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Aus dem Spiegel holen -  Antje von Graevenitz

Aus dem Spiegel holen (eBook)

Sensibilitätskult in der Kunst des 20. Jahrhunderts
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
380 Seiten
Hatje Cantz Verlag
978-3-7757-5747-8 (ISBN)
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Zahllose Ku?nstler*innen feierten im 20. Jahrhundert die Vision einer »vollständigen Erneuerung der menschlichen Sensibilität« (Filippo Tommaso Marinetti). Sie hofften, mit ihren Werken Sehende, Hörende, Tastende oder wie auch immer Partizipierende empfindsam zu machen. Das vorliegende Buch der renommierten deutschen Kunsthistorikerin Antje von Graevenitz untersucht Aspekte der Identität und Selbsterfahrung, Intimität und Distanz, des Versagens und Scheiterns, der Geworfenheit und Initiation sowie anderer Ausdrucksweisen von Sensibilität in der Kunst des vorigen Jahrhunderts. Sensibilität offenbart sich in ihr als Hoffnungsträger, um das Menschliche im Menschen zu stärken. Antje von Graevenitz, Professor i. R., lehrte Allgemeine Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt 20./21. Jahrhundert an der Universität zu Köln (1989-2005) und dozierte an der Universität von Amsterdam (1977-1988). Sie promovierte 1973 in München über Barock-Ornamentik, spezialisierte sich aber auf zeitgenössische, anthropologische, ephemere und interdisziplinäre Themen.

Abdeckung
Schmutztitelseite
Titelseite
Inhalt
Einleitung
Identität
Selbsterfahrung
Versagen
Blindheit
Initiation
Intimität und Distanz
Symbiosen
Empathie und Tod
Unendlichkeit
Im Rückspiegel
Anmerkungen
Literaturliste
Bildnachweis
Impressum

Identität


Die Unterschrift gilt als Garantin für eine Identität. Dazu gesellte sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das Passfoto. Doch setzten Künstler wie Marcel Duchamp und Andy Warhol hierbei ihre Fragezeichen. Zweifel an der Feststellung einer Identität kommt auch im Video-Werk von Aernout Mik auf. Menschliche Handlungen führen dort vor allem zur Entfremdung vom Persönlichen.

Warhols Tausch der Identitäten


Duane Michals’ fotografisches Porträt von 1958 zeigt Andy Warhol mit beiden Händen vor dem Gesicht [Abb. 1].1 Wollte er es dem Fotografen nicht preisgeben? Oder war es Michals, der ihn um diese Pose bat, und war es Warhol, der der Bitte stattgab? In beiden Fällen würde es sich um ein Statement handeln: Entweder wollte Warhol sich absichtlich nicht zeigen, oder es war Michals’ Absicht, Warhols Verweigerung abzulichten. Beide Motivationen wären für sich genommen möglich, aber auch beide zusammen: Warum sollten nicht beide Künstler das gleiche Statement machen wollen? Michals würde dann Warhols Weigerung vorführen, die dieser – nicht so sehr, was sein Gesicht betraf, aber was seine Bereitwilligkeit zu persönlichen Erklärungen und theoretischen Einlassungen anging – ohnehin meistens zeigte. 1967 ergab sich in der Factory während eines Interviews mit einem deutschen Reporter folgender typische Dialog: »Do you think pop art is …?« »No.« »What?« »No.« »Do you think pop art is…« »No… I don’t.«2

