Der Schwimmer (eBook)
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400005-3 (ISBN)
Zsuzsa Bánk, geboren 1965, arbeitete als Buchhändlerin und studierte anschließend in Mainz und Washington Publizistik, Politikwissenschaft und Literatur. Heute lebt sie als Autorin in Frankfurt am Main. Für ihren ersten Roman »Der Schwimmer« wurde sie mit dem aspekte-Literaturpreis, dem Deutschen Bücherpreis, dem Jürgen-Ponto-Preis, dem Mara-Cassens-Preis sowie dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet. Für »Unter Hunden« aus ihrem Erzählungsband »Heißester Sommer« erhielt sie den Bettina-von-Arnim-Preis. Auch ihre Romane »Die hellen Tage« und »Schlafen werden wir später« wurden große Erfolge. Zuletzt erschien »Sterben im Sommer«. Literaturpreise: Open Mike-Preis 2000 Jürgen-Ponto-Preis 2002 aspekte-Literaturpreis 2002 Deutscher Bücherpreis 2003 Mara Cassens Preis 2003 Bettina-von-Arnim-Preis 2003 Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung 2004
Zsuzsa Bánk, geboren 1965, arbeitete als Buchhändlerin und studierte anschließend in Mainz und Washington Publizistik, Politikwissenschaft und Literatur. Heute lebt sie als Autorin in Frankfurt am Main. Für ihren ersten Roman »Der Schwimmer« wurde sie mit dem aspekte-Literaturpreis, dem Deutschen Bücherpreis, dem Jürgen-Ponto-Preis, dem Mara-Cassens-Preis sowie dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet. Für »Unter Hunden« aus ihrem Erzählungsband »Heißester Sommer« erhielt sie den Bettina-von-Arnim-Preis. Auch ihre Romane »Die hellen Tage« und »Schlafen werden wir später« wurden große Erfolge. Zuletzt erschien »Sterben im Sommer«. Literaturpreise: Open Mike-Preis 2000 Jürgen-Ponto-Preis 2002 aspekte-Literaturpreis 2002 Deutscher Bücherpreis 2003 Mara Cassens Preis 2003 Bettina-von-Arnim-Preis 2003 Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung 2004
Wir.
Ich hatte wenige Erinnerungen an meine Mutter. Im Grunde kannte ich sie nur von Fotos, die mein Vater in einem kleinen Kasten aufbewahrte. Schwarzweißbilder waren es, mit dickem weißen Rand. Meine Mutter beim Tanz. Meine Mutter mit geflochtenen Zöpfen. Meine Mutter barfüßig. Meine Mutter, die ein Kissen auf dem Kopf balancierte. Ich schaute mir die Bilder häufig an. Es gab Zeiten, in denen ich nichts anderes tat.
Mit meinem Vater war es ähnlich. Er verbrachte ganze Tage damit, die Bilder auf dem Tischtuch auszubreiten und sie immer wieder neu zu mischen - wie bei einem Kartenspiel, vielleicht zehn Mal, vielleicht hundert Mal. Daß es Tage waren, wußte ich, obwohl ich damals sicher keinen Begriff von Zeit hatte. Für mich gab es nur Zeiten, die ich ertragen, und Zeiten, die ich kaum ertragen konnte.
Mein Vater hinterließ seine Fingerabdrücke, und ich wischte sie weg, wenn ich die Fotos aus der Kiste nahm. Ein Bild mochte er besonders. Es zeigte meine Mutter auf dem Feld. Sie hatte Essen in einer Blechkanne dabei. Ihr Kopftuch hatte sie unter dem Kinn zusammengeknotet, und ihre freie Hand hielt sie wie einen Schirm über die Augen. Sie trug Sandalen, deren Bänder sie um die Knöchel gebunden hatte. Niemand trug damals Sandalen, schon gar nicht auf dem Feld. Mein Vater gab dieses Bild nicht aus seinen Händen. Er lag damit auf der Küchenbank, starrte zur Decke und rauchte. Nicht einmal den Hund hörte er dann, der laut vor ihm bellte. Meinen Bruder Isti und mich schaute er an, als seien wir Fremde. Wir nannten es tauchen. Vater taucht. Vater ist zum Tauchen gegangen. Ist Vater zurück vom Tauchen?, fragten wir einander.
Ich glaube, wir haben unseren Vater nie ohne Zigarette gesehen. Seine Kleider rochen danach, seine Hände, seine Haare. Seine Zigaretten warf er auf den Boden, um die Glut auszutreten, und wenn er auf dem Sofa lag, entdeckten wir weiße Punkte aus Papier auf seinen Sohlen. Selbst draußen im Weinberg fanden wir die Reste zwischen den Reben und im Keller, unter den Weinfässern, neben den Körben. Manchmal schwamm etwas Tabak in einer Flasche, und wir bemerkten es erst, wenn wir den Wein schon in Gläser gegossen hatten.
