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Ein liebender Mann (eBook)

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2009 | 1. Auflage
384 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00031-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein liebender Mann -  Martin Walser
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«Bis er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen. Als sein Blick sie erreichte, war ihr Blick schon auf ihn gerichtet. Das fand statt am Kreuzbrunnen, nachmittags um fünf, am 11. Juli 1823 in Marienbad.» Mit diesen Sätzen beginnt Martin Walsers Roman über Goethes letzte Liebe. Der 73-jährige Geheimrat - seit dem Tod seiner Ehefrau Christiane Witwer und so berühmt, dass sein Diener Stadelmann heimlich Haare von ihm verkauft - liebt die 19-jährige Ulrike von Levetzow. 54 Jahre Altersunterschied trennen die beiden, aber Goethe sagt sich: «Meine Liebe weiß nicht, dass ich über siebzig bin. Ich weiß es auch nicht.» Blicke werden getauscht, Worte gewechselt, die beiden küssen einander auf die Goethe' sche Art. Er sagt: Beim Küssen kommt es nicht auf die Münder, die Lippen an, sondern auf die Seelen. «Das war sein Zustand: Ulrike oder nichts.» Doch sein Alter holt ihn ein. Auf einem Kostümball stürzt er, und bei einem Tanztee will sie ein Jüngerer verführen. Der Heiratsantrag, den er Ulrike trotzdem macht, erreicht sie erst, als ihre Mutter mit ihr nach Karlsbad weiterreisen will. Goethe schreibt die «Marienbader Elegie». Zurück in Weimar, lässt ihn die eifersüchtige Schwiegertochter Ottilie nicht mehr aus den Augen. Martin Walsers neuer Roman erzählt die Geschichte einer unmöglichen Liebe: bewegend, aufwühlend und zart. Die Glaubwürdigkeit, die Wucht der Empfindungen und ihres Ausdrucks - das alles zeugt von einer Kraft und (Sprach-)Leidenschaft ohne Beispiel.

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

2.


Wenn er, 74, sie, 19, heiraten würde, wäre sie, 19, die Stiefmutter seines Sohns August, 34, und seiner Schwiegertochter Ottilie, 27. Mit solchen Rechnungen fand er sich beschäftigt, als er vor dem Frühstückstisch saß, für den Stadelmann jeden Morgen alles, was man sich wünschen darf, aus dem Traiteur-Haus holte.

Stadelmann, den er schon im vergangenen und vorvergangenen Jahr zu einem Stein-Kenner ausgebildet hatte, schickte er heute auf den Wolfsberg, um Augite herauszuklopfen. Auch ein Feldspat-Zwillingskristall wäre hochwillkommen, gab er ihm noch mit. Dem Schreiber John sagte er, dass heute erst um elf diktiert werde. Es hatte sich nämlich Dr. Rehbein angesagt, sein Dr. Rehbein, Hof-Medikus in Weimar, aber auch Arzt Goethes. Und hatte viele Stunden an Christianes Sterbebett verbracht! Noch nicht ein Jahr her, dass Dr. Rehbein die dritte Frau gestorben war. Dr. Rehbein war vielleicht der beliebteste Mann in Weimar.

Als Goethe in dem Zimmer, in dem er Gäste empfing, erschien, kam ihm Dr. Rehbein, der dort gewartet hatte, stürmisch entgegen. Gerade dass er Goethe noch Gelegenheit gab zu rühmen, wie gesund er sich hier fühle, von den Atemwegsmiseren des vergangenen Winters ganz und gar befreit, da sprudelte er los. Er will sich verloben. Er muss. Wenn er sich nicht sofort verlobe, verliere er Catharina, ja, die dreißig Jahre jüngere Catty von Gravenegg. Da er ohnehin dem Herzog habe vorausreisen müssen, bleibe nichts anderes übrig, als die Verlobung hier in Marienbad zu feiern. Das aber ohne Teilnahme des Herrn Geheimrat zu denken sei ihm nicht möglich. Für die unschöne Eile entschuldige er sich. Aber Catty. Sie verstehen. Er kann doch nicht hier der Durchlaucht den Badearzt spielen, was übrigens nicht erlaubt ist, die hiesigen Badeärzte haben das Monopol, gut, ist er eben ein Badegast im Gefolge Seiner Durchlaucht und so weiter, aber hier wochenlang spazierenschauen, und Catty braust durch München, das ist ungesund, also kommt sie, also gibt’s eine Verlobung. Gestehen müsse er aber doch noch, wie es ihn geschmerzt habe, jetzt im Mann von fünfzig Jahren zu lesen, der Chirurg sei der verehrungswürdigste Mann auf dem ganzen Erdboden.