1 Duane Michals, Andy Warhol (Covering Face), um 1958, Silbergelatineabzug, 27,9 × 35,5 cm, DC Moore Gallery, New York

Nun soll hier die Weigerung, Pop-Art zu definieren, nicht verwechselt werden mit der Weigerung, das Gesicht zu zeigen und öffentlich in Erscheinung zu treten. Doch hat diese Strategie im Zusammenhang mit anderen Aussprüchen Methode: Ein Fernsehfilm3 von Kim Evans über Warhol von 1986 zeigt ein Fragment eines Interviews aus dem Jahr 1966, in dem Warhol zu Beginn sehr entschieden eine Regel aufstellt: Nicht er würde auf Fragen antworten, sondern das solle der Interviewer selbst tun. Sein Bild müsse schon der andere von ihm entwerfen. Der wehrte sich zwar, aber vergeblich. In dem bereits erwähnten Interview in der Factory im Jahre 1967 fragte der deutsche Journalist: »Are you drawing for yourself to express your individuality morefully or because you are so well paid?«, erfand Warhol die Antwort: »Uhh … well, Gerard does all my paintings.«4 Gemeint war Gerard Malanga, der Warhol zwar assistierte, aber sicher nicht seine Bilder malte. Mag auch die Lüge der gerechte Lohn für eine dumm-dreiste Frage sein, so liegt diese Antwort auf einer Linie mit der kunstfertig vorgetragenen Attitüde der Verweigerung von Individualität. Warhol wollte die anderen zwingen, nur das in ihm zu sehen, was sie sowieso in ihm zu sehen meinten. Der deutsche Reporter versuchte es noch einmal: »Would you describe any direction. I mean, I could. It bores me to tears, but I could describe the direction.« Andys Antwort war: »No.« Darauf der andere: »You would not?« Andy: »You tell me.«5 Sein Bild und das des Spiegelbildes des jeweiligen Fragestellers sollten sich übereinander schieben, mochten sich auch die Konturen nicht ganz decken. Auf diese Weise entsteht ein Rätselbild, das nachhaltig fasziniert, wenn auch die Verfügbarkeit einer solchen zwitterhaften Identität verwirrend wirkt. Der Fragesteller als Stellvertreter aller Warhol-Interessierten wird sich gefühlt haben, als sei er in eine Falle geraten. Da Warhol sich in den alltäglichen Ritualen des Kunstjournalismus auf die Strategie verlegt hatte, nur das Klischee, das andere von ihm vor Augen hatten, zu unterstützen, ist es gerechtfertigt, diese Strategie mit dem Konzept seines Werkes zu vergleichen. Wie ging er dort mit den Aspekten von Identität und Nicht-Identität um? Und was bedeutet dieses Wort?

Der Begriff Identität spielt in der Philosophie und in der Psychologie eine wichtige Rolle,6 darüber hinaus in der Psychoanalyse, die sich mit dem Phänomen der Identitätskrise beschäftigt und davon ausgeht, dass zumindest ursprünglich eine Identität vorhanden war, die es erneut zu festigen gilt.7 Wer das mit sich Identische ausmachen konnte, glaubte zugleich, das Sein erklären zu können. Identität und Sein sind eine Einheit. So meinte schon Parmenides, einer der Vorsokratiker um 500 Jahre v. Chr., etwas, das mit sich identisch sei, stimme mit sich selbst überein, sei »stimmig«. Wenn man also Dinge miteinander vergleichen will, muss man erst deren Identitäten feststellen. Ähnlichkeiten und Unterschiede fallen dann umso stärker auf. Das einander Gleiche ist also sicher nicht das Identische. Gleichheit und Identität schließen einander aus. Martin Heidegger, der im Jahr 1957 in der Stadthalle in Freiburg einen Vortrag über den »Satz der Identität« hielt, sagte zu dem Thema gleich zu Beginn: »Der Satz der Identität lautet nach einer geläufigen Formel A = A.«8 Bald widerrief er aber diese Formel, da sie ja nur eine Gleichheit ausdrücke, und ersetzte sie durch den Satz: »A ist A, jedes A ist dasselbe.« Jedes sei sich selbst dasselbe. Und er fuhr in seiner bekannten Diktion fort: »Jedes Selber ist ihm selbst dasselbe. Jedes Selber ist dasselbe für ihn und mit ihm selbst. Mit ihm selbst ist jedes A dasselbe.« Damit hoffte Heidegger, ein Gesetz des Seins ausgesprochen zu haben. Aber, so fuhr er fort, wenn man den Satz »A ist A« nennen würde, dann handele es sich keinesfalls um eine Tautologie (im Sinne von: Schnee ist weiß). Vielmehr habe Parmenides damit gemeint, dass dasselbe einerseits ein Sein und andererseits ein Denken sein könne, so wörtlich die Übersetzung aus dem griechischen Urtext: »Das nämlich Selbe ist Denken sowohl als Sein […] Denken und Sein gehört in Dasselbe.« Heidegger, der nun über Parmenides’ Satz nachsann, gab nicht sofort ein Beispiel, aber man könnte es hier versuchen mit dem Satz: »Ein Baum ist eine Pflanze, ein Baum ist ein Begriff.« Wenig später führte Heidegger dann noch ein Beispiel an: Er kam auf die Technik zu sprechen: Sie sei Ausdruck des Denkens und gehöre deshalb nicht nur dem Menschen, sondern auch dem Sein.

