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Tod eines Kritikers (eBook)

eBook Download: EPUB
2009 | 1. Auflage
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-40601-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tod eines Kritikers -  Martin Walser
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Hans Lach wird verhaftet: Mordverdacht. Auf der Party seines Verlegers hatte er einen für seine Verrisse gefürchteten Kritiker bedroht. Am nächsten Morgen findet sich dessen blutdurchtränkter Pullover, nur von der Leiche fehlt jede Spur. Dafür treten immer neue Verdächtige auf den Plan. Ein Vexierspiel auf Leben und Tod nimmt seinen Anfang, denn über die Schuld oder Unschuld des Schriftstellers, so scheint es, ist viel zu sagen, aber schwer zu entscheiden. Bereits vor seinem erstmaligen Erscheinen wurde über diesen Roman heftig und kontrovers geurteilt. Er löste den größten Literaturskandal der letzten Jahrzehnte aus. «Gnadenlos klug und fast prophetisch.» (Sigrid Löffler) «?Tod eines Kritikers? ist eines der besten Bücher nicht nur von Walser.» (Arno Widmann) «Brillant, leichtgewichtig, boshaft und hemmungslos.» (Joachim Kaiser)

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

3


Am meisten ist Gern noch das, was es einmal gewesen sein muß, wenn der Schnee alles zudeckt, alles neuerdings Dazugebaute. Und das gelingt dem Schnee fast jeden Winter ein-, zweimal. Wenn dann die Straßen nicht geräumt werden, die schwarzen Menschen, Gleichgewicht suchend, durch die Luft rudern, dann kann ich arbeiten. Hätte ich arbeiten können, wenn ich nicht in dieses Geschehen hineingeraten wäre.

Ich kam heim und merkte, daß ich immer noch nicht wußte, wie es Hans Lach ging. Dieses Schweigen. Ach was, Schweigen. Da lernt man Wörter kennen! Wenn sie nicht taugen! Dieses Voreinandersitzen und Nichtssagen. Das kann man doch nicht Schweigen nennen. Er tat mir leid. Das war es. Jetzt erst gestand ich es mir ein: er tat mir leid, weil ich glaubte, daß er es getan haben könnte. Für mich war es immer die fürchterlichste Vorstellung überhaupt: jemanden umgebracht zu haben. Manchmal – sehr selten zum Glück – träumte ich das: du hast jemanden umgebracht, man ist schon auf deiner Spur, du siehst deiner Überführung entgegen, du mußt, um das zu verhindern, noch jemanden umbringen. Die Tage nach solchen Träumen sind immer die glücklichsten Tage überhaupt. Den ganzen Tag könnte ich summen vor Glück: du hast keinen umgebracht, Halleluja.

Ich war von Amsterdam so jäh weggefahren, ich mußte sofort hinaus nach Stadelheim, weil ich glaubte, er könnte es doch getan haben. Und fürchterlicher konnte nichts sein. Also hin zu ihm. Dann sitzen und nichts sagen. Einfach weil man, wenn jemand jemanden umgebracht hat, nichts mehr sagen kann. Jetzt merkte ich, daß mir der Tote kein bißchen leid tat, nur der Täter. Der Tote leidet doch nicht mehr. Aber der Täter … der kann keine Sekunde lang an etwas anderes denken als an die Sekunde der Tat. Ich müßte mich, wenn mir das passierte, sofort selber umbringen. Nicht, um mich zu strafen, nicht, um zu sühnen. Nur weil es nicht auszuhalten wäre, dieses ewige, unablässige Drandenkenmüssen. Und der saß mir gegenüber, sah mich an, ruhig. Das habe ich mir eingeredet. Ruhig. Er war erledigt, zerquetscht, er hatte sicher immer noch keinen ruhigen Schlaf gefunden. Die Augen. Jetzt erst verstand ich diesen Blick. Dieses vollkommen Tendenzlose. Keine Gesellschaft, bitte. Keine Teilnahme. Achten Sie, bitte, mein Nichtinfragekommen für alles. Ich komme in Frage nur noch für nichts. Und diesen Ausdruck hatte ich für ruhig gehalten. Halten wollen. Etwas Unwiderrufliches getan haben.

