisserée) kopfschüttelndes Unverständnis ernten würde, war immens.
Tatsächlich begegneten die Zeitgenossen den Brüdern Grimm immer wieder mit Desinteresse, ja Ablehnung. Oft wurde die Hoffnung enttäuscht, dass ihre sprach- und literaturhistorischen Forschungen, ihre Untersuchungen zu Sagen, Märchen und Mythen, zur Geschichte des Rechts, der Sitten und Bräuche oder ihr politisches Engagement so anerkannt wurden, wie es Jacob und Wilhelm für angemessen hielten. Sollte man wirklich jene schwerverständlichen Bruchstücke aus den Schutthalden der mittelalterlichen Poesie anstaunen, die die Grimms ausgegraben hatten? Sollte man sich in Wortkolonnen vertiefen und die Feinheiten der historischen Grammatik erkunden? Sollte man als aufgeklärter Mensch seine Aufmerksamkeit in Geschichten von alten Recken und Rittern investieren? Sollte man sich als erwachsener Leser für Kinder- und Hausmärchen interessieren oder die Phantasie von Kindern mit dubiosen Geschichten und einer oft zweifelhaften Moral auf Abwege bringen?
Revolutionär suchten Jacob und Wilhelm Grimm nach Mitteln, die Ordnung in Staat und Nation zu sichern. Neu und provokativ waren die Methoden, mit denen sie das Alte vor dem Vergessen schützen wollten. Liebevoll und treu wendeten sie ihren Blick auf die Trümmer der Geschichte, die sie ihren Zeitgenossen mit der Sturheit eines Helden aus den Kinder- und Hausmärchen präsentierten. Die brüderliche Arbeitsgemeinschaft, die eine schier unübersehbare Menge von Büchern, Editionen, Aufsätzen, Rezensionen und Briefen hervorgebracht hat, verkörperte geradezu zwei Seiten der Moderne, jenes eigentümliche Bündnis von Traditionsverlust und -bewahrung, von Eigensinn und Gemeinschaftsgeist. Denn: Es waren ungleiche Brüder, die leidenschaftlich und rücksichtslos die Vergangenheit erkundeten, um in der zerbrechenden alteuropäischen Welt die kulturellen Fundamente einer neuen Zeit zu finden.
Das schließlich war die vierte Überraschung und das eigentlich Faszinierende bei der biographischen Recherche: wie die «innere Einigkeit der Gegensätze» (W. Grimm) das Verhältnis der Brüder bestimmte. Ihre Arbeitsformen und Darstellungsweisen waren auf je eigene Weise radikal, ihre Unnachgiebigkeit in Sachfragen kannte...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2010 |
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Reihe/Serie | Rowohlt Monographie | Rowohlt Monographie |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft | |
Schlagworte | Biografie • Epoche • faszinierend • Genealogie • Germanistik • Geschichtspanorama • Göttinger Sieben • Märchen • packend • Porträt • Sprachforschung |
ISBN-10 | 3-644-10561-8 / 3644105618 |
ISBN-13 | 978-3-644-10561-4 / 9783644105614 |
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Größe: 2,7 MB
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