Struktur und Ästhetik (eBook)
280 Seiten
Narr Francke Attempto (Verlag)
978-3-381-11423-8 (ISBN)
Dr. Eder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-Forschergruppe 'Krisengefüge der Künste'. Er lehrt und arbeitet an den Universitäten in München und Hildesheim. Angelika Endres ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Silke zum Eschenhoff ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-Forschungsgruppe 'Krisengefüge der Künste' tätig. Benjamin Hoesch forscht am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen.
Dr. Eder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-Forschergruppe "Krisengefüge der Künste". Er lehrt und arbeitet an den Universitäten in München und Hildesheim. Angelika Endres ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Silke zum Eschenhoff ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-Forschungsgruppe "Krisengefüge der Künste" tätig. Benjamin Hoesch forscht am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen.
Thomas Fabian Eder/Angelika Endres/Silke zum Eschenhoff/Benjamin Hoesch: Struktur und Ästhetik. Zum Verhältnis ästhetischer und sozialwissenschaftlicher Perspektiven in der Theaterforschung
Rike-Kristin Baca Duque: Im Zentrum der Debatten: Awareness, Arbeitssicherheit und Schutz. Wo bleibt da die Kunst?
Angelika Endres: Von der Kunst der Wissenschaft - Nachdenken über Setzungen eines Forschungsdesigns und deren Auswirkungen auf die Ergebnisse
Hanna Voss: Teilnehmende Beobachtung und/oder Aufführungsanalyse? Zur Konvergenz sozialer und ästhetischer Ordnung(en)
Ulrike Hartung: "In der Welten Ring nichts ist so reich" - Probenethnografie als Methode für die Musiktheaterwissenschaft
Sebastian Stauss: Aktuelle Transformationen der Strukturkritik im Musiktheater nach Brecht und Partnern - zwei Inszenierungsbeispiele
Anja Quickert: Rimini Protokoll: Die performative Produktion von internationalen Differenzen
Thomas Fabian Eder: A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression: Illiberal Engagement with the Independent Performing Arts in Europe
Silke zum Eschenhoff: Prozesse der Übersetzung von strukturellen, ästhetischen und inhaltlichen Kontexten am Beispiel des internationalen Theaterfestivals Theaterformen
Maria Nesemann: Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen: Nachdenken über Teilhabe am Theater aus empirischer Perspektive des Audience Developments und aus hermeneutischer Perspektive der (kritischen) Kunstvermittlung
Benjamin Hoesch: Geschlossene Gesellschaft? Theatermaschine/Bayreuth als ästhetische und soziale Öffentlichkeit
METHODENTRANSFER
Zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie
Zur Konvergenz sozialer und ästhetischer Ordnung(en) am Beispiel der Erforschung von Absolvent:innenvorsprechen
„Bonjour. I’m Oscar Wilde, always modisch and always eitel, … Ich bin Nietzsche, zornig, traurig, Gott ist tot, … (mit französischem Akzent) Ich bin Victor Hugo, romantisch, naiv, … (schneller) Ich bin Salvador Dalí, Salvador Dalí, … Ich bin Michelangelo, …“ – gerade hatte Sergej Czepurnyi als Cal aus Koltès’ auf einer westafrikanischen Baustelle spielendem Stück die letzten Worte seiner Szene gesprochen („Die Latrine, das ist die Lösung, … damit ich den endlich in Ruhe lassen kann, … (flüsternd) Endlich habe ich Ruhe“), da ging das zuvor gedämpfte Licht auf der Bühne an und Caner Sunar stellte ‚sich‘ den circa 120 anwesenden Zuschauenden nacheinander als berühmter Schriftsteller, Philosoph, Maler und/oder Bildhauer vor. Sein Kommilitone Sergej war gleich zu Beginn abgegangen und hatte die ansonsten leere Bühne des Theaters im Salzburger KunstQuartier für Sunars „MONOLOG“ freigemacht; laut dem bei Einlass auf fast allen Stühlen liegenden „Programmablauf“ hatte er diesen selbst verfasst. Nicht nur in diesem, sondern auch in zwei weiteren Punkten unterschied sich die rund fünfminütige Szene maßgeblich von den anderen der an diesem Abend dargebotenen, so fuhr Sunar nach der Vorstellung als Michelangelo („Ich bin Holz, du bist Holz, das brennt“) folgendermaßen fort, das hörbar amüsierte Publikum direkt adressierend:
Es ist äußerst schwierig, die eigene Identität zu finden, wenn man so viele Idole hat. Das wollte ich nur einmal gesagt haben, sind Intendanten da heute? Weil wenn das hier jetzt klappt und ich ein Vorsprechen kriege, und du mit mir arbeitest – ich weiß nicht, wer, aber – dann wirst auch du, davon bin ich überzeugt, diesen berühmten Theatersatz sagen: ‚Trau dich mehr, du zu sein. Zeig mehr dich. Ich will mehr dich sehen.‘ – Ich weiß nicht, wer ich bin. (Pause) Ja. (Pause) Wie denn auch, wenn ich die ganze Zeit rennen muss. Wie soll ich wissen, wer ich bin? Rennen, rennen, (von ruhig in den Tonfall eines Ansagers wechselnd) rennen werden, meine Damen und Herren, drei arme Kinder aus Dritte-Welt-Ländern und zwar nach Europa zur civilisation! Ein Marokkaner, ein Iraner und ein Türke – Riiiing! (das Geräusch einer Klingel nachahmend)
Denn einerseits thematisierte Sunar auf diese Weise die Situation der Aufführung bzw. die dieser auf Seiten der Produktion und Rezeption zugrunde liegenden Annahmen und Erwartungen: An diesem Abend im November 2016 fand laut der Vorankündigung auf der Website der Universität Mozarteum Salzburg und dem im Eingangsbereich ausliegenden Veranstaltungskalender der Hochschule das „Intendantenvorspiel“ des Thomas Bernhard Instituts statt; der Eintritt war frei, eine Anmeldung erbeten. Bereits vor Beginn der Aufführung lagen im Eingangsbereich des Theaters mehrere Stapel eines handlichen Heftchens zum Mitnehmen aus: darin auf je einer Doppelseite die Fotos und ‚Steckbriefe‘ der zehn Absolvent:innen des Schauspieljahrgangs 2013–2016 mit Angaben zu Geburtsjahr und ‑ort, Größe, Haar- und Augenfarbe, Sprachen, Dialekt, Stimmlage, Führerschein, besonderen Fähigkeiten, gearbeiteten Rollen, Engagements in Theater, Film und Fernsehen sowie die privaten Kontaktdaten (Mailadresse und Telefonnummer). Andererseits schien Sunar, der laut dem ‚Steckbrief‘ 1993 in Antiochia (Türkei) geboren wurde und neben Deutsch und Englisch auch Türkisch und Arabisch spricht, in dem Monolog seine eigene Migrationsgeschichte zu verarbeiten, womit er der Erwartungshaltung, mehr von ‚sich selbst‘ zu zeigen, scheinbar nachkam: Weiter im Tonfall eines Ansagers bzw. Sportkommentators („herzlich willkommen zum 130. Zivilisationswettbewerb“) schilderte er in einer Art Mauerschau das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Iraner und dem Marokkaner, am Ende gewinnt jedoch überraschend – „der Türke!“, der von ihm des Weiteren als „Türke mit arabischen Wurzeln“ beschrieben wird. Zwischenzeitlich in die Figur eines Lehrers, Betreuers o.Ä. wechselnd („So, was haben wir denn da, ein dreizehnjähriger Türke, … hat sich beschäftigt mit europäischer Literatur, … Komm, jetzt wirst du gewaschen und sauber gemacht, dann schön angekleidet, mit Sachen, von denen du immer geträumt hast“, „… studieren? Nein, du wirst Handwerker“), kehrte Sunar am Ende der Szene jedoch wieder zurück in seine Ausgangsrolle. An die Stelle der einstigen Idole waren nun bekannte Marken bzw. Modedesigner getreten, was zwar als Ausdruck eines Ankommens dargestellt wird, aber nicht bei sich selbst: „Mein Hemd heißt jetzt Wolfgang Joop, meine Hose Roberto Cavalli, meine Schuhe heißen …, Christian Dior, Louis Vuitton, Calvin Klein, ich glaube, ich bin angekommen. Es ist äußerst schwierig den eigenen Namen zu finden, wenn man so viele Namen trägt“; nur wenige Momente später erklangen auf einer E-Gitarre die ersten Akkorde des von Nina Steils vorgetragenen Liedes „Mit beiden Armen winken“ des Duos Weber-Beckmann.