Ich konnte nicht sitzen bleiben, mich nicht vom Winterbild draußen einwiegen lassen, ich rannte im Zimmer hin und her, bis mir Lachs Handgeschriebenes einfiel. Und las. Es waren Seiten eines DIN-A5-Blocks. Mit Linien, an die sich der Schreiber, weil sie ihm zu weit auseinander standen, nicht gehalten hat. Die Handschrift war schwer lesbar.

Lieber Michel Landolf, las ich, hier ein paar Notate aus der Ettstraße. Zwei Tage und zwei Nächte. Bitte, aufbewahren für was auch immer. Herzlich Ihr Ex-Nachbar Lach.

Ich las:

 

Versuch über Größe. Zuerst das Geständnis, daß Denken mir nichts bringt. Ich bin auf Erfahrung angewiesen. Leider. Erfahren geht ja viel langsamer als denken. Denken kann man schnell. Denken geht leicht. Denken ist keine Kunst. Denken ist großartig. Durch Denken wird man Herr über Bedingungen, unter denen man sonst litte. All das ist Erfahren nicht. Nach meiner Erfahrung, der ich neuestens bis zur Unerträglichkeit ausgesetzt bin. In einem Satz gesagt: Immer öfter merke ich, daß Menschen, mit denen ich spreche, während wir mit einander sprechen, größer werden. Ich könnte auch sagen: Ich werde, während wir sprechen, kleiner. Das ist eine peinliche Erfahrung. Und am peinlichsten, wenn das öffentlich vor sich geht. In einem Restaurant. Oder – am allerschlimmsten – im Fernsehstudio. Katastrophal Aber – und das ist die neueste Erfahrung überhaupt – auch wenn andere Leute in einer gewissen Art über mich sprechen, werde ich kleiner. Und das, ohne daß ich mit diesen Leuten zusammen bin oder auch nur weiß, daß die gerade über mich sprechen. Ich sitze zu Hause an meinem Arbeitstisch, und wenn ich aufstehen will, reichen meine Füße nicht mehr auf den Teppich hinab, auf dem mein Schreibtischstuhl steht. Das ist nicht so schlimm, weil ich auf meinem Keshan, wenn ich vom Stuhl hinunterspringe, weich lande. Und – das ist bei dieser Erfahrung das Wichtigste und eigentlich auch das Schönste – nachts regeneriere ich mich. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, habe ich wieder meine alte Größe. Bis jetzt. Einszweiundachtzig. Seit ich diese Erfahrung des Schrumpfens und Wiederwachsens mache, messe ich mich jeden Tag. Tatsächlich genügt es, um wieder die Normalgröße zu gewinnen, nicht, wach im Bett zu liegen. Ich muß schon schlafen. Und nicht jeder Schlaf bringt gleich viel Regeneration. Inzwischen messe ich mich abends und morgens. Wenn mir abends öfter mal zehn Zentimeter fehlen, fehlen mir nach nicht ganz störungsfreiem Schlaf doch noch zwei oder drei Zentimeter. Ich habe von Schuhen gehört, die so geschaffen sind, daß man in ihnen zwei bis drei Zentimeter größer ist, und man erkennt von außen nicht, daß es sich um eine Schuhkonstruktion handelt. Nach so etwas werde ich jetzt auf jeden Fall suchen. Nach traumlosem Schlaf, in den die Welt also nicht hineinwirkt, habe ich immer meine einszweiundachtzig. Ich glaube noch nicht, daß das Ganze ein Problem für den Psychiater oder Psychotherapeuten ist. Ich werde dieser Erfahrung mit Aufzeichnungen folgen, sie dadurch anschaubar und vielleicht sogar überwindbar machen. Allerdings: Erfahrungen sind nicht so leicht beherrschbar wie das Denken. Durch Denken herrscht man ja selber. Erfahrungen ist man eher ausgeliefert. Aber sie aufzeichnen hilft. Das ist auch eine Erfahrung.

 

