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Oben ohne (eBook)

Die Entscheidung zu leben
eBook Download: EPUB
2009 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400268-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Oben ohne -  Evelyn Heeg,  Tino Heeg
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Meine Entscheidung gegen den Brustkrebs Sie ahnte es schon lange, als ein Test die Gewissheit bringt: Evelyn Heeg hat die genetische Veranlagung für Brustkrebs. Doch die junge Frau nimmt den Kampf auf und entscheidet sich zu einem radikalen Schritt: die komplette Entfernung beider Brüste. Sie findet einen Spezialisten in München, der die Operation übernimmt und ihre Brüste aus körpereigenem Gewebe wieder rekonstruiert. Aber wird der Eingriff gelingen? Wird Evelyn sich hinterher noch als Frau fühlen? Wie werden Freunde, Familienangehörige und Kollegen reagieren? Unterstützt von ihrem Mann Tino geht Evelyn ihren eigenen Weg.

Evelyn Heeg, geboren 1975, studierte in Ludwigsburg und Freiburg Chemie, Mathematik und Biologie. Seit 2000 arbeitet sie als Lehrerin an verschiedenen Schulen bei Freiburg.

Evelyn Heeg, geboren 1975, studierte in Ludwigsburg und Freiburg Chemie, Mathematik und Biologie. Seit 2000 arbeitet sie als Lehrerin an verschiedenen Schulen bei Freiburg. Tino Heeg, geboren 1969, ist Verlagsbuchhändler und studierte Geschichte, Philosophie und Soziologie in Freiburg und Basel. Er arbeitet als Lektor für einen Verlag in München.

EINE SPUR DER VERNICHTUNG


April 2003

 

Autofahren war schon immer das beste Schlafmittel. Tino fährt, ich döse vor mich hin. Das ist unsere übliche Arbeitsteilung. Ich muss jeden Tag in der Woche fast 180 Kilometer pendeln, da bin ich froh, wenn am Wochenende mein Mann fährt. Der sitzt wiederum jeden Morgen und Abend im Zug und freut sich darauf, mal wieder selber lenken zu dürfen. In unserem alten mausgrauen VW Golf, einem Erbstück von Tinos Eltern, schnaufen wir das Höllental bei Freiburg hoch. Von den ursprünglich nicht gerade üppigen fünfzig Pferdestärken dieses Autos sind einige längst auf der Strecke geblieben. Das Höllental ist einer der spektakulärsten Einschnitte in der Westseite des Hochschwarzwaldes. Am Eingang des Tales windet sich die Straße zwischen dreißig, vierzig Meter hohen Felswänden. Danach öffnet sich das Tal etwas und steigt gleichmäßig an, bevor es sich in einigen Serpentinen nach Hinterzarten hochschraubt.

Wir passieren Neustadt, wo sich die Straße in einem letzten steilen Bogen über eine hohe Brücke aufschwingt. Hier oben auf über tausend Meter über dem Meer haben die Parkplätze passende Namen in alemannischer Mundart: »Verschnuferecke« steht da … Bis wir auf die Autobahn Singen–Stuttgart kommen, zieht die Landschaft der kalten Baar an uns vorbei. Hier kommen definitiv noch keine Frühlingsgefühle bei mir auf. Während in Freiburg bereits alles blüht, beherrschen braune Felder das düstere Bild.

Wir sind auf dem Weg zu meiner Oma. Es ist kein gewöhnlicher Besuch, denn Oma soll uns einfach – ihr Leben erzählen. Tino und ich kennen uns schon seit bestimmt sieben oder acht Jahren. So genau können wir es auch nicht mehr rekonstruieren, da wir uns bei einer Veranstaltung des Allgemeinen Hochschulsports kennengelernt haben. Wir sind beide passionierte Radfahrer, und damals waren wir zufällig zusammen in der Gruppe. Wir haben uns bei den Ausfahrten immer gut unterhalten. Und irgendwann hat Tino sich getraut und mich abends angerufen, um sich mal in »zivil« mit mir zu treffen. Es war ein schöner Abend, der immer länger und länger wurde. Zwei Jahre später haben wir dann geheiratet.