Goethe ergänzte: Er befreit dich von einem wirklichen Übel. Dann umarmte er Dr. Rehbein sanft und sagte ihm fast ins Ohr, die Chirurgen-Rühmung sei doch nötig für die Handlung des Wanderjahre-Romans, zu dessen Bestand Der Mann von fünfzig Jahren gehöre. Und dieser Roman sei, obwohl vor zwei Jahren erschienen, alles andere als fertig. Täglich werde er von Sätzen und Figuren bedrängt, die dazugehören wollen. Und Wilhelm, der Held der Wanderjahre, soll doch, wenn er alle Angebote der Welt studiert und erprobt habe, Wundarzt werden, also Chirurg. Und warum? Weil der Autor seinem ein Leben lang beschriebenen Wilhelm den Beruf auf den Leib und in die Seele schreiben wolle, durch den er den Menschen am meisten helfen könne. Nützen, Herr Doktor. Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen. Da wollen wir doch alle hin, Herr Doktor. Und hatte ihm gleich noch glaubhaft sagen können, dafür sei er, Dr. Rehbein, selber ein Beispiel. Wer, wie er, ein Arzt, mit fünfzig so wohl, so wirklich schön dastehe, der habe nichts versäumt, nichts falsch gemacht. Es folgte ein langer Händedruck.

Der Doktor war gegangen mit des Geheimrats herzlicher Zusage, dass er an der Verlobung gern teilnehme. Goethe saß und dachte: Dreißig Jahre jünger. Das war nicht Neid, was er empfand. Er fühlte sich durch diesen Besuch bestätigt. Ach ja, Neid auch. Was ist denn Neid anderes als eine zum Unglück verurteilte Form der Bewunderung. Es können sich jetzt gar nicht genug Fünfzigjährige mit Zwanzigjährigen verloben! Es soll eine Verlobungsepidemie ausbrechen. Einfach, dass er mit seiner ungeheuerlichen Zahl – 74 minus 19 ist gleich 55 – nicht ganz so absurd dasteht.

Wie belebend Dr. Rehbeins Besuch wirkte, sah er daran, dass er den Doktor, der ja jetzt über die Straße hinüber ins Palais Klebelsberg gehen würde, unter der Tür noch so beiläufig wie möglich gebeten hatte, drüben alle Levetzows zu grüßen, speziell Ulrike, und ihr auszurichten, ihr gestern geäußerter Wunsch sei noch heute Vormittag erfüllbar. Jederzeit. Er bemerkte, dass Dr. Rehbein als Bote nicht wusste, wie er das verstehen, also drüben sagen sollte, darum fügte er im Ton äußerster Unwichtigkeit hinzu: Man muss Kinder bilden, wenn sie danach verlangen. Dann beobachtete er, sich am Vorhang haltend, wie Dr. Rehbein über die Straße ging und drüben im Palais Klebelsberg verschwand.

Schreiber John wurde informiert, dass er nachher die Post erst ins Arbeitszimmer zu bringen habe, wenn das Fräulein von Levetzow da sei und Platz genommen habe. Vielleicht hatte Ulrike vergessen, dass sie gestern gesagt hatte: Aber wer ist er! Wenn sie das vergessen hatte, war es eine Floskel gewesen, dann war alles, ist alles eine Floskel, und er ist nichts als ein Illusionist. Kein Vulkanist, kein Neptunist, sondern ein Illusionist. Vielleicht gibt es ihren Blick gar nicht, vielleicht ist sie mit ihren neunzehn Jahren die Ruhigste, Bestimmteste, Unbewegbarste in dieser Familie.

