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Roman eines Schicksallosen (eBook)

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2010 | 1. Auflage
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10621-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Roman eines Schicksallosen -  Imre Kertész
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«Ein literarisches Meisterwerk.» (Der Spiegel) Imre Kertész ist etwas Skandalöses gelungen: die Entmystifizierung von Auschwitz. Es gibt kein literarisches Werk, das in dieser Konsequenz, ohne zu deuten, ohne zu werten, der Perspektive eines staunenden Kindes treu geblieben ist. Wohl nie zuvor hat ein Autor seine Figur Schritt für Schritt bis an jene Grenze hinab begleitet, wo das nackte Leben zur hemmungslosen, glücksüchtigen, obszönen Angelegenheit wird.

Imre Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 als 14-Jähriger nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. In seinem «Roman eines Schicksallosen» hat er diese Erfahrung auf außergewöhnliche Weise verarbeitet. Das Buch erschien zuerst 1975 in Ungarn, wo er während der sozialistischen Ära jedoch Außenseiter blieb und vor allem von Übersetzungen lebte (u.a. Nietzsche, Hofmannsthal, Schnitzler, Freud, Joseph Roth, Wittgenstein, Canetti). Erst nach der europäischen Wende gelangte er zu weltweitem Ruhm, 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. Seitdem lebte Imre Kertész überwiegend in Berlin und kehrte erst 2012, schwer erkrankt, nach Budapest zurück, wo er 2016 starb.

Imre Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 als 14-Jähriger nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. In seinem «Roman eines Schicksallosen» hat er diese Erfahrung auf außergewöhnliche Weise verarbeitet. Das Buch erschien zuerst 1975 in Ungarn, wo er während der sozialistischen Ära jedoch Außenseiter blieb und vor allem von Übersetzungen lebte (u.a. Nietzsche, Hofmannsthal, Schnitzler, Freud, Joseph Roth, Wittgenstein, Canetti). Erst nach der europäischen Wende gelangte er zu weltweitem Ruhm, 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. Seitdem lebte Imre Kertész überwiegend in Berlin und kehrte erst 2012, schwer erkrankt, nach Budapest zurück, wo er 2016 starb. Christina Viragh, geboren 1953 in Budapest, wuchs in der Schweiz auf und lebt heute als Autorin und Übersetzerin in Rom. Sie ist korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Übersetzerin von Péter Nádas, Sándor Márai, Imre Kértesz, Henri Alain-Fournier und anderen. 2012 gewann sie den Preis der Leipziger Buchmesse in der Rubrik "Übersetzungen", den Europäischen Übersetzerpreis und, zusammen, mit Péter Nádas, den Brücke-Berlin-Preis.

1


Heute war ich nicht in der Schule. Das heißt, doch, ich war da, aber nur, um mir vom Klassenlehrer freigeben zu lassen. Ich habe ihm das Schreiben meines Vaters überbracht, in dem er wegen «familiärer Gründe» um meine Freistellung nachsucht. Der Lehrer hat gefragt, was das für familiäre Gründe seien. Ich habe gesagt, mein Vater sei zum Arbeitsdienst einberufen worden; da hat er weiter keine Schwierigkeiten gemacht.

Ich bin losgeeilt, aber nicht nach Hause, sondern gleich zu unserem Geschäft. Mein Vater hatte gesagt, sie würden mich dort erwarten. Er hatte noch hinzugefügt, ich solle mich beeilen, vielleicht würden sie mich brauchen. Eigentlich hat er mir gerade darum freigeben lassen. Oder vielleicht, um mich «an diesem letzten Tag an seiner Seite zu wissen», bevor er «seinem Zuhause entrissen wird»: denn auch das hat er gesagt, allerdings, ja, zu einem anderen Zeitpunkt. Er hat es, wenn ich mich recht erinnere, zu meiner Mutter gesagt, als er am Morgen mit ihr telefonierte. Es ist nämlich Donnerstag, und an diesem Tag und sonntags hat strenggenommen meine Mutter Anrecht auf meinen Nachmittag. Doch mein Vater hat ihr mitgeteilt: «Es ist mir heute nicht möglich, Gyurka zu dir hinüberzulassen», und hat das dann so begründet. Oder vielleicht doch nicht. Ich war heute Morgen ziemlich müde, wegen des Fliegeralarms in der Nacht, und erinnere mich vielleicht nicht richtig. Aber dass er es gesagt hat, da bin ich sicher. Wenn nicht zu meiner Mutter, dann zu jemand anderem.