Als es meine Mutter für mich noch gab, erzählte sie uns Märchen, die mein Bruder für die Wahrheit hielt. Er glaubte ihr, wenn sie sagte, unsere Großmutter sei in einer Nacht ergraut. Später erzählten uns andere diese Geschichte immer wieder - nur ein wenig anders. Die Geschichte meiner Mutter, die das Land ohne ein Wort verlassen hatte. Und die Geschichte ihrer Mutter, die in einer einzigen Nacht alt geworden war.
Meine Mutter hatte sich damals nicht von uns verabschiedet. Sie war zum Bahnhof gelaufen, wie an vielen anderen Tagen auch. Sie war in einen Zug gestiegen, Richtung Westen, Richtung Wien. Wie selten Züge von unserem Bahnhof aus in Richtung Wien fuhren, das wußte ich. Meine Mutter muß lange gewartet haben. Sie hatte genügend Zeit, es sich anders zu überlegen. Um zurückzukommen. Um uns Auf Wiedersehen zu sagen. Um uns noch einmal anzuschauen.
Als sie noch bei uns lebte, arbeitete meine Mutter in einer Fabrik in Pápa. Auf ihrem Fahrrad fuhr sie jeden Morgen durch den Nebel. Unser Hund lief kläffend neben ihr her, bis sie ihn an der großen Straße abhängte. Ich wachte auf, sobald ich sie in der Küche hörte. Wenn sie die Tür ins Schloß fallen ließ, stand ich auf, um ihr vom Fenster aus nachzusehen. Ich zog die Gardinen zur Seite und hob meine Hand, um ihr zu winken. Ich nannte sie heimlich Nebelspalterin. Meine Mutter haßte unser Dorf. Sie sagte, Kinder sterben hier, weil sie in Jauchegruben fallen. Sie ersticken. Wo gibt es das sonst?
Wenn Isti sich vor die Tür legte, weil er sie nicht gehen lassen wollte, kam unsere Mutter zu spät zur Arbeit. Nicht einmal zehn Minuten waren es, aber ihr Name stand länger als eine Woche auf einem Stück Schiefer hinter dem Fabrikeingang, damit jeder lesen konnte: Velencei Kálmáns Frau hat sich verspätet. Die Arbeit in der Fabrik hatte ihren Kehlkopf zerstört, wie meine Mutter sagte. Zwischen ihren Zähnen hatte sie Fäden aus Baumwolle festgehalten, während eine Maschine die Fäden säuberte. An einem Webstuhl hatte sie mit ihren Händen rotes Garn von rechts nach links und wieder zurück gejagt. Wenn der Faden riß, weil der Tag heiß war und die Luft trocken, hatte sie ihn an ihren Lippen befeuchtet und dann zusammengeknotet. War die Spule leer, hatte sie eine neue eingesetzt und dabei das Garn mit ihrem Mund durch ein kleines Loch gesogen, um ihn einzufädeln. Stückchen aus Baumwolle hatte meine Mutter in den Hals bekommen, über Jahre hatte sie kleine Abfälle geschluckt.
Wir lebten im Westen des Landes. Meine Großmutter wohnte ein paar Dörfer weiter. Sie hatte graues Haar, das sie im Nacken zu einem Knoten steckte, und die schönsten Lippen der Welt, wie alle sagten. Ihre Augen waren schwarz, wie die meiner Mutter, die als Kind versucht hatte, sie mit Seife heller zu waschen, weil irgendwer im Dorf Zigeunermädchen zu ihr gesagt hatte. Meine Großmutter wohnte in einem rostfarbenen Haus, umgeben von Feldern und Gärten. Jeden Sonntag lief sie länger als eine Stunde zur Kirche, zwischen Feldern, dem Geläut der Glocken entgegen, das lauter wurde, mit jedem Schritt. Kurz bevor die Kirche hinter einer Reihe von Bäumen auftauchte, kreuzte sie den Weg der anderen, die genau wie sie unter den Blicken des Pfarrers die Hände über ihrem Gesangbuch zusammenlegten. Nicht einen Sonntag ließ sie aus. Sie ging selbst dann, wenn sie so hustete, daß sie nicht mehr reden konnte. Sie glaubte, gerade jetzt müsse sie gehen, weil der Husten aufhöre, sobald sie in die Kirche kam, und es war wirklich so: Der Husten hörte auf, sobald sie die Kirche betrat.
Meine Großmutter deutete unsere Träume. Wenn wir schlecht träumten, sagte sie, es sei gut, und wenn wir Schönes träumten, sagte sie, wir hätten Grund zur Sorge. Vielleicht erfand sie diese Dinge auch, manchmal schien das Gesetz nicht zu stimmen. Ein geschnürtes Päckchen auf dem Rücken bedeutete langer Weg ohne Rückkehr. Tiefe, schmutzige Wasser sagten schwere Krankheit voraus.