So weit war ich gerade, als das Telephon läutete. Kriminalhauptkommissar Wedekind vom K III. Der Leiter einer Mordkommission für vorsätzliche Tötungsdelikte, jetzt beauftragt mit den Ermittlungen im Fall Ehrl-König/​Lach. Von meinem Schweigebesuch hat er gehört, er bittet mich, trotzdem nicht aufzugeben. Ich sei immerhin der einzige von allen, die um Besuchserlaubnis gebeten hätten, den Herr Lach empfangen habe. Mich und seine Frau Erna, alle anderen habe er abgelehnt. Er müsse seinen Schweigestreik beenden. Das sei überhaupt keine Taktik, die Erfolg haben könne. Wahrscheinlich spekuliere Lach darauf, daß wir ohne Leiche keine Anklage zustande bringen. Da täuscht er sich. Wir haben den blutgetränkten Pullover des Opfers. Die Schneemassen in der Mordnacht begünstigen momentan den Täter, und in einem Poeten kann das die Illusion fördern, der Schnee werde, was er in dieser Nacht begrub, im Frühjahr mit sich nehmen. Vielleicht ist die Leiche über die Thomas-Mann-Allee hinüber und dann die steile Böschung hinunter und noch übers Ufergelände bis zur Isar geschleppt und dann der Isar anvertraut worden. Der Täter hat wirklich Glück gehabt. Fast fünfzig Zentimeter Neuschnee in dieser Nacht. Vielleicht hat er den Wetterbericht gekannt. Aber wer weiß, was die Schneeschmelze dann entblößen wird. Das alles hat sich Herr Lach von mir schon sagen lassen, und hat dazu geschwiegen. Aber Ihnen hat er Schriftliches mitgegeben. Verzeihen Sie einem Polizisten, wenn er neugierig fragt: Haben Sie’s schon gelesen?

Ich war gerade durch, als Ihr Anruf kam.

Und? fragte KHK Wedekind.

Aufzeichnungen aus der Ettstraße.

Da haben wir ihn für achtundvierzig Stunden untergebracht, sagte Herr Wedekind.

Er sprach mit mir, als wisse er sicher, daß ich, wie die Polizei, an der raschen Aufklärung dieses Falls interessiert sei und, so gut ich könne, mitarbeiten werde. Daß Hans Lach der Täter sei, der nur noch überführt werden müsse, schien festzustehen. Herr Wedekind war gerade dabei, Hans Lachs Bücher zu lesen, da werde er Herrn Lach genauer kennenlernen, als dem lieb sein könne. Ich möge bitte nicht meinen, er habe etwas gegen Herrn Lach oder Herr Lach sei ihm auch nur im mindesten unsympathisch. Es gebe natürlich für den Leiter einer Mordkommission für vorsätzliche Tötungsdelikte auch Fälle, die den Beamten zum engagierten Verfolger des Täters machten, Delikte, in denen das Opfer grausam oder bestialisch und aus niedrigsten Motiven hingemordet worden sei, dergleichen liege hier ja überhaupt nicht vor. Und trotzdem liege Mord vor. Aber eben ein Mord der feineren, wenn nicht der feinsten Art überhaupt. Der Täter ein Künstler. Und so viel verstehe er, der KHK, auch von Kunst, insbesondere auch von Literatur – er sei ein Leser, wenn auch, bisher wenigstens, kein Lachleser, aber das ändere sich ja gerade –, daß er einen Schriftsteller durchaus auch als ein Opfer zu sehen im Stande sei. Wenn auch nicht im strafrechtlichen Sinn. Im Augenblick lese er, ja, durchforsche er geradezu Lachs vorletztes Buch Der Wunsch, Verbrecher zu sein. Der autobiographische Anteil sei unübersehbar. Er habe aber zuerst Lachs letztes Buch lesen müssen, Mädchen ohne Zehennägel. Seine bisherigen Ermittlungen – bitte, ohne auch nur die geringste Mitwirkung Lachs – könnten ihn vermuten lassen, dieses Buch, das heißt, die Art, wie André Ehrl-König in der SPRECHSTUNDE damit umgegangen ist, habe alles, was sich in Lach gegen Ehrl-König angesammelt haben kann, in den Zustand einer jähen Entzündung versetzt, dann habe er eben seine Fassung verloren und so weiter. Die Party in der Verlegervilla in Bogenhausen, die nach der Sendung immer stattfinde, wenn man die rekonstruieren könnte, wäre der Fall gelöst, man könnte ihn Herrn Lach sozusagen als Manuskript vorlegen, er müßte...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2009
Nachwort Huang Liaoyu
Übersetzer Karin Hasselblatt
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berühmte deutsche Romane • Bücher über Autoren • Deutsche Autoren • Deutsche Literatur • Kontroverse Romane • Kulturkritik • literarischer Skandal • Literaturkritiker • Moderner deutscher Roman • Schriftsteller • Tatverdacht • Verschwinden
ISBN-10 3-644-40601-4 / 3644406014
ISBN-13 978-3-644-40601-8 / 9783644406018
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