Mit anderen Worten: Auch ein Bild oder – zeitgemäßer ausgedrückt – eine Repräsentation, die sich der Mensch in seiner Vorstellung von etwas macht, gehört nicht nur dem Menschen, sondern auch dem Sein. Insofern wäre ein Bild, eine Repräsentation, immer mit dem Sein identisch. Das gelte dann aber für jedes Bild oder, spezieller, für jedes Kunstwerk, und dieser Satz kann wegen seiner Allgemeingültigkeit (noch) nicht den speziellen Fall von Warhol klären. Gemeint ist aber in jedem Falle, dass Bild und Realität nicht einander gleichen müssen, obwohl sie aufeinander bezogen sind oder sein können. Identisch sind sie einander dennoch als Teilhaber am Sein, denn beide gehören zum und ins Sein.

Damit wäre zunächst nur die Basisbedingung der Identität Kunst als Kategorie geklärt. Bei Warhol ist jedoch Identität auch ein inhaltlicher Aspekt seiner Kunst, der in allerlei Gewändern zutage tritt.

Warhols Do It Yourself-Bilder der frühen 1960er-Jahre gaben vor, jeder könne am Werk partizipieren, und der Künstler habe sich teilweise aus seiner Rolle des kreativen Genies verabschiedet. Wie in den Malbüchern, die mancherorts sogar im Supermarkt erworben werden können, ist mit wenigen Konturen ein Bild vorgegeben, das Kinder oder Erwachsene nur noch mit Farben ausfüllen müssen, um zum Beispiel eine Landschaft zu erhalten. Gleiches kann mit vorgegebenen Nummern geschehen, die man nur noch miteinander verbinden muss, um dadurch ein Bild hervorzuzaubern.

Aber aufgepasst: Warhols Werke aus dem Jahre 1962 sind Fallen. Sie sollen nicht wirklich zu Ende geführt werden, denn es handelt sich ja nur um Abbilder von »Do it yourself«-Bildern, um Kopien der Reproduktionen aus Malbüchern, die aus der Reproduktion keine (reine) Wiederholung, sondern wiederum jeweils ein Unikat macht. Warhols Do It Yourself-Bilder scheinen erstarrte Versionen ihrer Vorlagen zu sein. In ihr Gegenteil verkehrt sind es nunmehr »Don’t do it yourself«-Bilder, die lediglich an die Möglichkeiten echter »Do it yourself«-Bilder erinnern. Readymades sind diese Kopien also nicht, sie sind nicht identisch mit den Vorlagen, denn ihr Zweck ist ein anderer.

Bei Warhol ist die Partizipation, wie sie sich die Happening-Bewegung auf ihre Fahnen schrieb, eine Farce, allerdings nicht immer in seinem Werk: Schon seine Mutter Julia Warhola schrieb auf seinen Wunsch eigentümlich steife und kratzig geformte Texte in seine Zeichnungen, die er selbst signierte. Ab und zu zeichnete sie auch beispielsweise eine Serie von Katzen, die er als seine Produkte ausgab. In seinen letzten Lebensjahren arbeitete er wiederum für kurze Zeit äußerst produktiv mit einem anderen Künstler zusammen, diesmal mit dem einstigen Graffiti-Künstler Jean-Michel Basquiat (1960–1988). Aber auch sonst machte es ihm nichts aus, in der Factory Produkte unter seinem Namen herauszubringen, wie etwa die Filme Flesh und Trash, die Paul Morrisey gedreht hatte. Der unsichtbare Künstler am Werk und der sich ständig zurückziehende Künstler waren Spannungsfelder seiner Arbeit, die er ständig konzeptionell aufrechterhielt. Früh erkannte er dabei die Möglichkeiten der Medien, die Wirklichkeit zu registrieren, so wie sie vorgab zu sein. Sobald er 1964 eine Filmkamera besaß, richtete er sie auf das sich zur Schau stellende Völkchen aus dem »Velvet Underground«, das sich in seiner Factory tummelte. Regie im engeren Sinne führte nicht er, sondern später Paul Morissey. Ein vorab...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2024
Reihe/Serie Hatje Cantz Text
Mitarbeit Designer: Neil Holt
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Kunstgeschichte / Kunststile
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Schlagworte 20. Jahrhundert • Andy Warhol • Antje von Graevenitz • Distanz • Empathie • Empfindungen • Identität • Intimität • Joseph Beuys • Marcel Duchamp • Moderne Kunst • Sensibilität • Tod • Zeitgenössische Kunst
ISBN-10 3-7757-5747-3 / 3775757473
ISBN-13 978-3-7757-5747-8 / 9783775757478
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