Vor einigen Wochen bin ich mit Tino mal wieder ins Gespräch über meine Familie gekommen. Tino, studierter Historiker, wollte tausend Sachen wissen. Von denen ich gelinde gesagt keine Ahnung hatte. Er weiß natürlich schon einiges von meiner Familie, aber das reicht nicht über die Kindheit meiner Mutter hinaus. Weiter zurück habe ich nur bruchstückhaftes Wissen. Seine Fragen waren mir unangenehm. Ich hatte an mich selbst den Anspruch: Mensch, das weiß man doch von seiner eigenen Familie! Klar ist meine Ahnungslosigkeit kein Wunder. Meine Mutter starb, als ich vierzehn war, und danach lief in unserer Familie alles etwas anders. Als die Älteste von uns Kindern kümmerte ich mich viel um meine Geschwister und den Haushalt. Meine Schwester ist sieben Jahre jünger, die brauchte einfach viel. Für den Haushalt hatte mein Vater eine Hilfe organisiert, die für ein paar Stunden am Tag da war. Dennoch blieb einiges an mir hängen – und wenn es nur das Darandenken war. Daneben ging ich aufs Gymnasium und machte Abitur, Freunde und Sport gab es auch noch. Kurz: Ich hatte andere Sorgen, als meinen Vater nach unserer Familiengeschichte auszufragen. Als ich achtzehn war, heiratete mein Vater wieder, ich ging zum Studieren nach Ludwigsburg und Freiburg.

»Warum reden wir nicht mit Oma?«, schlug Tino schließlich vor, als ich ihm nichts mehr erzählen konnte über die Familie meiner Mutter. Ja, warum eigentlich nicht? Ich wäre nicht auf die Idee gekommen. Und ich hatte auch etwas Angst davor. Wie würde Oma reagieren? Von selbst hatte sie nie davon erzählt. Vielleicht will sie gar nicht darüber reden. Vielleicht dringe ich zu sehr in sie ein. Zumal ich zumindest eines sicher weiß: Ein leichtes Leben hatte sie nicht. Davon zu erzählen, das würde ihr sicher wehtun. Außerdem ist sie auch gesundheitlich nicht mehr auf der Höhe. Sie hatte schon mal Darmkrebs, und seit einigen Jahren ist sie an Brustkrebs erkrankt.

Nachdem Tino nicht locker ließ, nahm ich meinen Mut zusammen und rief sie an.

»Oma, ich fände es schön, wenn wir dich besuchen könnten und du Tino und mir mal aus deinem Leben erzählst.«

»Warum denn das?«, fragte Oma sofort.

Ich erklärte ihr, wie es zu dieser Idee gekommen war und dass ich einfach zu wenig wüßte.

Es war kurz still in der Leitung.

»Interessiert euch das wirklich?«

In ihrer zurückhaltenden Art konnte sie es noch nicht glauben. Nachdem ich es ihr versichert hatte, stimmte sie schließlich zu.

 

Wir besuchen Oma regelmäßig. Alle paar Monate zieht es mich in das kleine alte Haus am Stadtrand von Stuttgart, wo sie mit ihrem Sohn, meinem Onkel, lebt. Die beiden bilden eine eingespielte Wohngemeinschaft. Oma kümmert sich um den Haushalt, mein Onkel sorgt für Haus und Garten. Bis auf die Blumenbeete – die sind Omas Revier. Normalerweise wird bei den Besuchen die ganze Zeit geredet, Oma interessiert sich intensiv für den Werdegang ihrer Enkel. Erstaunlich, wie sie sich alles Mögliche von ihren vierzehn Enkeln immer so merken kann. Sie weiß, was wir alle treiben, wann wer Geburtstag hat und und und. Bei der Vielzahl an Enkeln ist sie grundsätzlich dabei, sich irgendwelche Geschenke auszudenken und zu besorgen. Das ist für sie ziemlich anstrengend, aber uns lässt sie das nie merken. Solange ihre Hände noch mitgemacht haben, gehörte zu einem Weihnachtsgeschenk außerdem mindestens ein Paar selbstgestrickte Wollsocken. Als Teenager fand ich das ziemlich dröge, aber heute haben diese Socken einen großen Wert für mich, auch wenn ich sie quasi nie trage. Es ist ein Bild, das sich ganz fest eingeprägt hat in meinem Gedächtnis: Oma sitzt auf ihrem Sofa, und die Stricknadeln klappern. Dabei wirkte sie immer völlig mit sich und der Welt im Reinen, zufrieden, entspannt.

Aber das wird ein anderes Treffen werden. Tino hat die fixe Idee, das Ganze für die »Nachwelt« aufzuzeichnen. Dazu hat er extra eine Videokamera aufgetrieben, eine Freundin hat sie uns ausgeliehen. Ich glaube, er sieht sich ein wenig als der heldenhafte Chronist einer verschollenen Familiensaga oder so ähnlich.