Ich habe dann mit meiner Mutter ebenfalls ein paar Worte gewechselt, worüber, das weiß ich nicht mehr. Ich glaube, sie war mir dann auch ein wenig böse, denn wegen der Anwesenheit meines Vaters blieb mir nichts anderes übrig, als mit ihr etwas kurz angebunden zu sein: Schließlich muss ich mich heute nach ihm richten. Als ich schon im Begriff war aufzubrechen, hat auch meine Stiefmutter noch ein paar vertrauliche Worte an mich gerichtet, im Flur, unter vier Augen. Sie hat gesagt, sie hoffe, an diesem für uns so traurigen Tag bei mir «mit einem angemessenen Verhalten rechnen zu können». Ich wusste nicht, was ich da hätte sagen sollen, und so habe ich nichts gesagt. Aber vielleicht legte sie mein Schweigen falsch aus, denn sie hat gleich etwas hinzugefügt, in dem Sinn, dass sie mir keineswegs zu nahe treten wollte mit dieser Ermahnung, die – das wisse sie – sowieso unnötig sei. Denn sie zweifle ja nicht daran, dass ich als fast fünfzehnjähriger großer Junge selbst fähig sei, die Schwere des uns ereilenden Schicksalsschlages zu ermessen, so hat sie sich ausgedrückt. Ich habe genickt. Mehr brauchte es auch nicht, wie ich gemerkt habe. Sie hat noch eine Bewegung mit den Händen in meine Richtung gemacht, sodass ich schon Angst hatte, sie wollte mich vielleicht umarmen. Das hat sie dann doch nicht getan und nur tief geseufzt, mit einem langen, bebenden Atemzug. Ich habe gesehen, dass ihr auch die Augen feucht wurden. Es war unangenehm. Dann durfte ich gehen.

Von der Schule bis zu unserem Geschäft bin ich marschiert. Es war ein klarer, lauer Morgen – dafür, dass der Frühling erst anfängt. Ich hätte mir gern den Mantel aufgeknöpft, habe es mir aber dann anders überlegt: Im leichten Gegenwind könnte das Revers zurückklappen und den gelben Stern verdecken, was gegen die Vorschrift wäre. In einigen Dingen muss ich jetzt doch schon umsichtiger verfahren. Unser Holzkeller befindet sich hier in der Nähe, in einer Nebenstraße. Eine steile Treppe führt hinunter in dämmeriges Licht. Ich habe meinen Vater und meine Stiefmutter im Büro angetroffen: einem engen, wie ein Aquarium beleuchteten Glaskäfig direkt unterhalb der Treppe. Auch Herr Sütő war da, den ich noch aus der Zeit kenne, als er bei uns in einem Anstellungsverhältnis war, als Buchhalter und Verwalter unseres anderen, unter freiem Himmel gelegenen Lagers, das er uns inzwischen abgekauft hat. So sagen wir es wenigstens. Herr Sütő trägt nämlich, da bei ihm in rassischer Hinsicht alles in bester Ordnung ist, keinen gelben Stern, und das Ganze ist eigentlich, soviel ich weiß, nur ein Geschäftstrick, damit er auf unseren Besitz dort achtgibt und auch, nun ja, damit wir unterdessen nicht ganz auf unsere Einnahmen verzichten müssen.

Ich habe ihn irgendwie schon ein bisschen anders gegrüßt als früher, denn er ist ja in gewisser Hinsicht jetzt höhergestellt als wir; auch mein Vater und meine Stiefmutter sind aufmerksamer zu ihm. Er hingegen legt umso größeren Wert darauf, meinen Vater weiterhin «Herr Direktor» und meine Stiefmutter «verehrte gnädige Frau» zu nennen, als wäre nichts geschehen, und auch den Handkuss lässt er bei ihr nie aus. Auch mich hat er in dem gewohnten scherzenden Ton begrüßt. Meinen gelben Stern schien er gar nicht zu bemerken. Dann bin ich stehen geblieben, wo ich gerade stand, nämlich bei der Tür, während sie fortfuhren, wo sie bei meinem Eintreffen aufgehört hatten. Wie mir schien, hatte ich sie irgendwie bei einer Besprechung unterbrochen. Zuerst verstand ich gar nicht, wovon sie sprachen. Einen Moment hielt ich sogar die Augen geschlossen, denn sie flimmerten mir noch ein wenig vom Sonnenschein oben. Unterdessen sagte mein Vater etwas, und als ich die Augen wieder aufmachte, sprach Herr Sütő. Auf seinem bräunlichen runden Gesicht – mit dem dünnen Schnurrbärtchen und der kleinen Lücke zwischen den breiten weißen Schneidezähnen – hüpften orangerote Sonnenflecken, wie Geschwüre, die aufbrechen. Den folgenden Satz hat wieder mein Vater gesagt, es war darin von irgendeiner «Ware» die Rede und dass «es am besten wäre», wenn Herr Sütő «sie gleich mitnähme». Herr Sütő hatte nichts dagegen einzuwenden; daraufhin hat mein Vater ein in Seidenpapier gewickeltes und mit einer Schnur zusammengebundenes Päckchen aus der Schreibtischschublade genommen. Da erst habe ich gesehen, um was für eine Ware es sich handelte, denn ich habe das Paket gleich an seiner flachen Form erkannt: Die Schatulle war darin. In der Schatulle aber sind unsere wichtigeren Schmuckstücke und andere solche Sachen. Ja, ich glaube sogar, dass sie extra meinetwegen von «Ware» sprachen, damit ich die Schatulle nicht erkenne. Herr Sütő hat sie sogleich in seiner Aktentasche verschwinden lassen. Dann aber ist eine kleine Diskussion zwischen ihnen entstanden: Herr Sütő hatte nämlich seinen Füllfederhalter hervorgeholt und wollte meinem Vater für die «Ware» unbedingt eine «Bescheinigung» geben. Er hat lange nicht lockergelassen, obwohl ihm mein Vater sagte, das seien «Kindereien» und «zwischen uns ist so etwas doch nicht nötig». Mir schien, Herr Sütő hörte das gern. Er hat dann auch gesagt: «Ich weiß, dass Sie mir vertrauen, Herr Direktor; aber im praktischen Leben hat alles so seine Ordnung.» Er zog sogar meine Stiefmutter zu Hilfe: «Nicht wahr, gnädige Frau?» Sie hat aber bloß ein müdes Lächeln auf den Lippen gehabt und etwas gesagt wie: Sie möchte die ordnungsgemäße Erledigung dieser Angelegenheit völlig den Männern überlassen.