Der somit in zweierlei Hinsicht als selbstreferentiell deutbare „MONOLOG“ war nicht der erste Auftritt Sunars an diesem Abend: Ungefähr eine dreiviertel Stunde vorher hatten Czepurnyi und er als Prinz und Marinelli zusammen eine längere Szene aus Lessings Emilia Galotti gespielt, seine dunklen, ihm in die Stirn fallenden Locken zunächst unter einem Haarnetz verbergend und mit einem Löffel gelangweilt in einer Kaffeetasse rührend. Und eine knappe halbe Stunde zuvor hatte er bei gedämpftem Licht auf einem Barhocker sitzend und gutgelaunt ins Publikum blickend ein „arabisches Volkslied“ gesungen – so die Bezeichnung in dem „Programmablauf“ –, ebenfalls begleitet von der E-Gitarre. Auch war er zu Beginn der insgesamt etwas über 100 Minuten dauernden Aufführung gemeinsam mit den acht anderen an diesem Abend auftretenden Absolvent:innen bei dem Anfangschor aus Glänzende Aussichten von Martin Heckmanns auf der Bühne zu erleben gewesen: eine auf Gesprächen mit Studierenden beruhende Auftragsarbeit für das Mozarteum „über mutige Anfänger einer skeptischen Generation, die angesichts einer vernetzten Wirklichkeit aus Abhängigkeiten und Fluchtbewegungen nach Spielräumen suchen und nach ihrer Rolle im Leben“. Am Ende trat er zudem bei dem gemeinsamen „AbschlussSONG“ in Erscheinung: eine sehr freie, mitunter komisch gebrochene Interpretation von Bon Jovis Song It’s my life. Außerdem wirkten die Absolvent:innen teilweise unterstützend bei Szenen anderer mit, sei es szenisch oder musikalisch, wodurch die Zuschauenden die sich Präsentierenden öfter als in ihren zwei bzw. überwiegend drei Szenen zu Gesicht bekamen (zumeist ein Soloauftritt, eine Partnerszene und ein Lied), was eine Besonderheit dieses Abschlussvorsprechens darstellte.
1 Theater als Institution erforschen: Vorsprechen als Möglichkeit und methodische Herausforderung
Gefolgt war ich der Ankündigung der Universität Mozarteum Salzburg, weil ich auf diesem Wege Aufschluss über die „Produktion“ von professionellen Schauspielenden im organisationalen Feld des deutschen bzw. deutschsprachigen Sprechtheaters zu erhalten hoffte. Ausgehend von dem theaterwissenschaftlichen Antrag für ein Teilprojekt im Rahmen der Mainzer DFG-Forschungsgruppe „Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung“ (2013–2019) und der Frage, welche Faktoren in diesem Feld die Relevanz oder Irrelevanz von Ethnizität bzw. ‚Rasse‘ bedingen, hatte ich hierfür mit der Ethnografie bzw. teilnehmenden Beobachtung methodisch einen Weg eingeschlagen, wie er auch von Paul DiMaggio für die Erforschung organisationaler Felder beschrieben wird, für mich als studierte Theater-, Literatur- und Wirtschaftswissenschaftlerin jedoch überwiegend Neuland darstellte. So geht DiMaggio grundsätzlich davon aus, dass man zur Erforschung der Gründe und Konsequenzen institutionellen Wandels im Wesentlichen einen qualitativen und oftmals auch historischen Forschungsansatz verfolgen müsse; unter bestimmten Umständen bewertet er quantitative Ansätze jedoch als sinnvolle Ergänzung, z. B. mit Blick auf das Problem der natürlichen Grenzen des Wahrnehmens und Erkennens in ethnografischen Studien insbesondere großer organisationaler Felder mit nationaler Reichweite („the ‚ethnographer‘ of an organizational field cannot devote as close and focused attention to the natives of that field as can the ethnographer of a single organization“). Konkret führt er in diesem Zusammenhang u. a. Interviews mit Teilnehmenden, die Sichtung von Archivmaterialien und die Beobachtung von spezifischen organisationalen wie interorganisationalen Settings an. Da es sich bei dem von mir erforschten Feld mit Georg Breidenstein et al. nicht um eine Lokalität, sondern um einen „Praxis-Zusammenhang“ handelt, „der in seiner geographischen Streuung an spezifischen Orten stattfindet“, kommt Letzterem – der teilnehmenden Beobachtung interorganisationaler Settings, bei denen sich die „Branche“ trifft – ein zentraler Stellenwert innerhalb meines empirischen Studiendesigns zu. In diesem Fall muss die Zeit der teilnehmenden Beobachtung nämlich...
Erscheint lt. Verlag | 25.11.2024 |
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Reihe/Serie | Forum Modernes Theater |
Verlagsort | Tübingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Theater / Ballett |
Schlagworte | Ethnografie • Format • Governance • Institution • international • Methoden • Öffentlichkeit • Produktionsbedingungen • Publikum • Sozialwissenschaften • Theater • Übersetzung • Vermittlung |
ISBN-10 | 3-381-11423-9 / 3381114239 |
ISBN-13 | 978-3-381-11423-8 / 9783381114238 |
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