Nach seiner international gefeierten Einstein-Biografie ist Jürgen Neffe erneut ein literarischer Coup gelungen: Zum 200. Geburtstag reiste er auf den Spuren von Charles Darwin um die Welt. Er folgte Darwins Weltumrundung auf der 'Beagle', der berühmtesten Route der Wissenschaftsgeschichte. Etappe für Etappe zeichnet Jürgen Neffe auch die geistige Reise Darwins zur Evolutionstheorie nach und beleuchtet die wissenschaftlichen, weltanschaulichen und religiösen Auseinandersetzungen unserer Tage.
• Jürgen Neffe nimmt den Leser mit auf die berühmteste Reise der Wissenschaftsgeschichte.
• Mit 32 Seiten Farbbildteil.
Jahrgang 1956, Studium zunächst der Physik, dann der Biologie, biochemische Promotion. Zwanzig Jahre Journalist, als Redakteur und Autor bei GEO, als Reporter, Kolumnist und Korrespondent (in New York) beim SPIEGEL. Danach Aufbau und Leitung des Hauptstadtbüros der Max-Planck-Gesellschaft und Mitarbeit im Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Lebt als freier Publizist bei Berlin. Mehrfach preisgekrönt, ausgezeichnet unter anderem mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis.
Sie haben mir die Lotsenkabine zugewiesen, steuerbord Raum 408, auf Deck 3 der Alianca Pampas: ein Containerschiff, knapp hundertfünfzig Meter lang und nicht mal fünfundzwanzig Meter breit - ein kleiner Zubringer nur für die Riesen, die sich andernorts durch die sieben Meere arbeiten. Drei auf drei Meter Behaglichkeit made in China, nicht gerade hübsch, aber praktisch eingerichtet. Die härteste Matratze meines Lebens, aber zwei Luken gen Westen, wo vorhin die Sonne nach ihrer üblichen Nordrunde ein glutrot loderndes Gemälde hinterließ. Warum nicht hier beginnen, auf dem Wasser, im südlichen Atlantik, der uns so klein macht in seinem dunklen Unmaß? In einem Moment, da uns alle auf diesem Planeten etwas verbindet, das älter ist als das Leben selbst. Heute begehen wir Equinox, den Tag der gleich langen Nacht, in Grönland wie in Feuerland, im Tropengürtel wie daheim in Europa. Oder hier, wo meine Kerze gerade brennt, ungefähr fünfzig Meilen vor der Küste Patagoniens, ein paar Glockenschläge vor Mitternacht. Zweimal im Jahr nur vereint uns der Gleichtakt von Tag und Nacht, zwölf Stunden Sonnenlicht für jeden Ort auf Erden. Eine kindliche Gefühlslage aus Stolz, Heimweh und Gerechtigkeitsfreude hat mich ein Licht in mein Kabinenfenster stellen lassen. Wir fahren von Montevideo Richtung Süden nach Puerto Deseado, zum Hafen der Sehnsucht, etwa auf gleicher Breite wie Le Havre im Norden. Siebzehneinhalb Knoten, Kurs 217 Südwest. Dort warten Tiefkühlcontainer, mit Fisch und Shrimps und anderem gefrorenen Meeresgetier gefüllt, jeder mehr als dreißig Tonnen schwer. Fischfang im Süden, Kaufkraft im Norden - eine dürre Linie im dichten Netzwerk der Handelswege zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage. Die Menschheitsmaschine versorgt sich mit Nahrung. Vierzig Tonnen Diesel pro Fahrtag für ein Sonderangebot beim Discounter in Deutschland oder North Dakota. Sieben beindicke Kolben, fast das einzige Deutsche auf diesem Schiff einer deutschen Reederei, haben meinen Knochen längst ihre Schlagfolge beigebracht. Jetzt suchen sie mein Gemüt, wo schon das sanfte Rollen der Alianca Pampas seinen Platz gefunden hat. Das Pendeln des Kalenders an der Wand folgt lässig dem leichten Auf und Ab des Horizonts. In den hiesigen Breiten fängt heute der Frühling an, mein heimisches Jahrbuch verzeichnet Herbstbeginn. Wasser wirbelt hier rechtsherum durch den Abfluss des Waschbeckens, und die Sonne steht mittags im Norden. Wäre die Uhr auf der Südhalbkugel erfunden worden, liefen ihre Zeiger andersherum. Und der Globus daheim stünde auf dem Kopf. "Half moon, calm sea", hat Petro Khokhlov versprochen, und der Halbmond ist dem Wort des Kapitäns bislang nachgekommen. Eben ist er im Westen der Sonne gefolgt, die See zeigt sich weiterhin magenfreundlich und der Schiffsführer entspannt. Ruhiges Wetter und reibungslose Fahrt erlebt der Master als leichteren Dienst mit zufriedener Mannschaft. Die Crew-Liste führt achtzehn Mann. Fast alle haben sich erst hier auf dem Schiff kennengelernt. Unter Khokhlov, mit seinen fünfundfünfzig Jahren Ältester an Bord, rangieren fünf weitere Ukrainer, dann zwei Russen. Alle einfachen Arbeiten erledigen die Filipinos der Deckmannschaft. Der Dritte Offizier und Benjamin heißt Yuriy Kovalchuk, kommt aus der Ukraine, ist größer, als er wirkt, und wirkt kräftiger, als er ist. Äußert er sich dienstlich, dann spricht er, als fülle er gerade ein Formular aus. Privat lässt er sich zu Geständnissen hinreißen, die kein anderer Offizier so machen würde. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren ist Yuriy genauso jung, wie Charles Darwin war, als er im Dezember 1831 an Bord eines Vermessungsschiffs namens Beagle - Spürhund - von Plymouth aus England verließ. Es gibt kein Bild des jungen Abenteurers aus dieser Zeit. Das nächstbeste zeigt ihn vier Jahre nach seiner Heimkehr als gereiften Mann von über dreißig. Doch ein Stück weit wie Yuriy will ich mir den jungen Charles vorstellen, als sich ihm überraschend die Chance seines Lebens bietet: ein wenig milchgesichtig, mit der nebelblassen Haut der Nordeuropäer, im Eifer leicht rotwangig, mitunter schüchtern und verträumt, dabei aber schlau, hungrig, neugierig und lernwillig. Einer, der alles richtig machen möchte und weiß, was er will, ohne genau zu wissen, was das ist. An diesem Tag vergangenes Jahr kam ich von Nordwales nach Hause und hörte erstmals von dieser Reise, vertraut Darwin vor fast genau 175 Jahren seinem Tagebuch an, ungefähr in derselben Position, die wir gerade durchlaufen. Während der vergangenen Woche hat es mich oft bewegt, wie anders als heute meine Lage und meine Ansichten damals waren: Es amüsiert mich, mir meine Überraschung vorzustellen, hätte mir damals in den Bergen von Wales irgendjemand ins Ohr geflüstert: An diesem Tag nächstes Jahr wirst du vor der Küste Patagoniens kreuzen. Mir geht es im Moment nicht viel anders. Vor gut einem Jahr stand ich im Museum für Naturgeschichte in New York vor einer wandgroßen Reproduktion jener Weltkarte, die mit feinen Linien die Route von Darwins Reise nachzeichnet und sich heute im Kleinformat in meinem Gepäck befindet. Hätte mir damals jemand anvertraut, ich würde sechzehn Monate später vor den Gestaden Argentiniens auf einem Containerschiff durch den nächtlichen Atlantik fahren, hätte ich nicht minder überrascht reagiert als der junge Reisende in der Fantasie seiner Rückblende. Doch dann, im kühlen Museum, geschieht etwas Unerwartetes, eine jener scheinbar nebensächlichen Begebenheiten, die dem Lebensweg urplötzlich eine neue Richtung geben. Eine zierliche Frau mit zusammengebundenem weißem Haar und schwarzem Hängekleid, eine von denen, deren Schönheit auch im Alter nicht vergeht, führt eine Gruppe Jugendlicher vor die Karte mit Darwins Route. Keine tobende Meute, sondern eine lauschende Schar, so hält die kleine Dame ihre Begleiter in Bann. Sie gibt ihnen lange Zeit zum Schauen, dann sagt sie einen einzigen Satz in die andächtige Stille: "Hier könnt ihr sehen, wo die Natur zu ihm gesprochen hat." In diesem Moment habe ich meinen Entschluss gefasst. Als Biologe ist mir Darwins Evolutionslehre vertraut, als Wissenschaftshistoriker auch seine Lebensgeschichte mit der Weltumrundung als frühzeitigem Höhepunkt. Doch was ist auf der Reise, der einzigen seines Lebens, mit ihm passiert und was in ihm? Wie hat sich der Amateur unter den Naturkundlern, ein junger Mann ohne jede formale Ausbildung, während der fünf Jahre in einen Forscher verwandelt, der bald alle anderen überragen würde?
Erscheint lt. Verlag | 8.12.2009 |
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Reihe/Serie | Goldmann Taschenbücher |
Zusatzinfo | 2 Bildteile a 16 Seiten |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Maße | 125 x 183 mm |
Gewicht | 455 g |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Artensterben • Biografie • Charles Darwin • CharlesDarwin • Charles Darwin, Evolution • Darwin, Charles • Evolution • Evolutionstheorie • Forschung • Geschichte • Naturforscher • Weltreise; Reisebericht/Erlebnisbericht • Weltreise; Reise-/Erlebnisberichte • Wissenschaftler (Biografien/Erinnerungen); Darwin, Charles • Wissenschaftsgeschichte |
ISBN-10 | 3-442-15582-7 / 3442155827 |
ISBN-13 | 978-3-442-15582-8 / 9783442155828 |
Zustand | Neuware |
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