Mir war das Ganze schon etwas verleidet, als er dann endlich seinen Füllfederhalter doch weggesteckt hat; dann aber fingen sie an, in der Angelegenheit dieses Lagers hin und her zu reden: nämlich was sie mit den vielen hier befindlichen Brettern machen sollten. Wie ich hörte, war mein Vater der Meinung, man müsse sich beeilen, bevor die Behörden «eventuell die Hand auf das Geschäft legen», und er hat Herrn Sütő ersucht, meiner Stiefmutter in dieser Angelegenheit mit seiner Erfahrung und seiner Sachkenntnis beizustehen. Herr Sütő hat sich sofort zu meiner Stiefmutter gewandt und erklärt: «Das ist doch selbstverständlich, gnädige Frau. Wir bleiben ja wegen der Abrechnungen sowieso in ständigem Kontakt.» Ich glaube, er meinte unser Lager, das jetzt bei ihm ist. Irgendwann fing er endlich an, sich zu verabschieden. Er schüttelte meinem Vater lange die Hand, mit betrübter Miene. Doch er war der Meinung, dass «in einem solchen Augenblick viele Worte fehl am Platz» seien, und er wollte deshalb nur ein einziges Abschiedswort an meinen Vater richten, nämlich: «Auf ein baldiges Wiedersehen, Herr Direktor.» Mein Vater hat mit einem kleinen, schiefen Lächeln geantwortet: «Hoffen wir, dass es so sein wird, Herr Sütő.» Gleichzeitig hat meine Stiefmutter ihre Handtasche geöffnet, ein Taschentuch herausgenommen und es sich geradewegs an die Augen gehalten. In ihrer Kehle gurgelten seltsame Töne. Es wurde still, und die Situation war sehr peinlich, weil ich auf einmal so ein Gefühl hatte, auch ich müsste etwas tun. Aber der Vorfall hatte sich ganz plötzlich ereignet, und mir ist nichts Gescheites eingefallen. Wie ich sah, war es auch Herrn Sütő unbehaglich. «Aber gnädige Frau», ließ er sich vernehmen, «das sollten Sie nicht. Wirklich nicht.» Er schien ein bisschen erschrocken. Er hat sich vorgebeugt und meiner Stiefmutter den Mund geradezu auf die Hand fallen lassen, um bei ihr den gewohnten Handkuss zu verrichten. Dann ist er gleich zur Tür geeilt: Ich hatte kaum Zeit, beiseitezuspringen. Er hat sogar vergessen, sich von mir zu verabschieden. Nachdem er draußen war, hörten wir noch lange seine schweren Schritte auf den hölzernen Stufen.

Nach einigem Schweigen hat mein Vater gesagt: «Na schön, um so viel wären wir jetzt leichter.» Worauf meine Stiefmutter, noch mit leicht verschleierter Stimme, meinen Vater gefragt hat, ob er den fraglichen Beleg nicht doch hätte von Herrn Sütő annehmen sollen. Doch mein Vater hat erwidert, solche Belege hätten keinerlei «praktischen Wert», abgesehen davon, dass es noch gefährlicher wäre, so etwas versteckt zu halten als die Schatulle selbst. Und er hat ihr erklärt, wir müssten jetzt «alles auf eine Karte setzen», auf die nämlich, dass...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2010
Übersetzer Christina Viragh
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2. Weltkrieg • Auschwitz • autobiografische romane • Entmenschlichung • Entmystifizierung • Erinnerungsliteratur • Holocaust • Juden • Kinderperspektive • Konzentrationslager • Kriegsbücher • Kriegsromane • Literaturnobelpreis • Literaturnobelpreisträger • Moderne Klassiker • Nobelpreis • Nobelpreis für Literatur • politische Bücher • Ungarische Literatur • Ungarischer Jugendlicher • Weltliteratur • ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-644-10621-5 / 3644106215
ISBN-13 978-3-644-10621-5 / 9783644106215
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