»Das mit dem Video wird sie nicht wollen«, habe ich eingewendet.

Auf einem Familienfoto mit einigen ihrer Enkel hat Oma sich selbst mit der Schere herausgeschnitten, weil sie sich nicht sehen wollte. Sie wird es nie zulassen, dass wir sie filmen.

»Dann können wir ja nur den Ton laufen lassen«, meinte Tino.

Wir verlassen die Autobahn am Stadtrand von Stuttgart, kriechen durch ein Wohngebiet mit Tempo dreißig und biegen am Altersheim in die steile Straße ein, die zum Haus hinabführt. Diesen Berg muss Oma jeden Tag hochlaufen, wenn sie einkaufen gehen will. Natürlich bringt auch ihr Sohn Lebensmittel mit, wenn er von der Arbeit zurückkommt. Aber sie ist eine stolze Frau, stolz auf ihre Unabhängigkeit und Mobilität.

Oma ist inzwischen dreiundachtzig, und seit zwei Jahren hat sie Brustkrebs. Natürlich ist das bei einem so alten Menschen nicht mehr ganz so dramatisch. Aber für mich ist sie in gewisser Hinsicht deutlich mehr als nur die Großmutter. Nach dem Tod meiner Mutter und nachdem ich nicht mehr zu Hause lebte, war sie mein sicherer Hafen. Ich wusste, dass ich jederzeit bei ihr aufkreuzen konnte, sie würde mir zuhören, mich mit Essen versorgen, egal welche Sorgen ich mitbringen würde. Es ist ungeheuer tröstlich, dass sie da ist.

Wir parken vor Omas Haus, das malerisch an einem Hang liegt. Der Blick geht über eine Streuobstwiese, dahinter beginnt der Wald. Zu großen Familienfesten gehörte ein Spaziergang im Wald. Das fand ich an Stuttgart schon immer toll: Großstadt – und trotzdem so viel Grün. Tino kramt hinten im Auto, um alle Gerätschaften dabeizuhaben. Ich gehe schon vor und klingele an der Gartenpforte.

Sie erwartet uns wie immer an der Haustüre. Sie ist klein und zierlich, aber sie drückt mich kräftig, als wir im Hausflur stehen. Früher war sie eine sehr hübsche Frau. Auch heute noch achtet sie auf ihr Äußeres. Einmal pro Woche wäscht und legt der Friseur die Haare. Dafür läuft sie gerne den Berg hoch. Wir reden ein wenig über den Garten, der das Haus am Hang komplett umschließt. Es muss natürlich viel gegossen werden. Ich bin immer wieder erstaunt über die Energie, mit der sie in ihrem Alter alles in Angriff nimmt. Bis vor kurzem half sie sogar ehrenamtlich im Altersheim oben am Ende des Berges aus!

Wie immer ist sie ziemlich hektisch. Schon früher wirbelte sie durch die Küche, während ich auf dem Hocker in der Ecke saß und fasziniert dem chaotischen, aber energiegeladenen Treiben zuguckte. Heute macht sie uns erst mal Kaffee, und natürlich hat sie auch gebacken. Gemeinsam bugsieren wir alles die steile Treppe hoch ins Wohnzimmer, und da lassen wir uns am Esstisch nieder. Ich bin etwas nervös, und auch Tino sieht angespannt aus. Er hat die Kamera bereits auf den Tisch gelegt, doch Oma scheint sie nicht zu bemerken. Der Kaffee wird ausgeschenkt, der Kuchen verteilt, und Tino sagt, dass wir das Gespräch gerne aufnehmen würden, wenn sie einverstanden ist.

»Nein, das will ich nicht!«

Ihr Ton ist entschieden.

Tino bietet an, nur den Ton mitlaufen zu lassen, aber auch das ist ihr zu viel. Keine Aufnahme. Nein, definitiv nicht. Ich habe kurz Bedenken, dass sie nun alles abblasen wird. Tino packt die Kamera wieder ein, und Oma guckt kritisch. Aber dann beginnt sie unaufgefordert zu erzählen, ohne dass wir eine Frage gestellt hätten. Es ist, als ob sie schon lange darauf gewartet hätte, dass sich endlich mal jemand...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2009
Nachwort Rita Schmutzler
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie
Schlagworte Amputation • Bericht • Brustkrebs • Erinnerung • Evelyn Heeg • Operation • Veranlagung • Vorsorgetermin • Wiederaufbau
ISBN-10 3-10-400268-1 / 3104002681
ISBN-13 978-3-10-400268-2 / 9783104002682
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