Wenn ich bei ihr war, schmierte meine Großmutter Schmalzbrote, die ich schweigend am Küchentisch aß. Von der Lampe über mir hing ein Klebestreifen, der schwarz von Fliegen war. Ich fragte mich, wie sie starben, diese Fliegen, an was. Konnte man sterben, weil man festklebte? An Sommerabenden saßen wir im Hof und warteten, bis es um uns herum blau wurde, bis der Himmel näher kam und die ersten zwei, drei Sterne zeigte. Meine Großmutter stellte keine Fragen. Manchmal blieb ich ganze Tage, auch über Nacht. Ich mochte die Stille in ihrem Haus, die Schatten auf ihrem Hof. Nachts kam das einzige Geräusch von einem Hund, der an seiner Leine zerrte. Ich wußte, niemand sorgte sich, niemand vermißte mich. Nur Isti schaute mich an mit einem Blick voller Vorwürfe, wenn ich zurückkam und mich ankündigte mit der Fahrradklingel. Es dauerte Stunden, bis er wieder mit mir sprach.
Als meine Mutter noch bei uns war, fuhren wir oft mit dem Zug. Ich glaubte, wir ließen keinen Weg aus, der uns irgendwohin führte, keinen Ort, an dem wir irgendwen kannten, wenn auch noch so flüchtig. Wenn wir aus dem Zug stiegen, spuckte unsere Mutter auf einen Kamm, scheitelte unser Haar und zupfte an unseren Kleidern. Sie nutzte jede Gelegenheit, meinen Bruder und mich vorzuzeigen, obwohl wir niemals Kinder zum Vorzeigen waren. Isti sah so aus, daß man heimlich fragte, wie krank er sei. Und ich, ich sah aus wie ein Junge. Bevor meine Haare an die Schultern reichten, schnitt sie mein Vater wieder kurz. Später war ich davon überzeugt, diese Ausflüge gehörten zu ihrem Plan, uns zu verlassen. Fanden andere Gefallen an uns, konnte sich unsere Mutter leichter verabschieden. Ich mochte sie trotzdem. Meinen Bruder hat sie einmal geohrfeigt. Als er anfing zu weinen, weinte sie auch.
Unser Haus, das war eine Küche, eine Speis und ein Zimmer. Meine Eltern schliefen zusammen in einem Bett und Isti und ich auf zwei Liegen neben dem Bett meiner Eltern. Mein Vater schnarchte, meine Mutter atmete unruhig, und Isti sprach im Schlaf. Er redete mit unserem Hund, den wir heimlich Kovács nannten. Mein Vater hatte uns verboten, dem Hund einen Namen zu geben. Er sei nichts als ein dreckiger kleiner Köter, sagte er, mit allen Flöhen und Zecken, die man auf unserem Hof kriegen könne, unserem Hof, der jetzt, in meiner Erinnerung, nicht mehr ist als etwas Lehm und Kies hinter einem Zaun, dazu ein Taubenhaus und drei Akazien vor einem Graben.
Wir lebten allein, für uns. Besuch kam selten. An Ostern stürmten ein paar Jungen aus dem Dorf unser Haus und besprenkelten meine Mutter und mich mit Kölnisch Wasser. Frohe Osterfeiertage!, brüllten sie und ließen sich von meinem Vater ein Geldstück in die Hand drükken. Tagelang blieb der Geruch von Kölnisch Wasser an meinem Hals, an meinen Armen. Wofür die Spritzerei gut sein sollte, wußte ich nicht. Sie machen es, damit wir nicht verblühen, sagte meine Mutter. Wir hatten keine Wanne, nur eine Schüssel aus Blech, in der wir eingeseift wurden, bis es in den Augen brannte. Im Winter, wenn meine Mutter sich gewaschen hatte, setzte sie sich neben den Herd, um ihr Haar zu trocknen. Im Sommer ging sie dafür in den Hof, bis mein Vater sie entdeckte und es ihr verbot. Es gab niemanden, der meine Mutter hätte sehen können, aber die Wünsche meines Vaters waren Gesetz. Meine Mutter hat meinem Vater nie widersprochen. Sie hat ihn verlassen.
Nachdem meine Mutter gegangen war, schlief mein Vater in der Küche. Nachts...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2009 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1956 • 20. Jahrhundert • Abreise • Ági • Asphaltstraße • Aufstand • Bahnsteig • Beere • Blechfaß • Dreck • Familie • Federbett • Feiertag • Fenster • Feuer • Fisch • Flocke • Flucht • Flußnähe • Gaststätte • Glück • Halstuch • Isti • Katze • Katzenhaar • Kriegerdenkmal • Máté • Mittagssonne • Novembertag • Onkel • Panzer • Politikwissenschaft • Publizistik • Schwarzweißbild • Schwimmer • Sommerküche • Stiege • straßenlaterne • Telegramm • Traube • Trauerfeier • Ungarn • Unwetter • Vali • Verzeihung • Virág • Zimmer • Zucker • Zugstation |
ISBN-10 | 3-10-400005-0 / 3104000050 |
ISBN-13 | 978-3-10-400005-3 / 9783104000053 |
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