Am Abgrund ist die Aussicht schöner
Universitätsverlag Brockmeyer
978-3-8196-0783-7 (ISBN)
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HEIKE WULF * 1967 brennt für die Literatur. Lesen und Schreiben ist für sie kein Hobby, sondern Leidenschaft. Sie moderiert Lesebühnen, hat etliche Veröffentlichungen, ist Herausgeberin einer Ruhrpott-Anthologie, arbeitet als Redakteurin und ist Dozentin von Vortrags- und Schreibwerkstätten. Außerdem entwickelt sie Konzepte für Lesungen und Literaturveranstaltungen.
Vorwort Flüchtige Begegnungen, ein harmloser Start in den Winterurlaub, begehrliche Blicke. Alltagssituationen, dem Leben entlehnt und dennoch so viel anders. Heike Wulf schafft Sprachminiaturen mit scharfer Konturierung. Sie hinterfragt und leuchtet die Abgründe der menschlichen Seele aus. Sie tut es chirurgisch präzise und mit einer atemberaubenden Dramaturgie. Fast beiläufig rührt sie an Tabus, lakonisch und punktgenau. Ihre Geschichten – ein Stakkato aus Einfällen und Wendungen. Kein Wort ist verschwendet. Der Leser taucht ein, wird vom Sog der Geschichte gepackt und wieder ausgespien, noch verwirrt von tiefschwarzen Gedanken und Mordlust, die das zarte Gespinst der Erzählkomposition durchtränken. Atem holen, erst einmal Atem holen, bevor man sich der nächsten Überschrift nähert. Mit Heike Wulfs Erzählband begibt man sich in das Reich des Außergewöhnlichen, denn eines muss man wissen: Heike Wulf mordet einfach schrecklich gerne – und sie tut es meisterlich. Achim Albrecht Autor
EIN MEER AUS ROT: Aus den Boxen klingt Sting. Laut und klar. Sie haben gute Boxen hier. Lara hatte es so gewollt. Es war ihr Lieblingslied. “Sacred Love“ - Heilige Liebe. War es das, was sie sich immer gewünscht hatte? Reine, unschuldige Liebe? Ich lächele und stelle mir Lara vor, wie sie nach der Musik zu diesem Lied tanzt, ganz entrückt. Ihr schwarzes lockiges Haar fällt ihr ins Gesicht, verdeckt ihre tiefblauen Augen, die in die Welt schauen, als wäre sie nur zu Gast bei uns; nicht dauerhaft hier. Eine entfernte Verwandte verzieht das Gesicht. Empört sich ein wenig, wegen der ungewöhnlichen Musik. Ich schaue meine Mutter an. Ihr Gesicht eine Maske - aus Beton gegossen, wie ihr Herz. Als wir noch kleiner waren, hatte Lara mir erzählt, dass jeder Mensch ein Herz hat, welches uns am Leben hält, und dass man auch sagt, die Gefühle kämen daher. Lara meinte, unsere Mutter hätte bestimmt keines. Darüber haben wir gelacht. Später an diesem Tag gingen wir zu der Baustelle gegenüber und haben zum Spaß, als keiner aufpasste, unsere Fußabdrücke in den frischen Beton der neuen Gehwege gesetzt. Sie sind noch heute zu sehen. Vater ist auch da. Er sitzt weiter hinten und weint. Er ist mir fremd. Vorhin kam er auf mich zu, aber ich hab mich abgewandt. Ich will nichts mit ihm zu tun haben. Er war nie da für uns. Er ist gegangen, als wir noch klein waren. Ich weiß noch, wie Lara geweint hat. Oft saß sie lange am Fenster und wartete auf ihn. Wenn die Klingel ging, rannte sie als Erste zur Haustür, in der Hoffnung er wäre es. Aber er kam nicht mehr. Mama haute ihr jedes Mal eine rein. Lara war das egal. Mir hat er nicht gefehlt. Ich hab ihn immer nur gehasst, weil er uns mit Betonherz-Mutter allein gelassen hat und gegangen ist – weil er nicht einmal wiederkam und fragte, wie es uns ging. Es sitzen viele Leute hier. Lara war sehr beliebt. Alle wollten Lara. Schon früher war es so: Lara war hübscher, Lara lachte schöner, Lara hatte so bezaubernde Augen. Lara! Lara! Lara! Ich dagegen: die karottenroten, widerspenstigen Haare meines Vaters und die farblosen, schmalen Augen meiner Mutter. Mein Lachen nicht annähernd so bezaubernd. Andere Schwestern wären unglücklich gewesen. Ich nicht. Ich nicht! Und doch, geliebte Lara, und doch wünsche ich mir jetzt, ich wäre die Schönere von uns gewesen. Ich war stets stärker als du. Ich hätte vielleicht damit umgehen können. Irgendwie! Aber jetzt freue ich mich für dich. Ja, ich freue mich. Du hast es geschafft! Ich war nicht für dich da, ich war nur froh, dass alle dich wollten und nicht mich, dass Mutter mich in Ruhe ließ. Ich dachte immer, du bist doch die Ältere. Du musst dich wehren. Deine verzweifelten Blicke übersah ich. Ich habe dir nicht geholfen, aber du, du hast dich jetzt selbst befreit. Und wie du es getan hast? Bewundernswert: Vor den Augen unserer Mutter. Hast sie überwältigt, an den Sessel gefesselt und in das Gästezimmer gezogen. In das Zimmer, in das du immer gehen musstest, mit den Männern, die nur dich wollten. Mit den Nachbarn, Arbeitskollegen und später auch fremden Kerlen. In diesem Zimmer, auf diesem Bett, hast du dir die Pulsadern aufgeschnitten, und sie musste zusehen, wie du langsam verblutet bist. Ich hab euch beide gefunden, geliebte Lara: Mutter bewusstlos und dich in einem Meer aus Rot. Du hast Rot geliebt. Ich weiß. Mutter spricht seitdem nicht mehr. Kein Wort. Ich habe deinen Abschiedsbrief gelesen und alles so gemacht, wie du es wolltest. Man wird sie bestrafen. Lara! Alle! Ich gebe ihre Namen morgen an die Polizei. Jetzt läuft von Silence 4: “Only pain is real”. Ein Musikwunsch von mir. Und wenn alles erledigt ist, werde ich endlich das machen, was ich nie getan habe: Bei dir sein.
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2011 |
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Sprache | deutsch |
Maße | 120 x 190 mm |
Gewicht | 120 g |
Einbandart | kartoniert |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Romanistik | |
Schlagworte | Kurzgeschichten • Kurzgeschichten, Erzählungen, Ruhrgebiet, Loveparade, Krimi, Mord, Selbstmord • Kurzgeschichte / Short Story |
ISBN-10 | 3-8196-0783-8 / 3819607838 |
ISBN-13 | 978-3-8196-0783-7 / 9783819607837 |
Zustand | Neuware |
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