Er musste kurz einen Schrei ausstoßen. Eine Verneinung dessen, was ihm gerade als Selbstgespräch passiert war. Gleich noch einmal diesen kurzen Schrei. Und weil es seine Gewohnheit war, alles, was ihm passierte, nicht nur passieren zu lassen, sondern sich bewusst zu machen, dass es ihm passierte, ließ er sein Selbstgespräch sich fortsetzen: Wenn ich Schreie ausstoße, kurze, nicht zu laute Schreie, dann immer so, dass nur ich meine Schreie höre. Ich will wirklich nicht, dass jemand außer mir hört, dass ich schreie. Überhaupt: Noch musste er nicht schreien. Nur sitzen und warten. Wenn sie nicht kommt, wird er hier sitzen und sich nie mehr rühren. Ein Mensch, beim Warten erstarrt. Er wunderte sich, dass der Schmerz, den das Warten ihm bereitete, ihn nicht zu irgendeiner Bewegung, einem auflösenden Hin- und Hergehen fähig machte. Das wollte er sich demonstrieren. Das war sein Zustand: Ulrike oder nichts. Er, bitte, er hier jetzt, der nicht mehr weiß, wie er ohne Ulrikes Zuspruch Atem holen soll, er hat im vergangenen Jahr im Kreis dieser Familie getönt, wie sehr er sich wünsche, noch einen Sohn zu haben, der müsste dann Ulrikes Mann werden, er selber möchte Ulrike so ausbilden, dass sie ganz zu seinem Sohn passe. Den, der so getönt hatte, so väterlich verlogen, kannte er nicht. Denn das war schon damals verlogen gewesen. Aber nicht moralisch verlogen, sondern ein Schwächeausbruch, eine Lebensfeigheit. Nie mehr könnte er so etwas sagen. Aber Ulrike war damals auch noch nicht Ulrike gewesen. Eine mädchenhafte Eingeschlafenheit war sie, aber jetzt … aber immer noch schmucklos. Nackt der Hals, die Ohrläppchen. Hatte sie im letzten und im vorletzten Sommer auch keinen Schmuck getragen? Vielleicht weil das Wetter zu schlecht gewesen war. Aber jetzt, in diesem gewaltigen Sommer! Wollte sie sich unterscheiden von all den mit Schmuck behangenen Frauen?

Da kam sie. Ein fast farblos grünes Kleid, das ihre Figur mit vielen kleinen Knöpfen genau nachzeichnet. Den runden Ausschnitt mit Spitzen besetzt. Ihre Haare immer ein bisschen loser als alle anderen Frauen. Er konnte mühelos aufstehen. Sie grüßte. Fast munter. Das war nicht seine Stimmung. Auf jeden Fall konnte er diesen Ton nicht mithalten. Aber als sie auf dem Sofa saß, in einer Sofa-Ecke, einen Arm auf dem großen gelben Kissen, da konnte er hin und her gehen und reden wie zu mehreren. Gleich kam auch der Schreiber John, reichte das Tablett, auf dem die Post sich häufte.

Ach die Post, sagte er. Ach nein, lieber John, wenn man solchen Besuch hat, liest man keine langweiligen Briefe. Ach, bleiben Sie, ich will meinem Besuch doch noch zeigen, wie es hier zugeht. Oh, Moment, da ist sogar etwas Eiliges. Sehen Sie, sagte er zu Ulrike, so genau sind wir eingestellt auf einander, dass mein guter John die einzige Post, die keinen Aufschub duldet, oben drauf legt. Dringend ist das, weil die Königliche Hoheit in sieben Tagen Weimar verlässt, also muss heute noch dieses Schreiben hinaus. Bitte, John. Darf ich, fragte er noch zu Ulrike hin.

Sie müssen, sagte sie.

Diktierend ging er vor Ulrike auf und ab: Unsers gnädigsten Herrn Königliche Hoheit haben Unterzeichnetem zu eröffnen geruht, dass Höchst Dieselben den guten Bergrat Lenz bei seinem bevorstehenden Jubiläum mit einigen fürstlichen Geschenken zu erfreuen die Absicht hätten, wozu nachstehende Gaben vorläufig bestimmt seien. Die Festlichkeit werde in einem Gastmahl bestehen. Nun wären meine unvorgreiflichen Vorschläge: Als Hauptstück stellt man den Vesuv dar, eine starke Lava ausgießend; unter diesem könnte die Medaille Platz finden, die der Gefeierte erhalten soll. Er unterbrach und fragte Ulrike: Verstehen Sie?

Ulrike wollte wissen, was unvorgreifliche Vorschläge seien.

Das sei eine höfliche Umschreibung für ein nicht eigenmächtiges Vorwegnehmenwollen.

Und was heißt das, fragte Ulrike.

Mein Vorschlag soll nur ein Vorschlag sein, entscheiden soll der Großherzog. Verstehen Sie, Bergrat Lenz ist leidenschaftlicher Neptunist, und zu seinem Jubiläum wird ihm zum Dessert eine Vulkantorte serviert, auf deren Grund er die Medaille findet, die ihm verliehen wird. Allerdings soll der Großherzog...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2009
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Aussichtslosigkeit • Dichterfürst • innerer Konflikt • Johann Wolfgang von Goethe • Jugend • letzte Liebe • Liebe • schwärmerisch • Ulrike von Levetzow • unmögliche Liebe • Zärtlich
ISBN-10 3-644-00031-X / 364400031X
ISBN-13 978-3-644-00031-5 / 9783644000315
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